Herta Müller
Ein-Personen-Freikorps

Ein Personen Freikorps_Magazin
Herta Müller Ausstellung in Budapest | Foto: Kerekes Zoltán

Liebe Damen und Herren,
werte Leser, haben Sie sich schon einmal überlegt, warum ein Schriftsteller den Nobelpreis bekommt, und wofür?

Der aristotelischen Poetik zufolge gehören in einem wertvollen Werk das Schöne, das Gute und das Wahre zusammen.
Bekommt nun ein Schriftsteller den Preis, weil er Schönes geschrieben hat, oder weil er moralisch Richtiges, das Gute aufgezeigt hat? Oder weil er etwas Wahres gesagt hat?
Herta Müller erzählt auf der Hörbuch-CD „Die Nacht ist aus Tinte gemacht“ von ihrer Kindheit. Dass die Blumen in der Nacht woanders hingehen. Und die Möbel in der Nacht irgendwohin gehen. An anderer Stelle ist zu hören, das Dorf schien groß, groß war ihr Bett, groß die Kleider, und es schien, die Wolken huschen vorbei, weil sie von Gott als Strafe gejagt werden… Auf den unendlich weiten Maisfeldern im Banat fragt sich das kleine Mädchen, warum es nicht als Pflanze oder Tier geboren wurde, warum der Mensch aus einem anderen Material gemacht ist als seine Umgebung. Dass die Pflanzen sich mähen und ernten lassen, damit die Menschen sie nach ihrem Tod verdauen können.
Das ist Poesie.
Dann erwähnt sie: Sie hatte Angst, Angst vor der Unendlichkeit der Felder, das Dorf war nicht ihr Ort. Aus Verlorenheit dachte ich: hier ist nicht der richtige Ort. Sie hatte Angst vor ihrem betrunkenen Vater, sie fühlte sich verloren, alleingelassen. Ich war so oft auf mich zurückgeworfen... Ich habe mich oft im Stich gelassen gefühlt. Doch in jener Welt gehörte es sich nicht, die Angst zu zeigen. Die Ängste in der Kindheit bereiteten das Bett für die Ängste als Erwachsene.
Die Darstellung des Dorfes Nitzkydorf und die detailreiche Beschreibung des Hauses, der Möbel, der Dorfbewohner und der Gewohnheiten fesseln den Leser in jedem der Bücher von Herta Müller. Sie spürt der Unendlichkeit der Gegenstände nach. Die Wirklichkeit, der das literarische Werk entsprechen will, ist der Materialismus des Verzweifelns. In einigen späteren Gesprächen, so auch in mehreren Essays und Erzählungen (Lebensangst und Worthunger, Suhrkamp Verlag, 2012; Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich, Text+Kritik, 2002), liefert Herta Müller den Grund für diese Detailfülle: Gegenstände erinnern nicht nur an längst vergangene Zeiten und Personen, sondern auch an die Lebenden.

Wenn wir jemanden kennenlernen, mustern wir die Person dann nicht vom Scheitel bis zur Sohle? – fragt sie an einer Stelle, schauen wir uns dann nicht genau ihre Wohnung, ihr Milieu und ihre Gegenstände an? Unsere Kleider und Speisen, unser Auto und unser Hund – all das sind wir. Wir definieren uns über Gegenstände. Denn wir wählen sie aus: Gegenstände sind unsere ins äußere Material gestellten Eigenschaften. Und auch der Ort, an dem er sich (freiwillig!) aufhält, charakterisiert den Menschen. Ich glaube, auch Orte sind die Verlängerung des Menschen. (...) Orte sind auch Gegenstände. Entscheidet sich doch unser Schicksal eben daran, welchen Ort, welchen Schauplatz wir als Bühne für unser Leben wählen, mit wem, mit welchen Menschen wir uns verbunden fühlen. Einfühlsam beschreibt die Autorin ihre unverheiratet gebliebene Tante, eine Näherin, mit porzellanblauen Augen und rostbraunen Haaren. Mit spürbarem Vergnügen schildert sie ihre Alltagsgegenstände, den abgenutzten Kübel, das Magnethufeisen für die Stecknadeln, und wie gern sie ihr als heranwachsendes Mädchen beim Nähen zur Hand gegangen war. Sollte ihr die Aufnahmeprüfung am Gymnasium in der Stadt nicht gelingen, dann würde sie – so hatte sie es mit ihren Eltern vereinbart – Näherin werden. Doch die Aufnahmeprüfung glückte, und so verließ Herta Müller als erste der seit fast zweihundert Jahren im Banat ansässigen Familie für immer das Dorf. Sie denkt darüber nach, wie wir inmitten von Zufällen und Ungewissheiten unter den sich leicht abzeichnenden Schicksalen und Lebenswegen wählen. Auch der Ort, der Schauplatz, auch ein Raum ist ein Gegenstand, ja sogar auch die Leere - sagt Herta Müller.

