Digitale Ausstellung Thomas Bernhard. Ein Kind. - Heiko Berner

22. Jahrmarkt in der Au, Traunstein Foto: © Heiko Berner

Do, 17.09.2020 –
Mo, 30.11.2020

Online

22/22 JAHRMARKT IN DER AU, TRAUNSTEIN

Im Rahmen der Konferenz: "Thomas Bernhard: Sprache, Geschichte, Subjektivität"

"Thomas Bernhard. Ein Kind." umfasst 22 Bilder. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handelt sich um eine Dokumentation von Bernhards Kindheitsorten. Dies ist aber mitnichten so. Vielmehr folgen sie der autobiographischen Romangeschichte. Diese ist ästhetisch überformt und Bernhard selbst wählte dieses Mittel, um die Deutung seines Leben literarisch zu realisieren. Die Fotos lassen immer wieder Leerstellen, die entlang der Textpassagen fiktiv gefüllt werden können.

Neben der Bildkomposition, die immer wieder Auslassungen ins Zentrum rückt, ist die Serie durch drei weitere Elemente ästhetisch verbunden: Alle Fotos wurden mit Objektiven derselben Brennweite im moderaten Weitwinkelbereich aufgenommen. Sie sind in s/w gehalten, um einen dokumentarischen Stil zu imitieren und sie wurden allesamt im Herbst und Winter aufgenommen. Hier sind die Bäume unbelaubt und ziehen sich gleich Nervenbahnen durch den Himmel. Sie sind die eigentlichen Protagonist*innen der Serie. (Heiko Berner)

Diese Online-Ausstellung wird von der Konferenz 'Thomas Bernhard: Sprache, Geschichte, Subjektivität' begleitet.

Die digitale Konferenz und Ausstellung wurde von Dr. Ernest Schonfield und Dr. Katya Krylova mit Unterstützung des Goethe-Instituts Glasgow, des Österreichischen Kulturforums London, des Ingeborg Bachmann Center London sowie der Universitäten Glasgow und Aberdeen organisiert.
 
Fotografien: © Heiko Berner

Alle Zitate stammen aus: „Ein Kind“ 1982,  © Residenz Verlag GmbH, Salzburg – Wien


1. Ettendorf

„Kein Zweifel, ich musste den Gang zu meiner Mutter über meinen Großvater machen, der mit meiner Großmutter in Ettendorf wohnte, in einem alten Bauernhaus, nur hundert Schritte von der berühmten Wallfahrtskirche entfernt, vor welcher alljährlich am Ostermontag der sogenannte Georgiritt stattfindet.. Meine Mutter und ich, wir wären nicht in der Lage gewesen, eine Katastrophe zu verhindern.“ (S. 19)

2. Weinleite

„Ich erinnere mich, dass ich in der Langeweile der Nachmittage sehr oft Steine auf die Geleise gelegt habe, ohne Zweifel zu kleine für die gigantischen Lokomotiven, die ich und meine Volksschul-kollegen so gern in die Tiefe stürzen gesehen hätten. Sechs-, sieben-, achtjährige Anarchisten übten sich, wenn auch ohne Erfolg, an der sogenannten Weinleite, indem sie stundenlang in der Hitze Steine und Holzprügel herbeischafften und auf die Geleise legten und sich auf die Lauer hockten. Die Züge dachten nicht daran, zu entgleisen und mit ihrem Waggongefolge in die Tiefe zu stürzen.“ (S. 20f)

3. Eisenbahnbrücke

„Die Eisenbahnbrücke über die Traun, zu der ich aufblickte wie zu meiner allergrößten Ungeheuerlichkeit, einer viel größeren Ungeheuerlichkeit, naturgemäß als Gott, mit dem ich zeitlebens nichts anzufangen wusste, war mir das Höchste. Und gerade deshalb hatte ich immer darüber spekuliert, wie dieses Höchste zum Einsturz zu bringen sei. Mein Großvater hatte mir alle Möglichkeiten, die Brücke zum Einsturz zu bringen, aufgezeigt. Mit Sprengstoff könne man alles vernichten, wenn man nur wolle. In der Theorie vernichte ich jeden Tag alles, verstehst du, sagte er.“ (S. 23)

