Árpád Schilling im Interview
„Hamlet, stich ihn ab!“

Árpád Schilling
Árpád Schilling | © Krétakör

Árpád Schilling, künstlerischer Leiter des europaweit bekannten Produktionsbüros und Zentrums für zeitgenössische Kunst „Krétakör“ (zu Deutsch: „Kreidekreis“), experimentiert seit einigen Jahren auf neuen Wegen: Sein Interesse richtet sich nun verstärkt auf die Methodik der Theater- und Dramapädagogik. Er führt an diversen Orten Projekte durch, die die dortigen Gemeinschaften ansprechen sollen. Wir stellten ihm Fragen zu diesen Projekten, zum Verhältnis von Theater und Pädagogik sowie zu seinen im Ausland realisierten Regiearbeiten.

Krétakör hat sich immer mit der Situation des Zuschauers im Theater auseinandergesetzt. Was ist die Rolle des Zuschauers in den Projekten der vergangenen Jahre, in denen Sie sich vom traditionellen Theaterbegriff losgelöst haben?

Das Hauptziel ist, dass das, was wir während der Probenarbeit als wesentlich empfinden, auch von den Zuschauern als wichtig wahrgenommen wird. Wir möchten, dass der Zuschauer aktiv partizipiert; das ist ein Weiterdenken der klassischen rezeptiven Attitüde. Bei den im Anschluss an unsere früheren Aufführungen stattfindenden Zuschauertreffen wurde ich gewahr, dass hauptsächlich wir selbst – die Theaterleute – es sind, die verhindern, dass sich der Zuschauer frei über das äußern kann, was uns eigentlich veranlasst hatte, die ganze Aufführung auf die Beine zu stellen. Zunächst dachte ich, das sei unsere Schuld, bis ich dann merkte, dass uns Mittel fehlten, die geeignet wären, den Zuschauer an die wahren Probleme heranzuführen. Das 2007 aufgeführte hamlet.ws vermochte sowohl Erwachsene als auch Jugendliche anzusprechen; während der nach den Aufführungen geführten Gespräche spürte ich jedoch oft, dass sich all das, was wir zuvor mit der Aufführung erreicht hatten, wieder zersetzte. Ich wollte nicht mehr, dass der Regisseur sich hinsetzt und erzählt, worum es in der Aufführung eigentlich ging; stattdessen hatte ich das Gefühl, dass Fragen, Spiele, gut geleitete Gespräche hilfreich sein könnten.

Sie sprechen vom traditionellen Modell des TIE (Theatre in Education).

Ja, und als ich das erkannte, stellte sich die Frage: Wie kann ich all das mit dem traditionellen Rahmen des Theaters in Einklang bringen? Das heißt, ich wollte die der Publikumspartizipation zuträglichen Mittel nicht erst im Nachhinein anwenden, also nicht im Rahmen einer zusätzlichen Veranstaltung, die im Anschluss an die Aufführung stattfindet; diese Mittel sollten vielmehr in die Aufführung integriert werden – wie wir das in A papnő (Die Priesterin) auch versucht haben. Das Ziel ist, dass der Zuschauer erkennt: Das Theater ist dafür da, ein Problem lebendig werden zu lassen. Erreichen können wir das, indem wir uns in das Problem hineinbegeben, es auseinandernehmen, es hinterfragen. Das entspricht einem absolut zeitgemäßen „Verbraucher-Denken“, das den Zuschauer das Theater als ein Mittel betrachten lässt. Ich bin Zuschauern begegnet, bei denen das funktionierte – das ging allerdings mit der durchaus realen Gefahr einher, dass der ästhetische Gesichtspunkt in den Hintergrund gedrängt wurde. Kurzum: Mir fehlte plötzlich eben das, was mich früher wütend gemacht hatte. Zurzeit suche ich das Gleichgewicht zwischen dem ästhetischen und dem politischen Aspekt.

Haben Sie es bereits gefunden?

Mit dem 2011 uraufgeführten, im schulischen Milieu angesiedelten Gemeinschaftsspiel Mobil (Mobiltelefon) waren wir nah dran: Eine von zwei Schauspielern gespielte Szene wird von den Schülern als herkömmliches Theater betrachtet; aber wenn sich die Schauspieler im nächsten Augenblick an die Schüler wenden, sind die Schüler sofort imstande „umzuschalten“, und es bereitet ihnen keine Schwierigkeiten, sich in die Lage einer von ihnen kreierten Figur hineinzuversetzen.

Die Fachkritik hat oft geschrieben, es gäbe keinen „Schillingschen Stil“, deshalb sei jede Ihrer Aufführungen unterschiedlich. Wie schaffen Sie es, sich angesichts der mit einem fixen „Werkzeugkasten“ arbeitenden theaterpädagogischen Programme stets zu erneuern?

