Sehr geehrte Zukiswa Wanner, sehr geehrter Ian McEwan, liebe Elvira Espejo Ayca, querida Elvira, sehr geehrter Klaus-Dieter Lehmann, verehrte Jury, meine Damen und Herren,
in ihrer Arbeit und durch ihr öffentliches Engagement greift Elvira Espejo Ayca eine der zentralen Herausforderungen des gesellschaftlichen Lebens auf: das Zusammenleben in diversen und ungleichen Gesellschaften. Sie zeigt uns Wege auf, mit Wissensasymmetrien umzugehen und eröffnet eine Perspektive, die es uns erlaubt, eine zunehmend verflochtene und globalisierte Welt auf eine stärker dezentrierte und multipolare Art und Weise zu verstehen.
Elvira wuchs in einer Quechua und Ayamara sprechenden indigenen Gemeinschaft in Bolivien auf − dem Ayllu Qaqachaka (Provincia Eduardo de Avaroa, Departamento de Oruro). Sie musste ihren ländlichen Herkunftsort verlassen, mit kulturellen Normen brechen, in andere kulturelle Kontexte eintauchen und ungleiche Begegnungen erleiden, um in den Ayllu zurückkehren zu können, und dort wieder sozialen Anschluss zu finden. Wie sie in unseren Gesprächen erwähnte, kann man gleichzeitig einer Welt angehören und nicht angehören. Zusammenleben beinhaltet deshalb auch das Aushandeln der Spannungen zwischen Nähe und Distanz. Aber das Zusammenleben, insbesondere in ungleichen Begegnungen, ermutigt uns auch, unsere eigene Unvollständigkeit anzuerkennen. Es hält uns davon ab, Vollständigkeit zu beanspruchen, und privilegiert auf diese Weise das Gespräch gegenüber der Bekehrung (wie Francis B. Nyamnjoh 2017 betont). Konvivialität fordert uns heraus, bei der Verknüpfung von Identitäten aufgeschlossen und ergebnisoffen zu sein und dem Leben stärker einen fließenden Charakter und einen Charakter der gegenseitigen Abhängigkeit als von Dauerhaftigkeit zu verleihen.
Auf Grundlage dieser Erfahrungen wurde Elvira zu einer Brückenbauerin, die verschiedene Lebenswelten miteinander verbindet und trotz aller Differenz und Asymmetrien innovative Räume für den kulturellen Austausch schafft. Jedoch ist nicht nur was sie tut wichtig, sondern auch wie sie es tut.
Elviras tiefe Verbundenheit mit Textilien aus den Anden erlaubt es, diesen Ansatz und ihre Vorgehensweise hierbei zu verdeutlichen.
Aus der Perspektive der Quechua und Aymara − und anderer indigener Gruppen − sind Textilien niemals fertige Produkte. Sie sind vielmehr immer in Arbeit, in einem ständigen Prozess des Werdens und des sich Verwandelns. Darüber hinaus sind Webwaren nicht losgelöst von den konkreten Praktiken, spezifischen Techniken und sozialen Netzwerken zwischen Menschen und Nicht-Menschen zu sehen, die es ermöglichen, sie herzustellen und zum Leben zu erwecken. Dies umfaßt unter anderem die Betreuung und das Scheren der Lamas, das Spinnen, Färben und Weben der Fasern, die Planung des Designs und die Handhabung des Webstuhls.
Wie die Weberinnen des Ayllu Qaqachaka betonen, befindet sich im gewebten Stoff ihr „Geist“ und ihr „Herz“. Von Beginn der Herstellung an sind die Stoffe bereits Teil ihres Körpers und ihr Körper ist Teil des Stoffes. Die Herstellung von Textilien ist das Weben des Lebens. Von daher ko-konstruieren die Frauen in Qaqachaka durch ihre Textilien ihre Welt mit. Der Webstoff - wie auch viele andere Dinge, mit denen sie eng interagieren - bildet einen Mikrokosmos sozialer Beziehungen; er hat sein eigenes soziales Leben.
