Theaterpädagogik
„Der fehlende Tischnachbar“ – Pädagogik und Performativität

Der fehlende Tischnachbar
Der fehlende Tischnachbar | © Káva Kulturális Műhely

Auf den ersten Blick erscheint es naiv, wenn nicht sogar auf gefährliche Weise manipulativ, dem Theater heutzutage Erziehungs- und Unterrichtsfunktionen zuzuschreiben. Während nämlich herausragende Künstler der europäischen Theatergeschichte bestrebt waren, die Wirkung einer Aufführung im Kontext einer wie auch immer beschaffenen pädagogischen und/oder politischen Zielgerichtetheit zu definieren, gibt es in der Theaterwissenschaft der letzten zwei Jahrzehnte einen Konsens über die Erkenntnis, dass der Ausgang performativer Prozesse nicht in vollem Ausmaß planbar sei. Deshalb kann die Wirkung einer Aufführung niemals identisch sein damit, was ihre Schöpfer mit ihr zum Ausdruck bringen wollen.

Das heißt nicht automatisch, dass die Unberechenbarkeit und Unbeherrschbarkeit eines Theaterereignisses der Zielgerichtetheit erzieherischer Absichten unversöhnlich gegenüberstehen. Folgen wir nämlich dem Grundsatz der kritischen Erziehungswissenschaft, so dient der Unterricht nicht allein der Wissensvermittlung, sondern stellt einen dialogischen Prozess dar. Genau das ist der Ansatz der an Schulkinder und Jugendliche gerichteten, angewandten Theaterprogramme, die nicht die bestehenden Institutionen der Theaterlandschaft mit Zuschauernachwuchs versorgen möchten, sondern vielmehr bemüht sind, theatrale Prozesse als Erziehungsmittel zu nutzen, um die Fähigkeit zur aktiven Partizipation an der Gesellschaft zu fördern. In Ungarn hat die Theatererziehung eine Tradition von mehr als zwei Jahrzehnten. Einer der Protagonisten auf diesem Gebiet ist die seit 1996 aktive Kulturwerkstatt Káva, in deren Tätigkeit sich künstlerische und pädagogische Aspekte untrennbar vereinen. Sinnigerweise nennen die Káva-Mitarbeiter die von ihnen angestrebte Theaterform „Das Theater der Teilnehmenden“ (A Résztvevő Színháza – abgekürzt: ARS). Für ihre Arbeit suchen sie sich Probleme bestimmter Altersklassen oder auch gesellschaftliche Konflikte aus, deren oberflächliche und stereotype Betrachtung zwar den öffentlichen Diskurs dominiert, die jedoch kaum eine echte Chance haben, im Rahmen eines wahrhaftigen Dialogs behandelt zu werden, der über die monomane Wiederholung der unvereinbaren Standpunkte hinausgehen würde.

Eine der neuesten Aufführungen des Partizipationstheaters Káva – A hiányzó padtárs (Der fehlende Tischnachbar) – kreist um das Problem der systematischen Selektion in der Schule. Es sollen nicht einzelne Aspekte einer Problematik im Allgemeinen behandelt werden, es geht hier vielmehr um Episoden aus den Lebensgeschichten der mitwirkenden Jugendlichen (Roland Bangó, Amália Beri, Melinda Csatlós, Richárd Cafu Kovács, Attila Varga), die mit Mitteln des Forumtheaters dramatisiert werden, um bei den Zuschauern eine persönliche Betroffenheit zu erreichen. Wie ein Stationendrama entfaltet sich die schulische Karriere von Attila vor unseren Augen. Schon in der (in diesem Fall acht Klassenstufen zählenden) Grundschule wollte er in eine aus jeder Hinsicht vorteilhafter ausgerichtete Klasse wechseln, was jedoch durch den Widerstand seiner ihn sanft bevormundenden Lehrer vereitelt wurde. Gemäß seinen Interessen und Fähigkeiten möchte er gerne auf das Gymnasium. Aus seiner jetzigen Klasse aber führt sein Weg auf eine weiterführende Schule, die einem zwar im Prinzip Abitur und eine Berufsausbildung sichern sollte, was aber regelmäßig am Niveau der dortigen „pädagogischen Arbeit“ scheitert. Somit wird sich Attilas Traum von Abitur und Studium mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfüllen.