Diesbezüglich bin ich noch nicht an dem Punkt angelangt, dass ich meine bestehenden Werkzeuge über Bord werfen würde. In dem, was 2003 mit Siráj (Möwe) begonnen und dann mit dem ins Schul-Milieu verpflanzten hamlet.ws sowie mit Akadályverseny (Hürdenlauf) und mit Mobil fortgesetzt wurde, zeichnet sich für mich eine gerade Richtung ab. Der Schauspieler betritt, so wie er ist, den leeren Raum. Das Theater geht zum Publikum, spielt vor Ort, und der Schauspieler spricht das Publikum – Brecht weiterdenkend – nicht einfach an, sondern stellt ihm Fragen. Am schwierigsten ist es, zu lernen, wie man gut fragt – das gucken wir uns bei den Schauspieler-Dramapädagogen ab, die sich schon seit zwanzig Jahren damit beschäftigen. Sollte sich der sehr gute Schauspieler und der sehr gute Fragensteller in einer Person vereinen, dann wäre das eine wahre Grenzüberschreitung, ein Paradigmenwechsel für das Theater. Dafür reicht es nicht aus, wenn der Schauspieler gut fragt: Es muss ihn auch interessieren, was der Zuschauer erwidert. Stellt sich einer nach dem Höhepunkt hin und fragt: „Was denken Sie darüber?“ – dann hat sich für mich das totale Theater verwirklicht.

Welche Vorbilder helfen Ihnen bei der Arbeit?

Als ich 2000 Peter Brooks Hamlet sah, staunte ich, wie man mit einer so tiefen Intelligenz schauspielern kann, die Adrian Lesters Vortrag des Shakespeare-Texts kennzeichnete. Das ist es, was ich in den – heutzutage noch immer modischen – derb-brutalen Theaterproduktionen vermisse: die schauspielerische Intelligenz. Auch fasziniert es mich, wie der Schauspieler-Dramapädagoge Viktor Bori dreißig sechsjährige Kinder so bei der Stange halten kann, dass er – sich im Spiel bewegend – der festgelegten Dramaturgie folgt, zusätzlich als Pädagoge über die Beteiligung der Kinder wacht, fortwährend auf ihre Reaktionen improvisiert und überdies noch ständig mit seinen Kollegen kommuniziert. Die meisten als interaktiv bezeichneten Aufführungen infantilisieren bloß die Schauspieler und die Zuschauer. Nur wenige wagen es, in eine sensible und wahre Interaktion mit den Zuschauern zu treten.

Was Sie als Infantilismus bezeichnen, das könnten wir auch Hierarchie nennen, von der sich Krétakör verabschiedet hat: Es geht nicht mehr darum, dass sich der Schauspieler hinstellt und die einzige Wahrheit verkündet.

Auch der Begriff der Hierarchie weist darauf hin, dass die Performance ein gesellschaftlicher Akt ist, bei dem wir, ob wir wollen oder nicht, unsere politischen Verhältnisse erkunden. Vorausgesetzt, dass wir uns nicht in infantilen Verhältnissen bewegen, ist es die Selbstreflexion, die das Adrenalin hochtreibt. A csillagász álma (Der Traum des Astronomen) war der erste Schritt zu einem Theater, welches das Publikum „rannimmt“. Im Anschluss führte ich Gespräche mit den Schauspielern und war enttäuscht, da sie das nur als Einzelereignis betrachtet hatten, während ich den Weg einer neuen Kontaktpflege mit dem Publikum weiterverfolgen wollte. Voriges Jahr habe ich in der Schweiz drei Monate mit Schauspielstudenten an Provokáció (Provokation) gearbeitet. Einige haben mit Leichtigkeit eine Stunde lang auf der Bühne „herumgealbert“, aber Blut geschwitzt, als sie zehn Minuten lang über ein Thema reden sollten. Andere haben den intellektuellen Reiz der Sache erspürt, und wieder anderen bereitete es Sorgen, dass es hier keine Maske gibt, hinter der man sich verstecken kann. Es ist sehr schwer, diesen intensiven Zustand der Selbstreflexion zu erreichen, wenn man sich nicht stets selbst erneuert.

Ihre neuen Projekte lassen die Möglichkeit eines anders beschaffenen Lebens für die – nicht selten sozial benachteiligten – Gemeinschaften, bei denen Sie einige Wochen lang arbeiten, durchschimmern. Was passiert mit ihnen, nachdem Sie fortgegangen sind?

Die Nachbereitung ist eine der grundlegenden Fragen der vergangenen fünf Jahre; das ist eine fachlich schwierige und zeitintensive Tätigkeit, für die zudem kein Geld vorhanden ist. Am zielführendsten ist, örtliche Helfer mit in den Prozess einzubeziehen. So sind wir bei der Auswahl der Schüler für das im Herbst 2014 startende Projekt Szabadiskola (Freie Schule) von vornherein dem Rat der örtlichen Pädagogen gefolgt, die auch nach Abschluss des Projekts bei den Schülern bleiben werden.