Elvira Espejo Ayca betont die Notwendigkeit, den Standpunkt der Weberinnen einzunehmen und ihre lokalen, einheimischen Kategorien zu berücksichtigen, um die Textilien der Anden umfassend erfassen zu können. Dieser Ansatz erlaubt es nicht nur, den performativen und prozessualen Charakter von Kultur hervorzuheben, sondern auch die indigenen Epistemologien in ihrer Komplexität und Äquivalenz zum westlichen Wissen in Wert zu setzen. Sie unterzieht europäisch geprägten Konzepten und Wissenspraktiken einer kritischen Reflexion und unterstreicht die anhaltenden Wissensasymmetrien, die in vielenkonvivialen Zusammenhängen offensichtlich werden.
Klassische epistemologische Subjekt-Objekt-Differenzierungen sind in jüngster Zeit durch eine ontologische Perspektive ergänzt worden. Das heißt, die wissenschaftliche Analyse und künstlerische Reflexion versuchen nicht allein zu bestimmen, wie andere Menschen über die Welt denken, sondern auch einzubeziehen, wie wir als Wissenschaftler*innen und Künstler*innen denken müssen, um zu erfassen, wie die Welt von Anderen begriffen wird. Erst so werden interkulturelle Übersetzungen möglich, die unterschiedliche Arten, die Welt zu konstituieren, berücksichtigen.
Diesen multiperspektivischen Ansatz folgend, verbindet Elvira in ihrer künstlerischen Arbeit mehrsprachige Dichtung, Musik, bildende Kunst, Webkunst und Performance. Sie will historisch gewachsene Grenzen und Entkopplungen überwinden, Offenheit und Unvollkommenheit hervorhebend. Wie auch die Weberinnen des Ayllu Qaqachaka konzentriert sie sich dabei nicht nur auf die Bedeutung von Objekten und Artefakten, sondern auf deren Wirksamkeit für die Handlungen der mit ihnen interagierenden Personen. In diesem Sinne leistet sie einen Beitrag zu einem erweiterten Kunstbegriff, der es erlaubt, sogenannte traditionelle indigene Kunst auf symmetrischere Weise mit zeitgenössischer Kunst in Verbindung zu setzen.
Ich gratuliere Dir, Elvira, zur Verleihung der Goethe-Medaille, mit der Deine hervorragende Arbeit und deine künstlerischen Beiträge, aber auch Dein großartiges soziales Engagement gewürdigt werden.
Ich möchte meine kurze Laudatio mit einem von Elvira Espejo Ayca gesungenem Gedicht abschließen. Ich entschuldige mich für meine schlechten Sprachkenntnisse und erkenne meine Unvollkommenheit an.
Arbolituymayuymanta
yakituypismayuymanta
sunquypipismayuymanta
amañasqunqayatinkichu
Nopodrásolvidar
mi árbol de río
mi agua de río
mi corazón de río
nuncapodrásolvidar
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Lieber Ian McEwan, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie virtuell (oder auf andere Weise) bei uns sind,
es ist für mich eine große Ehre, dass das Goethe-Institut mich eingeladen hat, die Laudatio auf Sie zu halten, Herr McEwan. Seit den 1990er-Jahren eine begeisterte Leserin Ihrer Bücher, freue ich mich wirklich sehr. Zudem kenne ich Sie, obzwar Sie mich nicht kennen. Dieses etwas asymmetrische Arrangement – es ist immer unfair gegenüber der Person, die im Mittelpunkt steht – ähnelt dem alten Spiel „Ich sehe dich, aber du kannst mich nicht sehen“. Kleine Kinder müssen ihre Hände vor die Augen legen, um diesen Effekt zu erzielen; andere brauchen bloß einen Platz inmitten des Publikums eines gut besuchten Zuschauerraums.
