Kulturelle Bildung
Vom Zuschauer zum Teilnehmer

Neuer Zuschauer
Neuer Zuschauer | © Tóth Ridovics Máté

Lange Jahre war Krétakör um Árpád Schilling einer der bekanntesten Exportartikel der ungarischen Theaterszene. Um 2008 hängte die Truppe das herkömmliche Theater-Machen an den Nagel, um neue Wege zu gehen: Seither stehen Gemeinschaftsprojekte und für gesellschaftliche Probleme sensibilisierende Theaterarbeit sowie neuerdings auch die Theaterpädagogik im Mittelpunkt.

Der 2008 vollzogene radikale ästhetische Wandel wurde anfangs von Publikum und Fachwelt gleichermaßen mit Unverständnis aufgenommen – immerhin war Krétakör in der ersten Hälfte der 2000er Jahre auf dem Weg zum Weltruhm. Eine Zeit lang mischte sich in Kreisen der Freunde des Theaters Resignation mit Gleichgültigkeit. Bald jedoch wuchs das Interesse am neu ausgerichteten Krétakör. Warum? Weil Krétakör – das sich unter der Ägide des künstlerischen Leiters Árpád Schilling von seinem festen Ensemble, seinem ansehnlichen Repertoire und auch dem Zusatz „Theater“ in seinem Namen getrennt hatte – sich nun nicht nur seiner einstigen Ars poetica, sondern auch den Traditionen der ungarischen Theaterwelt auf aufsehenerregende Weise entgegenstellte.

Auf unausgetretenen Pfaden

Anstelle von mit prominenten Schauspielern besetzten, erfolggekrönten Aufführungen klassischer oder zeitgenössischer Dramen folgte eine ganze Reihe von riskanten Wagnissen, über deren Resonanz man im Vorfeld nur spekulieren konnte. Happening, multidisziplinäre Performance, Straßentheater, multimediales Wohnungstheater, soziale Kampagne, gemeinschaftsförderndes Programm – das wäre nur eine Auswahl aus den Gattungsbezeichnungen der Produktionen von Krétakör aus den Jahren 2008 bis 2010.

Schilling und seine abenteuerlustigen Partner – die ihn auf seinem bis dato nicht zu Ende beschrittenen Weg begleiten – haben sich konsequenterweise dem Zuschauer zugewandt: Sie fingen an, sich für die Gedanken, die Argumente, die Probleme des Zuschauers zu interessieren. Das Theater entstand fortan nicht mehr auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum – es konnte auch eine stillgelegte Zeche sein, ein Unterrichtsraum, ein Altersheim in einem Außenbezirk oder ein bekannter öffentlicher Platz. Die Wurzeln eines in den Krétakör-Projekten erfahrbaren „nützlichen Theaters“ findet man bei Bertolt Brecht: Schilling und seine Schauspieler ermuntern das Publikum zu spielerischem, gemeinsamem Handeln, bekräftigen den Eindruck des Zuschauers, dass seine Anwesenheit Sinn macht und seine Mitwirkung Gewicht hat.

Sein oder Nichtsein

Das in 2007 uraufgeführte, bislang fast zweihundert Mal gespielte hamlet.ws fasst programmatisch zusammen, was Schilling immer noch und was ihn neuerdings am Theater interessiert. In der – über Monate ausschließlich für Schüler weiterführender Schulen in Klassenräumen dargebotenen – Produktion agieren drei Schauspieler ohne Bühnenbild und Kostüm – dabei wird streng das Ziel verfolgt, den alten Text aktuell, verständlich und „durchlebbar“ erscheinen zu lassen. Neben hingebungsvoller Aufmerksamkeit wird vom Publikum stellenweise auch die Bereitschaft zu aktiver Mitwirkung verlangt.

Die beiden 2008 in Paris und 2009 in Budapest mit ähnlichen Titeln aufgeführten Stücke – A szabadulóművész apológiája (Die Apologie des Entfesselungskünstlers) – ähnelten sich kaum; der gemeinsame Nenner ergab sich daraus, wie das Krétakör-Team versuchte, die örtlichen kleinen, nicht unbedingt an Theaterbesuche gewöhnten Gemeinschaften zu „bewegen“. Im Falle der sich über zwei Monate (!) erstreckenden Budapester Performance war die Frage, ob Krétakör in der Lage sein würde, sein altes Publikum anzusprechen – oder vielmehr es in Aktivität zu versetzen. Das Experiment glückte nur bedingt: Die Reihe – die die Riten der Geburt, des Erwachsenwerdens und schließlich des Alters in den Mittelpunkt stellt – wurde von der Kritik und oft auch von den Zuschauern mit Unverständnis aufgenommen.

Klasse, aufgepasst!

Peter Brook erzählt in einer seiner Schriften, dass er auch seine wildesten Aufführungen vor jungem Publikum getestet hat. Die unerbittliche Ehrlichkeit der Teenager mag manchen erschrecken; Schilling jedoch sucht die Herausforderung: So versuchte er sich in vielfältiger Weise auf dem Gebiet theaterpädagogischer Programme und kooperierte dabei auch mit Werkstätten wie Káva Kulturális Műhely (Káva Kulturwerkstatt) oder Kerekasztal Színházi Nevelési Központ (Theaterpädagogisches Zentrum „Runder Tisch“), die in Ungarn über eine große Tradition verfügen.

