Jenny Erpenbeck: Kairos

  ©   Jenny Erpenbeck: Kairos
Jenny Erpenbeck:  Kairos
München: Penguin Verlag  2021, 384 Seiten


Eine Liebesgeschichte auf der Kante der – privaten und historischen – Zeit steht im Zentrum des neuen Romans von Jenny Erpenbeck Kairos. Die neunzehnjährige Katharina und der vierunddreißig Jahre ältere Hans, berühmter Schriftsteller in der DDR, treffen sich zufällig 1986 an einer Bushaltestelle in Ostberlin und werden zum Paar. Die Entwicklung der Beziehung der beiden Personen, die unterschiedliche Generationen vertreten und eine unterschiedliche Haltung gegenüber dem sozialistischen Regime haben, wird vor dem Hintergrund der geistigen, künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Atmosphäre der letzten Jahre der DDR und der ersten Jahre nach dem Mauerfall und der Wende dargestellt. Rückblickend, durch den Filter der Zeit betrachtet, die inzwischen vergangen ist, findet diese Darstellung statt, da die Beziehung der beiden Figuren wie auch der historische Kontext durch die Erinnerungsstücke (Fotos, Postkarten, Briefe usw.) vergegenwärtigt wird, die Katharina in den zwei Kartons, die sie nach Hans’ Tod bekommt, ausgräbt.

Dicht, nüchtern und scharfsinnig erzählt Erpenbeck von den verschiedenen Phasen einer Liebesbeziehung: von der Verführungskunst bis zur Demütigung. Die Zufälligkeit und die Kausalität als entscheidende Faktoren, die die Dinge vorantreiben und auf die die Struktur des 2012 erschienenen Romans Aller Tage Abend von Erpenbeck aufgebaut war, beschäftigen die Autorin auch in dem vorliegenden Roman, der außerdem den Verfall, die Brüche, die Verschiebungen, die Wendungen und die Umwandlungen beleuchtet, die auf privater wie auch auf politischer Ebene stattfinden. Hat Jenny Erpenbeck zum ersten Mal mit Heimsuchung (2008) den Erzählhorizont ihres Schreibens erweitert und die einzelnen Geschichten der Figuren deutlich in den Rahmen der großen Geschichte gesetzt, so liefert sie nun, diesen Weg weitergehend, mit Kairos noch einen komplexen, vielschichtigen, gedanklich und emotional reichen Roman. 

Penguin Verlag
Titel von Jenny Erpenbeck in der Bibliothek des Goethe-Insti tut Athens



Von Marina Agathangelidou
Marina Agathangelidou, geboren 1984 in Athen, lebt in Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft und literarisches Übersetzen in Athen und promovierte anschließend am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 2006 ist sie als freie Übersetzerin tätig.

 

Top