Vortrag und Diskussion Wessen Erinnerung zählt?

Landkarte © Shutterstock

Do, 22.10.2020

20:00 Uhr

Live Streaming

Koloniale Vergangenheit und Rassismus in Europa

Live-Stream auf Facebook (griechisch) oder über unseren Youtube-Kanal (deutsch).

Mark Terkessidis im Gespräch mit Kostis Papaioannou und Athena Athanasiou

Der Anthropologe Michael Herzfeld hat Griechenlands Position in Europa einmal als „kryptokolonial“ bezeichnet. Dieser Begriff bezeichnet eben den Zustand von Staaten, die zwar nominell politisch unabhängig sind, aber aufgrund der wirtschaftlichen Dependenz effektiv auf eine oftmals durchaus erniedrigende Weise abhängig bleiben. Alle Staaten des Balkan funktionierten auf diese Weise – sie blieben auch nach ihrer Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich den Ränkespielen der europäischen Mächte unterworfen, die teilweise nach Belieben ihren Einfluss auf die Innenpolitik ausübten. So war auch das Verhältnis der deutschen Staaten zum unabhängigen Griechenland im 19. Jahrhundert von einem Überlegenheitsgefühl geprägt.

Es gibt also eine lange Vorgeschichte der imperialen Verstrickung, die das Auslöschen von 1600 Dörfern während des Zweiten Weltkrieges überhaupt erst erklärbar macht. Und folgte auch die europäische Schuldenkrise einem postkolonialen Skript? Wo aber wird die Halbabhängigkeit in den europäischen Strukturen reflektiert? Es geht dabei nicht immer um moralische Fragen von Schuld und Unschuld, sondern um ein neues Verständnis der Beziehungsgeflechte in den vielfältigen Formen von unausweichlicher Nachbar- und Partnerschaft. Deutschland braucht eine neue, erweiterte Erinnerungspolitik, weil grenzüberschreitende Beziehungen wichtiger sind denn je für ein Land, das zunehmend von Einwanderung geprägt, in die Europäische Union integriert und in ein globales Geschehen eingebettet ist, in dem die Vergangenheit weiter eine Rolle spielt.

Ausgehend von Mark Terkessidis neuestem Buch „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ (2019) werden der griechische Historiker Kostis Papaioannou und die Sozialanthropologin Athena Athanasiou Verbindungen zur aktuellen Diskussion in Griechenland und Europa herstellen. Es geht um aktuelle Fragen wie das Erstarken von Nationalismus und Rassismus aus der Perspektive von Erinnerungskultur und der Debatte um (post-)koloniale Abhängigkeiten.
 
Mark Terkessidis geboren 1966, ist freier Autor und hat u.a. für taz, Tagesspiegel, Die Zeit und Süddeutsche Zeitung geschrieben sowie Radiobeiträge für den Deutschlandfunk verfasst und im WDR-Radio moderiert. Er promovierte über die Banalität des Rassismus und unterrichtete an den Universitäten Köln, Rotterdam und St. Galen. Zuletzt veröffentlichte er Interkultur (2010), Kollaboration (2015) und Nach der Flucht (2017). Er lebt in Berlin.
 
Kostis Papaioannou war Präsident der griechischen Sektion von Amnesty International, Vorsitzender der Nationalen Menschenrechtskommission und Generalsekretär für Menschenrechte. Er war Wegbereiter des Netzwerks zur Aufzeichnung rassistischer Gewaltvorfälle und beteiligt sich an der Koordination des Observatoriums für den Golden Dawn-Prozess. Er ist der Direktor des Zentrums für Studium und Bekämpfung des Rechtsextremismus.
 
Athena Athanasiou ist Professorin an der Panteion Universität für Sozial- und Politikwissenschaften in Athen. Ihre Forschungen und Publikationen beschäftigen sich mit der Politik der Erinnerung, Trauer und Emotionen sowie mit feministischer und antirassistischer Theorie, Biopolitik und Kulturtheorie.

Zurück