Stefan Jeuk im Gespräch
„Mehrsprachigkeit ist der Normalfall“

Kinder und Lehrerin einer Grundschulklasse
Kinder und Lehrerin einer Grundschulklasse | © Robert Kneschke - Fotolia.com

Nach aktuellem Stand der Forschung sollten Sprachmischungen nicht mehr als Zeichen von Sprachdefiziten, sondern von Sprachkompetenzen angesehen werden. Sie können problemlösend und konstruktiv sein. Ein Gespräch mit Stefan Jeuk, Leiter des sprachdidaktischen Zentrums der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Herr Jeuk, deutsche Schulen stehen vor der Herausforderung der Mehrsprachigkeit. Was bedeutet es für den Unterricht, wenn ein Großteil der Schüler mehrsprachig ist?

Mittlerweile sind in vielen Grund- und Hauptschulklassen mehrsprachige Kinder in der Mehrheit. Laut Mikrozensus 2011 haben im Schnitt ein Viertel aller Schüler einen sogenannten Migrationshintergrund. Die Tendenz ist steigend. Bekannt sind ja die Forderungen, mehrsprachige Kinder sollten auf ihre Erstsprache verzichten und nur noch in der deutschen Sprache kommunizieren. Leider wird Mehrsprachigkeit im Augenblick noch eher als Problem gesehen und nicht als Chance.

Was genau meinen Sie mit Chance?

Es ist mittlerweile recht gut untersucht, dass Mehrsprachigkeit nicht schädlich für die Integration und den Erwerb der deutschen Sprache ist. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, die dokumentieren, dass mehrsprachige Kinder bei guten Lernbedingungen in der Lage sind, zwei oder mehr Sprachen altersgemäß zu erwerben. In der Regel verfügen diese Kinder über eine besonders ausgeprägte Sprachaufmerksamkeit. Das kann sich später unter anderem positiv auf den Fremdsprachenerwerb auswirken. Mehrsprachigkeit kann ein Bildungsvorteil sein – wenn man sie richtig fördert.

Richtige Förderung für Mehrsprachigkeit

Welche konkreten Möglichkeiten hat man hierfür im Unterricht?

Stefan Jeuk, Leiter des sprachdidaktischen Zentrums der Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Stefan Jeuk, Leiter des sprachdidaktischen Zentrums der Pädagogische Hochschule Ludwigsburg | © privat Wir haben eine ganze Reihe von Ansätzen zur Verfügung, deren Wurzeln teilweise bis in die 1970er-Jahre zurückreichen und über die Jahrzehnte weiterentwickelt wurden. Ganz konkret: Man kann bereits in der zweiten oder dritten Klasse den Unterricht durch mehrsprachige Elemente bereichern, beispielsweise bei der Einführung des Nomens. Ein Gegenstand wird in unterschiedlichen Sprachen benannt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine solche Sprachbetrachtung den Unterricht für die Schüler stark aufwerten kann – und zwar für alle, sowohl die mehrsprachigen als auch die einsprachigen Kinder.

Also sind Sie mit der aktuellen Situation zufrieden?

Ja und nein. Es stimmt, die Ansätze sind da. Dennoch ist es natürlich auch eine Frage der Ressourcen, wie effektiv man diese überhaupt einsetzen kann. Wenn man einmal vergleicht: In Baden-Württemberg hatte eine Lehrerin in den 1980er-Jahren zusätzliche Unterrichtsstunden für die Förderung mehrsprachiger Kinder zur Verfügung. Heute ist dieser Anteil auf ungefähr zehn Prozent des damaligen Umfangs geschrumpft. Hinzu kommt: Die spezifischen Anforderungen für einen effektiven Unterricht für mehrsprachige Kinder sind oft gar nicht gegeben. Eigentlich bräuchten die Kinder einen DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache), der ihre spezifischen Bedürfnisse und Kompetenzen fördert und unterstützt. Sie bekommen aber einen Unterricht, der auf einsprachig deutsche Kinder zugeschnitten ist.

Mythos doppelte Halbsprachigkeit

Lange sah man Mehrsprachigkeit vor allem als Hinderungsgrund für einen effektiven Deutschunterricht. Warum eigentlich?

Man ging davon aus, dass Mehrsprachigkeit das Risiko einer sogenannten doppelten Halbsprachigkeit erhöht. Das Kind, so die Theorie, würde durch das Angebot mehrerer Sprachen verunsichert und beherrsche am Ende keine Sprache auf hohem Niveau. Doch einen solchen Kausalzusammenhang gibt es nicht. Die Frage, wie gut ein Kind eine zweite Sprache lernt, hängt vor allem von der Qualität des Angebots in dieser zweiten Sprache ab und nicht davon, ob und wie viele weitere Sprachen das Kind in seinem Alltag verwendet. Andererseits benötigen Kinder schlicht mehr Zeit, um zwei oder mehr Sprachen parallel zu lernen. Wenn nun ein Kind bei der Einschulung noch nicht perfekt Deutsch spricht und nur die Kompetenzen in der Zweitsprache Deutsch – zusammen mit einsprachigen Kindern – Gegenstand des Unterrichts und der Förderung sind, kann ein Ungleichgewicht entstehen.

Was halten Sie von der Befürchtung, der Trend zu Mischsprachen, wie sie vor allem mehrsprachige Kinder praktizieren, würde zu einer Verflachung des Deutschen führen?

Dazu muss man sagen: Jede moderne Sprache ist eine Mischung. Ungefähr 40 Prozent des aktuellen deutschen Wortschatzes sind nichtgermanischen Ursprungs. Und abgesehen davon ist das Deutsche eigentlich recht stabil. Die grammatische Grundstruktur hat sich in den letzten 500 Jahren kaum verändert. Wer von der sogenannten Verflachung, beispielsweise durch Anglizismen, spricht, muss bedenken: Viele dieser Worte sind syntaktisch gesehen deutsch. Nehmen Sie das Wort „mailen”. Es ist vollständig konjugierbar, sie können sogar einen Konjunktiv bilden: Wenn Du mir nur mailtest.

Multi-Kulti-Deutsch

Täuscht der Eindruck oder ist die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit mittlerweile im Mainstream angekommen?

Es stimmt, dass wir in den letzten Jahren einen positiven Wandel beobachten können, der eindeutig eine größere Akzeptanz von Migration und Mehrsprachigkeit in Schule und Gesellschaft mit sich bringt. Dennoch lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Die Frage ist, wie ernst wir die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit tatsächlich schon nehmen wollen und können. Auch in Büchern wie Multi Kulti Deutsch von Uwe Hinrichs werden die „migrantischen“ Einflüsse auf die Sprache zwar nicht negativ bewertet, es bleibt aber dabei, dass es Abweichungen von der Norm seien.

Welche andere Sichtweise schlagen Sie vor?

Wir müssen Mehrsprachigkeit endlich als den Normalfall akzeptieren, so wie er das mittlerweile mit Ausnahme Deutschlands und anderen meist europäischen Nationalstaaten eigentlich für so gut wie jede andere Nation weltweit ist. Eine Gleichwertigkeit der Sprachen kann nur gelingen, wenn Minderheitensprachen gefördert und politisch und institutionell gleich behandelt werden wie die Mehrheitssprache.
 

Stefan Jeuk ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Sprachen der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und leitet dort das Sprachdidaktische Zentrum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Spracherwerb und Mehrsprachigkeit, Schriftspracherwerb, Didaktik Deutsch als Zweitsprache, Sprachförderung und Sprachstandsbeobachtung sowie Anfangsunterricht im Fach Deutsch.