1000 Serpentinen Angst

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. © Verlag S. Fischer Olivia Wenzel:  1000 Serpentinen Angst.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2020, 352 Seiten


Ein Prosadebüt, das sofort zu einem der meistdiskutierten literarischen Büchern dieses Jahres in Deutschland wurde – zurecht. Olivia Wenzel (geb. 1985), die sich vorher als Theaterautorin einen Namen gemacht hat, betritt nun mit ihrem ganzen Theaterinstrumentarium die Romanbühne, indem sie zugleich auf Methoden und Techniken der Autofiktion zurückgreift. Das Buch nimmt zum größten Teil die Form eines langen Dialogs zwischen der (namenlosen) Protagonistin, einer jungen schwarzen deutschen Frau aus Ostdeutschland (deren Mutter eine Punkerin in der DDR war und deren Vater kurz nach ihrer Geburt nach Angola zurückkehrte), und einer weiteren, unidentifizierten Person, die eine Vielfalt von Stimmen in sich aufzunehmen scheint. Oder verfolgen wir hier eher einen inneren Dialog, der sich nur im Kopf der Figur abspielt? Das ist im Grunde egal. Interessanter scheint die Textfunktion dieser Stimme zu sein, die die Protagonistin ständig in Bewegung erwischt („Wo bist du jetzt?“), in einer andauernden, ausgedehnten Erzählgegenwart, ihr beharrliche, aufdringliche Fragen stellt und mit reichlich Humor, Ironie und Frechheit ihre Antworten kommentiert: Es ist die Existenz dieser zweiten Stimme, die der Autorin den notwendigen Rahmen für die Strukturierung des Stoffs und die Entfaltung der Geschichte bietet – auch wenn vor allem im zweiten Teil des Buches längere monologische, reflexive Passagen eingefügt werden. Die zweite Stimme wird so zum Antrieb einer fragmentierten Erzählung der eigenen Geschichte sowie des Versuchs, sich nicht nur mit ihr zu versöhnen, sondern auch über sie hinauszuwachsen. Mit eindringlicher, kristallklarer Sprache untersucht der Roman gründlich nicht nur einige Hauptanliegen und Voraussetzungen von „Black Lives Matter“ und stellt nicht nur eine frontale Auseinandersetzung mit Rassismus (als Alltagserfahrung und als etabliertem Denksystem) dar; es ist zugleich eine feinfühlige Annäherung an das Thema Identität: an das dringende Bedürfnis, sich selber zu bestimmen und seinen Platz auf der Welt zu finden.

Marina Agathangelidou © Marina Agathangelidou Von Marina Agathangelidou
Marina Agathangelidou, geboren 1984 in Athen, lebt in Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft und literarisches Übersetzen in Athen und promovierte anschließend am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 2006 ist sie als freie Übersetzerin tätig.


Titel von Olivia Wenzel im Online-Katalog der Bibliothek
 S. Fischer Verlag