Das Ereignis, von dem ich hier rede, war ein Literaturfestival nahe Lewes in East Sussex. Das fand 2013 oder 2014 statt (auf das genaue Datum kann ich mich nicht besinnen). Dieses Festival war eine sehr englische Veranstaltung, im Sinne von dem, was wir als typisch englisch ansehen: Es fand also auf dem Lande statt: Inmitten grüner Auen, genauer wohl: abgemähter Wiesen, erhob sich ein regenfestes Gebäude, das Lesungen und Diskussionen von grandioser Vielfalt beherbergte. Unter den Ehrengästen war auch der hochangesehene, gelahrte Historiker Asa Briggs, der damals in Lewes lebte. Während des Zweiten Weltkriegs war er, der mittlerweile von uns gegangen ist, in dem mit hochkarätigen Mathematikern besetzten Anwesen Bletchley Park beschäftigt: Auf die eine oder andere Weise hat er dort dazu beigetragen, dass die Funktionsweise der berühmten nazi-deutschen Enigma-Maschine entschlüsselt wurde. Die Organisatoren des Festivals in Lewes standen nun vor der schwierigen Frage: Wen einladen zu einem Tête-à-Tête mit dieser illustren Persönlichkeit? Die Wahl war schnell getroffen: Ian McEwan. Er hatte an der University of Sussex studiert (an der übrigens auch ich studiert habe, allerdings einige Jahre später). Und er steht im Ruf, über Spionage Bescheid zu wissen: In mehr als einem Roman hat er die Untiefen dieses Themas ausgelotet. Ian McEwan war daher der perfekte Gast für ein Gespräch mit Asa Briggs.
Dabei muss man wissen, dass Ian McEwan, wenn er an einem neuen Buch arbeitet, öffentliche Auftritte scheut. Weil es scheinen könnte, als würde er ständig an seinem nächsten Buch arbeiten, wäre es eigentlich sozusagen typisch für ihn gewesen, die Einladung auszuschlagen. Aber von wegen!
In den 1970er Jahren erschrieb McEwan sich einen Namen. In den 1980er Jahren wurde er bekannt. Spätestens seit den 1990er Jahren ist er berühmt. Seine Romane wurden als sarkastisch, zynisch und voll von schwarzem Humor klassifiziert. Nun, ich kann Ihnen versichern, dass dieser literarische Nachkomme von „Rameaus Neffe“, angeblich Vertreter einer schwarzen Anthropologie, im Gespräch mit Asa Briggs ungeheuer charmant war. Er zeigte ein ehrliches Interesse daran, was der alte Historiker zu sagen hatte, und war während der gesamten Unterhaltung wahrhaft herzlich, neugierig und respektvoll. Soviel also zu dem Propheten der Dunkelheit.
Die Jury des Goethe-Instituts war der Ansicht, dass Ian McEwan nicht zuletzt wegen seiner engen Verbindungen zu Deutschland eine Goethe-Medaille verdient. Sein Vater stammte aus Schottland und war Offizier beim britischen Militär, nach dem Zweiten Weltkrieg war er in Deutschland stationiert, wurde immer mal wieder woanders hingeschickt und lernte also etliche mehr oder minder interessante Städtchen kennen. Wie es damals in des Vaters Kreisen üblich war, besuchte McEwan ein Internat. Seinen Vater sah er nur in den Ferien in Deutschland. Während dieser Ferien lernte er Ortschaften mit merkwürdig klingenden Namen kennen: Fallingbostel. Paderborn. Rückblickend sagte er, diese Orte seien ihm ziemlich trostlos vorgekommen. Das könnte aber daran gelegen haben, dass er sie gar nicht recht kennenlernte, weil die britischen Soldaten untereinander genug Spaß hatten. So wurde Ian McEwan nicht etwa in England, sondern in Deutschland in einen Lieblingszeitvertreib von Briten und Iren eingelernt: Snooker spielen.