Das 2009 im schulischen Milieu realisierte Projekt Akadályverseny (Hürdenlauf) drehte sich um die Möglichkeiten der Freiheit: Die teilnehmenden Schüler „spielten sich selbst“, mussten aber – um auf bestimmte Ereignisse reagieren zu können – von Zeit zu Zeit auch in die Rollen von Eltern oder Lehrern schlüpfen. Und im Hintergrund standen – unausgesprochen – Fragen von großer Tragweite: Kann Schule heutzutage so funktionieren, dass alle an einem Strang ziehen? Kann sie sich auch für die Schüler zu einer Herzensangelegenheit entwickeln?

In Mobil (Mobiltelefon) diskutieren die Teilnehmer den Fall eines Schülers, der mit seinem Handy heimlich ein peinliches Foto von einem Lehrer geschossen und dies anschließend in einem sozialen Netzwerk geteilt hat. Realität und Fiktion, der Kosmos des Klassenraums und die Außenwelt verschmelzen miteinander, wenn die Jugendlichen – welche unterschiedliche Rollen übernehmen und den Verlauf des Spiels fortwährend gestalten – die Konsequenzen ihrer Entscheidungen abwägen und sich darüber Gedanken machen müssen, welche moralischen Imperative unser bzw. ihr Leben prägen.

Regisseur auf der Schulbank

Die soeben kurz vorgestellten Programme stützten sich allesamt auf die Methodik des Theatre in Education (TIE); sie wurden realisiert unter aktiver Mitwirkung von Schauspieler-Dramapädagogen und konzentrierten sich in erster Linie auf Schüler. Schilling reizte es jedoch auszuprobieren, was passieren würde, wenn man nicht dreißig Schüler, sondern – zum Beispiel – dreihundert Erwachsene in diese Art des Denkens einzuführen versucht. Wie er in einem Interview erzählt, ist er noch lange nicht zufrieden mit dem auf diesem Gebiet Erreichten: Er befände sich in einem Lernprozess, sei noch auf der Suche nach geeigneten Methoden und Mitteln, rechne dabei aber auch mit der Offenheit und dem Interesse der Theaterfachwelt und des Publikums.

Die spannendste Unternehmung aus dieser Phase war das im Sommer 2010 in zwei ostungarischen Dörfern – in Ároktő und Szomolya, in beiden Ortschaften herrscht tiefe Armut – aufgeführte Programm Új néző (Neuer Zuschauer). Die von den Medien vereinfachend als „Roma-Programm“ charakterisierte große Reihe bot Menschen, die noch nie ein Theater besucht hatten, Möglichkeiten zur Meinungsbildung und zur aktiven Teilnahme. Die mit einfachen, aber wirksamen dramaturgischen Mitteln aufgebaute Aufführungsreihe thematisierte die alltäglichen örtlichen Konflikte und Spannungen etwa um Wohnungskredite, Arbeitslosigkeit oder Geldknappheit; die Zuschauer/Teilnehmer konnten an den Aufführungen partizipieren, indem sie sie immer wieder kommentierten und unterbrachen.

Die gattungsübergreifende Produktion A papnő (Die Priesterin), der letzte Teil der Krízis-Trilogie (Krise-Trilogie), ist ein (auch) an erwachsene Zuschauer gerichtetes theaterpädagogisches Projekt. Es wurde 2011 in Prag, München und Budapest aufgeführt und ist als das erste wirkliche Großprojekt der neuen Krétakör-Ära zu betrachten. Gemäß seiner alten Gewohnheit skizzierte Schilling hier eine modellartige Ausgangssituation: Eine erfolgreiche Schauspielerin aus der Hauptstadt verschlägt es in ein Dorf in Siebenbürgen, wo sie als Dramapädagogin arbeiten soll; dort prallen [Die Priesterin, ©Tóth Ridovics Máté] die altväterlich-konservativen Ansichten der Dörfler auf ihre liberale Geisteshaltung. Immer wieder stellt Schilling die Zuschauer – und Dutzende Schüler aus Siebenbürgen, die an der Aufführung teilnehmen – vor verschiedene Auswahlmöglichkeiten und lässt sie so das Theaterstück „mitbestimmen“.

Staatsbürgerschaftskunde

In den vergangenen zwei Jahren sind die Aktivitäten von Krétakör so gut wie „unsichtbar“ geworden. Das bedeutet, dass man bestrebt ist, weniger Projekte zu starten, sich dafür aber für längere Zeit mit einem Vorhaben zu beschäftigen, sich um die Nachbereitung zu kümmern und die eigene Arbeit bezüglich ihrer länger- und kürzerfristigen Wirkung zu evaluieren. 2013 begann das im Herbst 2014 schon ins zweite Spieljahr startende Projekt Szabadiskola (Freie Schule), in dessen Rahmen Krétakör fünfzig Schüler weiterführender Schulen aus vier Ländern dazu ermutigte, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, sich eine Meinung über gesellschaftlich relevante Themen zu bilden – und hierfür auch eine geeignete Form der Äußerung zu finden. Lebhafte Impulse hierzu gab bereits die – 2013 von Krétakör und Kerekasztal Színházi Nevelési Központ gemeinsam initiierte – Reihe Vitaszínház (Diskussionstheater), die die Sensibilität für Demokratie anregen sollte.

Das Ziel ist also nach wie vor die „Bildung“ der – zu unterschiedlichen Altersklassen und gesellschaftlichen Milieus gehörenden – Zuschauer: Das neue Krétakör sieht sein ideales Publikum in Bürgern, die verantwortungsvoll zu denken vermögen, sich den grundlegenden Werten der westlichen Demokratie verbunden fühlen sowie in der Lage sind zu diskutieren und zu argumentieren. Ob das Ziel erreicht wird, liegt nur an uns.