Der fehlende Tischnachbar (trailer)

Wie geknebelt zappelt Attila in einem System, dessen Funktionsprinzip er als Kind nicht durchschauen kann, und die Erwachsenen in seiner Umgebung erweisen sich nicht als kompetent helfende Vertreter seiner Interessen. Zwar ermutigen ihn seine Eltern liebevoll, sind aber – zumal sie selbst nur über einen Grundschulabschluss verfügen – nicht in der Lage, den Unterschied zwischen den beiden weiterführenden Schulformen richtig einzuschätzen. Seine sich auf dominante Weise väterlich gebärdenden Lehrer scheuen den Konflikt und sind nicht bereit, im Interesse seiner Zukunft ein Risiko einzugehen; stattdessen möchten sie ihn lieber auf einer Bahn sehen, die – wie sie meinen – durch „seine Begabung und seine Fähigkeiten“, sprich durch seinen soziokulturellen Status „vorgeprägt“ sei. Das Schulsystem erweist sich als dysfunktional auch bezüglich seiner Aufgabe, Wissen zu vermitteln, die Schüler zu fördern und zu unterstützen. Anstatt ihn zu unterrichten, erwartet man von Attila als Voraussetzung für den Klassenwechsel, den Wissensstoff der anderen Klasse aus dem Stegreif zu beherrschen, und auch im Beratungsgespräch stellt man ihm Fragen – gleich zu Anfang z.B.: „Bist du reif genug für dein Alter?“ –, deren richtige Beantwortung den Besuch einer Beratungsstelle eigentlich überflüssig machen würde.

Es ist aber alles andere als leicht, fundierte Entscheidungen zu treffen und auch den Folgen Rechnung zu tragen – wie der Zuschauer während der Szenen, in denen sich die Aufführung (gemäß der Theatertradition von Augusto Boal) in ein Diskussionsforum verwandelt, selbst erfahren kann. Mal benötigen die Schüler unseren Rat zur Bewältigung von Konflikten mit ihren Lehrern, die bisweilen in Revolte umzuschlagen drohen und auf die Unfähigkeit zu einem Dialog zurückzuführen sind, die wiederum aus negativen Erfahrungen und Vorurteilen resultiert (Vorsicht, unsere Argumente werden in der nächsten Szene wiederkehren!); mal müssen wir uns in der fachlich und existenziell prekären Lage des Lehrerkollegiums verantwortungsvoll behaupten. Einer der größten Vorzüge der Aufführungen von Káva ist, dass sie die Konflikte nie schwarz-weiß zeichnen, sondern die „Wahrheiten“ beider Seiten auffächern und somit Raum für Zwischentöne lassen. Das Ziel ist nicht das Herausarbeiten einer von beiden Seiten als richtig empfundenen, konsensualen Lösung, sondern die Inszenierung der Demokratie als „agonistische Konfrontation“ (Chantal Mouffe) – zumal das Medium Theater vom Wesen her viel eher geeignet ist, eine breite Palette an Gesichtspunkten aufzuzeigen als Botschaften zu übermitteln.

Die ethnische Segregation, die in der Öffentlichkeit gewöhnlich mit den Mechanismen der schulischen Selektion in Zusammenhang gebracht wird, ist in A hiányzó padtárs nur auf indirekte Weise präsent – obwohl das Zielpublikum der Aufführungen Schüler von Elitegymnasien in der Hauptstadt und der Provinz sind, die selber zwar keine Erfahrung mit Roma-Kindern in der Schule haben aber trotzdem Vorurteile gegenüber Roma hegen. Erwiesen wurde Letzteres in einer Attitüden- und Wirkungsanalyse, die Parforum Részvételi Kutatói Műhely (Parforum, Werkstatt zur Erforschung von gesellschaftlicher Partizipation) und AnBlokk Kultúra és Társadalomtudományi Egyesület (AnBlokk, Verein für Kultur und Sozialwissenschaften) als Teil des Projekts durchgeführt hatten. Inmitten all der Widrigkeiten, die Attila während der Aufführung durchlaufen muss, wird den Zuschauern gegenüber kein einziges Mal ausgesprochen, was als empirische Erfahrung von Anfang an offensichtlich ist, nämlich dass Attila – oder zumindest der seine Rolle spielende Attila Varga, wie auch alle anderen jungen Darsteller der Produktion – Rom ist. Das ist ein wichtiger Umstand, zumal es so dem Zuschauer überlassen wird, über die Fragen zu befinden und zu diskutieren, inwieweit der Verlauf der Dinge durch falsche individuelle Entscheidungen und institutionelle Zwänge bestimmt wird, und in welchem Maße diese von latentem oder offenem Rassismus durchtränkt sind. Zum anderen wird durch die Teilnahme der zur Roma-Minderheit gehörenden Darsteller die Präsenz der Roma im Theater signifikant erhöht. Auch aus ästhetischer Sicht ist das eine nicht zu vernachlässigende Errungenschaft in einem Land, in dessen vorherrschendem bürgerlichen Theaterparadigma die Roma nicht einmal als Thema, geschweige denn als aktive Mitwirkende vertreten sind.