McEwan sah die Berliner Mauer, bevor sie fiel. Es verwunderte ihn, dass es kaum deutsche Autoren gab, die in ihren Romanen die Mauer zu erklimmen versuchten. Ähnliches gilt übrigens auch für Teile der deutschen Geschichte: Zu jener Zeit waren Deutsche an gewissen Aspekten der deutschen Geschichte kaum interessiert. Ok, dachte man in der britischen Historikerzunft: wir müssen unser ehemaliges Empire wissenschaftlich zu Bett bringen, da können wir uns um deutsche Angelegenheiten auch noch kümmern. So in etwa dachte auch Ian McEwan, als er begann, den Spionageroman „The Innocent“ zu verfassen, der in Berlin spielt und 1990 veröffentlicht wurde. Während Orson Welles in den 1940er-Jahren Wien als Schauplatz für seinen fabelhaften Film „Der dritte Mann“ entdeckte, begeisterte Ian McEwan sich für die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland. Er fand sie schlicht und ergreifend „bizarr“. Er hielt sie für ein faszinierendes Phänomen – dies war übrigens die Bezeichnung des westdeutschen Kanzlers Kurt Kiesinger für die Deutsche Demokratische Republik. Er nannte sie ein „Phänomen“, weil sie in den 1960er-Jahren nicht offiziell als Staat anerkannt war. Die DDR war ein Gebilde, für das es keinen rechten Namen geben durfte, daher also ein Phänomen. Ähnlich sah McEwan die Mauer. Sie war zu bizarr, um Bestand zu haben.
Ian McEwans Romane drehen sich um Fragen der Willensfreiheit und die Kalamitäten, die den Menschenkindern daraus erwachsen, dass sie – mitunter völlig überfordert - in heikler Lage Entscheidungen treffen müssen. Die Geschichten beginnen meistens in einer friedlichen Umgebung, etwa mit einem kleinen Ausflug an einem schönen Sommertag in einem Fesselballon. Dann läuft etwas schief, und der Protagonist hängt, bildlich gesprochen, in der Luft, ganz allein mit sich und seiner Moral. Die meisten können ihren Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht werden. Sie neigen dazu, an sich selbst zu scheitern. Die Kluft zwischen dem, wie jemand sein möchte, und dem, wie die Person tatsächlich agiert: Das ist der Raum, in dem Ian McEwans Humor sich entfaltet.
Seine Romane bieten den Lesern Einblicke in die Abgründe des menschlichen Denkens und Empfindens. Wenn man ohne Happy End auskommt, sind seine Bücher auf mehr als philosophische Weise ungemein lustig. Lustig ist auch der Satz, den er einmal einem Journalisten anvertraut hat: Als Schriftsteller komme man um Begegnungen mit dem realen Leben nicht herum.
In seinem realen Leben ist Ian McEwan ein überzeugter Europäer. Er findet den Brexit bescheuert. Er verabscheut Rassismus und Diskriminierung jeder Art. Der Kapitalismus in seiner neoliberalen Spielart ist nicht sein bevorzugtes Politsystem. Im Zentrum seines Romans „Solar“ steht der Klimawandel. Das Buch ist teilweise von seinem Besuch beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung inspiriert, das sich mit der Frage befasst, was aus der Erde wird, wenn es immer wärmer wird.
Der Direktor des Potsdam-Instituts, Hans Joachim „John“ Schellnhuber, lud McEwan ein, einmal vorbeizukommen. Wie der nun ist, sagte er nicht Nein. Schellnhuber macht sich Sorgen, weil der Wendepunkt naht, von dem an der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten sein wird und große Teile der Erde für Menschen unbewohnbar werden. Er sagte: Es blieben der Menschheit noch dreißig Jahre Zeit. Wenn es einmal so weit gekommen sei, dass die mittlere Temperatur auf der Erde um zwei Grad Celsius zugenommen habe, dann sei diese Entwicklung nicht mehr zu stoppen. Das ist keine amüsant-sarkastische Beobachtung; das ist die Realität.
Natürlich werden die Demonstrationen der „Fridays for Future“-Bewegung nicht genügen. Einige wenige verantwortungsvoll denkende Ökonomen, Investmentfondsverwalter und Politiker werden nicht genügen. Und auch Schriftsteller wie Ian McEwan können wenig ausrichten, wenn der Rest der Gesellschaft weitermacht wie zuvor, aufs Geld fixiert und kurzfristige Entscheidungen treffend.
Aber Leute wie Ian McEwan bieten den Leuten die Gelegenheit, innezuhalten, in sich zu gehen. Das ist die Kraft, die guten Romanen innewohnt. Die Autoren machen Einladungen, sie zeigen etwas, sie malen etwas: „da, schau mal“. Und gerade weil die Leser die Freiheit haben, weiterzulesen oder auch nicht, lassen viele sich darauf ein, in einem Buch ihr besseres Ich zu entdecken.