Gab es Rückschläge und Niederlagen in den vergangenen Jahren?

Nun, die „Zivilen“, die wir einbeziehen, werfen viele Fragen auf: In A papnő hatten wir zwei Roma-Jungen aus Őrkő, einem Außenbezirk von Sepsiszentgyörgy (zu Deutsch: Sankt Georgen, Siebenbürgen/Rumänien), die in allen gemeinsamen Camps in Siebenbürgen mit dabei gewesen waren, für die aber Budapest schon einen viel zu großen Sprung bedeutete. Sie sind so tief mit ihrer eigenen Welt verbunden, und es verwirrte sie, von ihrer Familie getrennt zu sein; sie fühlten sich nicht in Sicherheit und waren überfordert angesichts der in sie gesetzten Erwartungen. Ein anderes Beispiel: Als wir mit dem Projekt Új néző (Neuer Zuschauer) in ostungarischen Dörfern unterwegs waren, in denen tiefe Armut herrscht, hatten wir zwar einen Soziologen und einen Kulturanthropologen dabei, dennoch waren wir nicht auf die Situation vorbereitet, dass uns fünf Roma mit zu begleichenden Zahlscheinen in der Hand entgegenstürmen …

Gibt es geographische oder soziologische Unterschiede, was die Rezeption Ihrer Aufführungen betrifft?

Mit Mobil haben wir auch sehr arme Regionen bereist, und die dortigen Schüler haben sich mehr auf das Spiel eingelassen als die eines Budapester Elitegymnasiums, die das Ganze eher zu demaskieren versuchten. Als so um die fünfzig junge Leute in Sajókaza fasziniert unser hamlet.ws verfolgten und dann einer dazwischen rief: „Hamlet, stich ihn ab!“, da erkannte ich, dass sie das Theater „benutzen“. Wenn wir ihnen Fragen stellen, so ist es für sie selbstverständlich, dass sie antworten. Setzt sich ein 14-jähriger Junge in A papnő vor 300 Zuschauer hin und fragt, was diese über die Rolle und die Situation der Jugend denken, wird ihn zwar niemand verdächtigen, die Leute übertölpeln zu wollen, es fällt aber dennoch nicht leicht, aufrichtig zu antworten.

Kommt Ihre neue Denkweise auch in Ihren ausländischen Regiearbeiten zum Vorschein?

2010 hatte ich an der Bayerischen Staatsoper La Cenerentola in Szene gesetzt, und ein Kritiker vermisste in meiner Inszenierung die – zu diesem Zeitpunkt in meinen anderen Arbeiten bereits stark präsenten – interaktiven Elemente. Was der Kritiker nicht bemerkt hat, ist, dass das „klassische“ Publikum eines klassischen Opernhauses einer Vorstellung beiwohnte, in der es keine Kulissen gab und ein Teil der Handlung sich unter den Zuschauern abspielte. Man kann natürlich abwinken und sagen: Was ist das im Vergleich zu Mobil? – Dann hat man aber nicht verstanden, wie der Kontext die unterschiedlichen Regiearbeiten bestimmt: Auch zu Hause in Ungarn ist es nicht egal, ob man in einem etablierten Schauspielhaus bei einem klassischen Stück Regie führt, oder ob man in einer Schule unter Mitwirkung von Theaterpädagogen Diskussionstheater macht.

Es ist ziemlich irritierend zu sehen, dass immer dieselben Leute den Zuschauerraum bevölkern, wenn ein für gesellschaftliche Probleme sensibilisierendes Stück geboten wird. Haben Sie sich mit diesem Problem auseinandergesetzt?

Offensichtlich erweckt die neue Formensprache des Theaters momentan nur das Interesse eines kleinen Kreises. Es liegt viel an der Form: Es wäre wichtig, dass man seine Aufgabe sehr gut macht, wenn man solche Projekte betreut. Ich sehe im Allgemeinen, dass sich das neue Theater noch immer auf der Suche nach sich selbst befindet. Es freut mich, dass sich die Kritiker für uns interessieren, wenngleich noch keine Sprache existiert, mit der man sich in substanzieller Weise über uns äußern könnte. Zahlreiche Theaterformen haben sich bereits verselbstständigt; die Richtung aber, die von Edit Romankovics als „Partizipationstheater“ bezeichnet wurde, ist noch ganz frisch – sie verfügt lediglich über eine Tradition von ein paar Jahrzehnten. Schon sehr bald wird sie aber das angesagteste Theaterangebot auf dem Markt sein.