4. Volksschule

​„Die Schulen überhaupt und die Volksschulen im besonderen seien grauenhafte, schon den jungen Menschen in seinen Ansätzen zerstörende Institutionen. Die Schule an sich sei der Mörder des Kindes. Und in diesen deutschen Schulen sei überhaupt die Dummheit die Regel und der Ungeist der treibende. Da es nun aber einmal Pflicht sei, die Schule zu besuchen, müsse man seine Kinder hinschicken, auch wenn man wisse, man schicke sie ins Verderben. Die Lehrer sind die Zugrunderichter, sagte mein Großvater.“ (S. 52)

5. Zuhause, Wernhardtstraße, Wien

„Sie hatte mich noch einmal in den Wäschekorb gelegt und war mit mir über Tag und Nacht nach Wien. Ich hatte von jetzt an nicht nur meine Mutter, ich hatte auch Großeltern. In der Wernhardtstraße im sechzehnten Bezirk, in der Nähe des Wilhelminenspitals, habe ich zum ersten Mal im Leben das Wort Großvater ausgesprochen." (S. 61)

6. Wilhelminenspital, Wien

„Es heißt, ich sei in meinem zweiten Jahr von der Singer-Nähmaschine meiner Großmutter heruntergefallen, auf die mich mein Onkel gesetzt hatte. Mit einer Gehirnerschütterung sei ich mehrere Tage im Wilhelminenspital gelegen. Daran erinnere ich mich nicht." (S. 61f.)

7. Bahnhofswirtschaft, Seekirchen

​„Der Aufbruch aus Wien, auf das Land, nur sechs Kilometer von Henndorf, also der engeren Heimat entfernt, muss ziemlich abrupt vorgenommen worden sein, denn ich erinnere mich, dass wir zuallererst in der Bahnhofswirtschafft von Seekirchen Station machten. Mehrere Wochen hausten wir dort in einem Gästezimmer, in welchem ständig unsere Wäsche über unseren Köpfen hing, und wenn ich Gute Nacht sagte, damals hatte ich dazu noch die Hände gefaltet, schaute ich durch ein hohes Fenster direkt auf den sich rasch unter der versinkenden Sonne verdüsternden See." (S. 67)

8. Wallersee, Seekirchen

„Hier also war mein Vater geboren worden, hier verbrachte meine Mutter ihre Kindheit, in der Umwelt des Sees, der für mich voller ungelöster Rätsel und der Mittelpunkt zahlreicher von meienm Großvater für mich vor dem Zubettgehen erfundener Märchen war." (S. 70)

9. Friedhof, Seekirchen

„Mein bevorzugter Platz in Seekirchen war von allem Anfang an der Friedhof, mit seinen pompösen Grüften, den riesigen Granitgrabsteinen der Wohlhabenden, den kleinen verrosteten Eisenkreuzen der Armen und den winzigen Holzkreuzen der Kindergräber Die Toten waren schon damals meine liebsten Vertrauten, ich näherte mich ihnen ungezwungen." (S. 70)

10. Mirtenbauernhäusl, Seekirchen

„Eines Tages zogen wir drei, mein Großvater, meine Großmutter und ich, einen alten wahrscheinlich nicht nur für diesen  Zweck angeschafften kleinen Leiterwagen mit unseren gesamten Habseligkeiten auf die sogenannte Bräuhaushöhe.“ (S. 74)

11. Mirtenbauernhäusl, Seekirchen

„Eines Tages kam es, und meinem Großvater musste zur gleichen Zeit die Veröffentlichung eines Artikels gelungen sein, denn wir bekamen einen Eumig-Radioapparat, den mein Großvater wie das damals üblich war, in der Küchenecke auf einem an die Wand geschraubten Brett postierte. Andächtig saßen wir von da an am Abend am Küchentisch und hörten.“ (S. 76f.)

12. Hippinghof

​„Durch meine Großmutter kam ich auf den Hippinghof. Hier war mein Paradies.“ (S. 77)

13. Hippinghof

„Auf dem Hof gab es an die siebzig Kühe und sogenannte Jungtiere, ganze Horden von Schweinen und, abgesehen von Hunderten von Hühnern, die überall herumflatterten und den ganzen Tag von der Frühe bis in die Nacht hinein alles zergackerten, drei oder vier Pferde. Den Traktor gab es noch nicht." (S. 77)

14. Hippinghof

​„Manchmal war ich wochenlang in Hipping, ich schlief neben den Pferdeknechten mit meinem neuen Freund, dem sogenannten Hippinger Hansi, dem älteren von zwei Hippinger Söhnen zusammen." (S. 79)

15. Fischach, Seekirchen

„Mein Großvater setzte sich auf einen Baumstumpf und sagte: Dort, die Kirche! Was wäre dieser Ort ohne die Kirche. Oder: Da, dieser Sumpf! Was wäre dieser Ort ohne diesen Sumpf. Stundenlang saßen wir vor allem am Ufer der Fischach, die aus dem Wallersee Richtung Salzach fließt, in vollkommenem Einverständnis." (S. 81f.)