Lieber Ian McEwan, Sie sind ein Freund all dessen, wofür das Goethe-Institut einsteht, ja ein Freund des Instituts. Die Goethe-Medaille ist ein schöner Preis. Und ich bin stolz, dass Sie sie nun erhalten. Seien Sie von Herzen beglückwünscht. Möge alles florieren, was Sie vorhaben, jetzt und in Zukunft.
Der Begriff der „Weltliteratur“, wie Goethe ihn vor nicht ganz zweihundert Jahren prägte, hat einiges an Neuinterpretation und Bedeutungswandel hinter sich. Heute löst die Vorstellung von globaler Literatur einen sehr viel komplexeren Vielklang in uns aus.
Zukiswa Wanner verkörpert diesen Vielklang in ihrer Arbeit. Dank WhatsApp, Facebook und Instagram bringt sie die wichtigsten Stimmen Afrikas trotz und wegen der Corona-bedingten Lockdowns und Einschränkungen zusammen und veranstaltet seitdem gleich mehrmals das von ihr ins Leben gerufenen virtuelle Afrolit Sans Frontières-Festival. Dort werden Geschichten erzählt, aus verschiedenen Ländern und Kulturen, in verschiedenen Sprachen. Geschichten, die bereits geschrieben wurden und die in den Gesprächen darüber entstehen. So setzt sie einem Virus, das keine Grenzen kennt, Kommunikationsformen entgegen, die Grenzen überwinden können. Grenzen, Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede. Die Lösung liegt in der gemeinschaftlichen Anstrengung, in der Bereitschaft zur Offenheit, zum Zuhören. Aber auch im Zugang zum Internet und zur entsprechenden Technik.
Wie Zukiswa Wanner ihren ersten Roman schrieb, ist ein gutes Beispiel dafür, wie elementar dieser Zugang zu Dingen ist, die den meisten von uns alltäglich erscheinen. Sie schrieb „The Madams“ an ihrem Arbeitsplatz, weil sie nur dort einen Computer hatte. Sie ging einige Stunden früher ins Büro, um ungestört an ihrem Text arbeiten zu können. Sie hatte immer zwei Fenster geöffnet, eines mit dem, woran sie offiziell arbeitete, eines mit ihrem Manuskript, damit sie unauffällig hin- und herwechseln konnte, ohne erwischt zu werden. Nur Autor*innen einer bestimmten Einkommensschicht benutzen diesen Zwei-Fenster-Trick, sagt sie in einem Interview, und diese Autor*innen sind schwarz. Sie müssen arbeiten, häufig haben sie mehr als nur einen Job, um sich und ihre Familien durchzubringen. Es gibt keine Möglichkeit, sich für ein paar Wochen zurückzuziehen, nur um zu schreiben. Oft genug ist nicht einmal das Geld für einen eigenen Computer da. Zu Schreiben ist Luxus. Oder eine immense Kraftanstrengung. Zukiswa Wanner hat diese Kraft. 2006 erschien „The Madams“, und seitdem hat sie auch einen eigenen Computer.
Ihre ersten Arbeiten zeigen bereits die Themen, die ihr wichtig sind: welche Rolle Herkunft spielt, Herkunft und Hautfarbe, jede Nuance der Hautfarbe. Welchen Einfluss die Politik der einzelnen Länder auf die Gegenwart und Zukunft jeder Familie hat. Welches Rollenverständnis auf Frauen, aber auch auf den Männern lastet. Was Homosexualität und Queerness bedeutet, wie sie gelebt werden kann. Warum die Kolonialisierung Afrikas durch europäische Mächte längst kein abgeschlossenes Kapitel ist und noch lange keins sein darf. Ihr Tonfall, und das ist eine Kunst, ist bei aller politischen Relevanz vermeintlich leicht und humorvoll. Westliche Einflüsse sind unauslöschbarer Teil der Lebenswirklichkeit, und sie bleiben es, denn heute ist dank Social Media die Welt kleiner geworden, erreichbarer, und dadurch in den Möglichkeiten vielleicht auf größer. Die Schwarzen Stimmen haben eine Bühne. Themenräume werden erobert, und auch zurückerobert. Die einstigen Kolonialherren können sie nicht mehr zum Verstummen bringen.
