September 2018
Der Herr der Diebe: auf der Suche nach geflügelten Löwen

Der Herr der Diebe: auf der Suche nach geflügelten Löwen
Cover © Chicken House Press

Das Kinderbuch Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf von Eva Ibbotson eröffnet seinen Leserinnen, egal ob jung oder junggeblieben, eine magische Welt. Nach dem Tod ihrer Eltern wird Maia von Verwandten adoptiert, die auf der anderen Seite der Welt leben – in Brasilien. In der Aschenputtel-ähnlichen Handlung entpuppen sich Tante, Onkel und Zwillingscousinen als grausam, doch Maias Hunger nach Freude, Freundschaft und Abenteuer führen unweigerlich zu eben jenen Erfahrungen. Das Buch ist ein Tribut an die Freundschaft, die auch an unerwarteten Orten zu finden ist. Dazu sind Ibbotsons Bilder, die sie mit ihrer Sprache von der Region des Amazonas heraufbeschwört, zauberhaft: Eine ganze Generation von Kindern hat sie damit von Regenwäldern und einem goldenen Theater mit Affen auf dem Dach träumen lassen.

Cornelia Funkes Herr der Diebe (perfekt für 9 bis 12-Jährige) spielt an einem Ort, der vielen vielleicht bekannter ist – in Venedig – aber Funkes Art diesen Ort lebendig zu machen ist genauso märchenhaft: Hier wird eine goldene, wasserdurchzogene Stadt der steinernen Engel und geflügelten Löwen heraufbeschworen. Venedig zieht die Figuren des Romans sowie deren Leser in seinen Bann, und wer den Reiz des Ortes verkennt, ist – wie in Maia – klar gekennzeichnet als verachtenswerte Figur.

Herr der Diebe folgt dem 12-jährigen Prosper und seinem Bruder, dem 5-jährigen Bo, die nach dem Tod ihrer Mutter gemeinsam nach Venedig fliehen, um ihrer Tante zu entkommen, die – Achtung! – Venedig nicht mag und die beiden Geschwister trennen will. Sie finden Freunde in einer Kinderbande, die in einem verlassenen Kino lebt und angeführt wird von Scipio, dem Herrn der Diebe, ein geheimnisvoller Junge, der die Kinder versorgt, indem er scheinbar aus Palästen und Herrenhäusern stiehlt.

Das beschwerliche und doch geliebte Leben der Kinder wird durch einen besorgten Detektiv bedroht, der auf der Suche nach Prosper und Bo ist, aber auch durch einen rätselhaften Auftrag für den Herrn der Diebe: Einen hölzernen Flügel soll er stehlen, ein Unterfangen, das in ein Netz aus Gerüchten und Märchen führt.

Kinderbücher über erfinderische Kinder, die von zuhause abhauen, sind sicher nicht selten, aber Herr der Diebe macht besonders Spaß. Funke beglückt ihre jungen Protagonist_innen mit einer besonderen Freude an ihrer Unabhängigkeit und der kühnen Fähigkeit, Erwachsene zu überlisten, schenkt ihnen aber auch ein paar großartige erwachsene Freund_innen, wenn sie diese brauchen – die beherzte und großzügige Ida Spavento ergänzt die Figuren des Romans herrlich. Das Buch verschweigt die Notlagen der Kinder nicht. Stattdessen feiert es – ganz wie Maia – die ungewöhnlichen Familien, die durch Freundschaften entstehen, und erinnert daran, dass diese unerwarteten Bündnisse genauso dick sein können wie Blut.

Übersetzte Kinderbücher sind oft besonders schwierig zu finden – großartig also, dass der Verlag Chicken House Press sich diesem Trend entgegensetzt – auch wenn es etwas enttäuschend ist, dass versäumt wurde, den Übersetzer Oliver Latsch auf dem Cover und Titelblatt zu erwähnen. Die skurrile Handlung von Herr der Diebe und seine Verweigerung, nur ein Genre zu bedienen, zeigen, warum es sich lohnt, internationale Schätze wie diesen in den Blick zu nehmen. Figuren, die man lieben und hassen muss, glorreich witzige Momente auf Kosten Letzterer, und eine Fülle an Abenteuern und Verzauberung: Funke sorgt dafür, dass der Herr der Diebe alles bietet, um jede junge Leserin zu bezaubern und zu fesseln.

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