16. Kirche, Seekirchen

„In aller Früh wurde in die Kirche gegangen. Im sogenannten Sonntagsanzug. Mich schauderte unter den Verfluchungen, die von der Kanzel herunter kamen." (S. 84)

17. Zu Hause, Traunstein

​„Poschinger Trauerausstattung stand über der Geschäftstür zu lesen. In diesem Hause sollten wir fortan leben. Wir hatten zwei Kisten in einem großen Zimmer, das wir von jetzt an als Wohnzimmer bezeichneten, stehen, darauf saßen meine Mutter und ich und verzehrten jeder ein Paar Wiener Würstchen mit Senf. Es war kalt und unfreundlich, und die Räume waren nicht ausgemalt. Es waren nur zwei Zimmer und eine Küche, das große Zimmer, das Wohnzimmer, hatte jeweils zwei Fenster auf die Schaumburgerstraße und auf den Taubenmarkt, das kleinere, das Schlafzimmer, ein Fenster auf die Schaumburgerstraße, dazu gab es noch einen sogenannten Holz- und Kohlenverschlag, der fensterlos war. Das Wasser war auf dem Gang, ebenso, auf dem anderen Ende, auf der Taubenmarktseite, die Toilette. Ich kann nicht behaupten, dass ich glücklich gewesen wäre.“ (S. 109)

18. Wochinger Eck

​„Ich schwänzte zum erstenmal die Schule, meine Angst, ohne Hausaufgabe mich meinen Lehrern auszuliefern, war auf einmal zu groß. Ich wollte nicht vor den Lehrer treten, der mich an den Ohren zieht, und wenn ihm das keinen Spaß mehr macht, mir an die zehnmal auf die ausgestreckte Hand schlägt mit dem Rohrstock. [...] Ich hatte einen eingezogenen Kopf. Es fröstelte mich. Ich hockte mich auf dem sogenannten Wochinger-Eck, einem beliebten Ausflugspunkt, ins Gras und heulte.“ (S. 115)

19. Schnitzelbaumerstiege, Traunstein

​„Mein Großvater wusste auch keinen Auswweg. Das Zusammensein mit ihm entschädigte mich, sobald ich konnte, rannte ich über den Taubenmarkt und die sogenannte Schitzelbaumerstiege hinunter zum Gaswerk und an diesem vorbe nach Ettendorf. Das dauerte eine Viertelstunde. Keuchend fiel ich meinem Großvater in die Arme.“ (S. 120)

20. Zugfahrt

​„Meine erste Reise führte mich unmittelbar unterhalb des großelterlichen Hauses in Ettendorf vorbei. Ich weinte, als ich vorbeifuhr. Die Lokomotive stieß wie mit letzten Kräften ihren Dampf aus. Es ging durch Wälder, in Schluchten hinein, durch Sümpfe und Wiesen. Ich sah meinen Platz in der Klasse: er war leer. [...] Ungefähr um die Zeit, da Schulschluss gewesen war, erschien ich zuhause.“ (S. 121)

21. Poschinger Gruft

​„Ich hatte [...] meine zweite Freundin. Ich ging mit ihr an die Traun, ich turnte mit ihr auf dem Gestänge der Eisenbahnbrücke, ich lief mit ihr an den Tennisplätzen vorbei nach Bad Empfing, von wo aus es nicht weit auf den Waldfriedhof war. Dort bestaunte ich immer wieder die monumentale Poschingergruft. Maria, die Letztverstorbene, die Burghausener Studienrätin, war auf einem großen an den Granit angelehnten Foto abgebildet. Wenn man in die Gruft hineinrief, hallte es furchtbar wider.“ (S. 156f)

22. Jahrmarkt in der Au, Traunstein

​„Für den sogenannten Jahrmarkt in der Au bekam ich, zum Unterschied von der Winter Inge und den andern Bürgerskindern, kein Geld. Ich musste es mir verdienen. Ich ließ mich stundenweise beim Karussell anstellen, mit andern zusammen ging ich wie der berühmte Brunnenesel hunderte-, vielleicht tausendmal im Kreis, um das Karussell in Gang zu halten.“ (S. 161)

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