Zukiswa Wanner sorgt mit dafür, dass Geschichten eines ganzen Kontinents gehört werden. Sie trägt sie in die Welt, über die Grenzen. Sie trägt dazu bei, dass der literarische Kanon der westlichen Schulen und Universitäten nicht mehr nur vorwiegend weiß und männlich ist. Und sie stärkt das Bewusstsein dafür, dass auch Sprache ein Privileg ist. Über tausend Sprachen des Kontinents haben literarisch zu wenig Bedeutung. Geschichten werden nicht gehört, wenn sie nicht übersetzt sind, sowohl aus den Sprachen als auch in diese Sprachen. Also hat sie ihren eigenen Verlag Paivapo gegründet und angefangen, Geschichten für Kinder aus dem Englischen in deren Muttersprachen übersetzen zu lassen.
Wunderbar finde ich auch ihre Nacherzählung des Grimmschen Märchens „Rapunzel“. Bei Zukiswa Wanner heißt die Protagonistin „Refilwe“, sie ist schwarz und wird in Lesotho geboren. Eine kulturelle Übertragung findet hier statt, um weltbekannte – oder eher im westlichen Kulturkreis relevante – Erzählungen zugänglich zu machen. Aber auch um zu zeigen, wie universell viele Erzählungen im Kern sind, und dass es keinen Grund gibt, sie ausschließlich „weiß“ zu erzählen.
Zukiswa Wanner arbeitet als Schriftstellerin, als Verlegerin, als Journalistin und Kuratorin, und sie leistet Großartiges. Mir fehlt die Zeit, hier und jetzt alles zu würdigen, was es zu würdigen gilt. Zahlreiche Auszeichnungen hat sie bereits für ihre Arbeiten erhalten, und doch hat sie recht, wenn sie sagt: Um auch nur ein Viertel der Anerkennung zu erhalten, die man für das eigene Schaffen verdient, müsse jemand wie sie viermal so hart arbeiten. Man sehe sie als Black African woman, bevor man sie als Schriftstellerin bezeichne, und schnell sei man Repräsentantin für alle diese Kategorien, anstatt als Künstlerin wahrgenommen zu werden. „Zukiswa is a writer, a mother, an African, and a woman – in thatorder“, ist in einem Blogbeitrag von 2011 über sie zu lesen, und ich halte diese Reihenfolge für bezeichnend und extrem wichtig. Umso mehr freue ich mich, dass heute eine weitere Auszeichnung für diese besondere Schriftstellerin als Anerkennung für ihre herausragende Arbeit in Form der Goethe-Medaille hinzukommt.
Herzlichen Glückwunsch, Zukiswa!
Der Vorstand des Goethe-Instituts stiftete die Goethe-Medaille 1954 und 1975 erkannte die Bundesrepublik Deutschland sie als offizielles Ehrenzeichen an. Seit 2009 findet die Verleihung am 28. August, dem Geburtstag Johann Wolfgang von Goethes, in Weimar statt. So fügt sich der Festakt in den Weimarer Kultursommer ein, zu dessen Höhepunkten das Kunstfest Weimar gehört. Gemeinsam mit dem Kunstfest richtet das Goethe-Institut ein Begleitprogramm aus, das die Feierlichkeiten zur Verleihung der Goethe-Medaille abrundet. Das Begleitprogramm bietet weitere Möglichkeiten zur Begegnung mit den Preisträgerinnen und Preisträgern.
Zu den vergangenen Preisträgerinnen und Preisträgern gehören unter anderem Daniel Barenboim, Pierre Bourdieu, David Cornwell alias John le Carré, Sir Ernst Gombrich, Lars Gustafsson, Ágnes Heller, Petros Markaris, Sir Karl Raimund Popper, Jorge Semprún, Robert Wilson, Neil MacGregor, Helen Wolff, Juri Andruchowytsch oder Irina Scherbakowa.