Wenn wir an ihr mit höchsten Preisen ausgezeichnetes Buch Die Atemschaukel denken, so sind József Attilas Begriffe: das Wahre, das Wirkliche, nicht nur die Eigenschaften dieses Buches, sondern auch dessen Gegenstände. Die Mutter der Autorin war - wie viele ihrer Verwandten - fast fünf Jahre lang in ukrainischen Arbeitslagern gefangen. Der Anlass, dieses Buch zu schreiben, waren jedoch die Gespräche mit einem der bedeutendsten deutschen Dichter und einstigen Zwangsarbeiter, Oskar Pastior. (Es wäre ein gemeinsames Buch geworden, wäre Pastior 2006 nicht unerwartet verstorben.)
Wie Herta Müller schreibt – werden die Häftlinge im Lager nicht nur durch Hunger, Kälte, exzessive Arbeit, Eingeschlossenheit und Brutalität dezimiert und dahingerafft, sondern auch durch die Besitzlosigkeit von jeglichen Gegenständen. Weder die Kleidung, noch das Essgeschirr oder das Arbeitsgerät gehören dem Häftling, - nichts, gar nichts gehört ihm. Gar keinen Gegenstand besitzen: Dadurch ist man sich fast von selbst weggenommen. Ohne private Gegenstände und Rückzugsmöglichkeit ist man nicht nur ein Ich-habe-nichts, sondern ein Ich-bin-nichts. Der Mensch selber ist eine laufende Nummer, ein Gegenstand. Weil selbst die Möglichkeit des Alleinseins – hätten wir das gedacht? – ein Privileg ist. Das Gefühl der Einsamkeit und Verbannung verstärkt sich, wenn man die anderen nie, nicht einen Augenblick lang, verlassen kann.

Vielleicht muss man gerade deshalb die Schauplätze und Gegenstände im Leben eines Schriftstellers betrachten. 
Um zu erfahren, wann er was und warum hätte verlassen können oder müssen. Und wie das Wort zum Gegenstand eines Menschen wird. Weil Herta Müllers Worte faszinieren, weil sie sie sammelt. Als Kind lauscht sie den Erzählungen der Familie, hört den Alten zu, wie sie im Dialekt des Banater bzw. österreichischen Deutschen am Rande der ehemaligen Monarchie Worte und Redewendungen gebrauchen. Daheim spricht jeder Deutsch, und die Alten können vielleicht sogar Ungarisch. 
Später am Gymnasium und in der Stadt (Timişoara, Temeschwar) nimmt ihr Leben die entscheidende Wende. Anfangs ist ihr das Stadtleben zuwider, dann aber fasziniert es sie immer mehr: Die Menschen tragen dünnere, luftigere Kleidung als die Dorfbewohner; ihre an Feldwege gewöhnten Fusssohlen schmerzen am Anfang vom Asphalt; ihre Mitschüler reden schneller und mehr als es das junge Mädchen gewohnt ist. Die Sprache der Mehrheit, das Rumänische, ergießt sich über die Straßen und durchtränkt das neue Leben des heranwachsenden Mädchens. Sie lernt Rumänisch, beherrscht es ausgezeichnet – studiert an der Universität Germanistik und Rumänistik – und beginnt zu lesen.

In der obligatorischen Tischrede auf dem Ehrenbankett in Stockholm sprach Herta Müller - was in unserer Welt immer seltener wird – ihren Dank aus, dass sie ohne die jungen Dichter der Aktionsgruppe Banat, die sie in Temeschwar kennengelernt hatte: ohne sie hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben
Ja, dieser Freundeskreis und das Lernen brachte in jeder Hinsicht Veränderung in das Leben der Herta Müller – die Aneignung von Wissen, das Sprachenlernen, und dann die radikale Verneinung der familiären und geschichtlichen Vergangenheit und der Realität in Rumänien. Die Zeit der Studentenbewegung von 1968, die bis heute nachwirkt ist, fällt gerade in ihre Jahre am Gymnasium.
Herta Müller wollte ihre Eltern lieben und ehren. Doch es war schwer, einen Vater zu lieben, der auf Hochzeiten im Morgengrauen volltrunken im Chor mit den Onkeln und Nachbarn SS-Lieder sang… Als sie 18 Jahre alt ist, denkt sie unwillkürlich daran, dass ihr Vater mit 17 der SS beigetreten war. Und als sie die beiden Jugendzeiten miteinander vergleicht, muss sie einsehen: Privat anständig bleiben, bedeutet öffentlich versagen. (Die Anwendung der dünnen Straßen, in Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, Hanser, 2011) 
Ich hatte mit sechzehn, kaum in der Stadt, Gedichte von Paul Celan gelesen, ich habe sie fast nicht ausgehalten. Hier ging es um mehr als um Gedichte, denn ich musste mir beim Lesen sagen, dass ich in eine so banatschwäbische Welt geboren bin, mit einem Vater, mit Onkeln und Nachbarn, die Hitler dienten, als er Celans Eltern ermorden ließ. Der Grund für Celans Flucht aus Rumänien ist somit auch seine Angst vor meinem Vater. Und Celans Selbstmord ist das Ende dieser Flucht. Ich genierte mich vor den Gedichten, wollte mich für diesen Vater entschuldigen (....) 
Was für ein Ort, was für eine Gegenwart stand wohl Herta Müller zur Verfügung, dass sie allein mit der eigenen Familiengeschichte fertig werden konnte? 
Das Jahr ihrer Geburt, 1953, war in Rumänien noch das Jahr der Deportationen, Verhaftungen, Folter, Schauprozesse und Hinrichtungen. Nach 1956 wurden hauptsächlich Angehörige von Minderheiten, aber auch Rumänen, wegen ihrer Solidarität mit der Revolution in Ungarn zu Dutzenden ins Gefängnis geworfen. Nach dem Tod von Gh. Gheorghiu-Dej begann 1965 Ceauşescus Herrschaft. Nach anfänglichen Liberalisierungsversuchen nahm 1972 eine – zugleich nationalistische und sozialistische – Schreckensherrschaft ihren Anfang, die sich nach Osten hin öffnete und einer Kulturrevolution à la China ähnelte. Unter Berufung auf die Staatsverschuldung des Landes wurde die Heizgasmenge für Privathaushalte gesenkt. (In Rumänien sind im Winter Temperaturen von -10 bis -17 Grad und in der Region Csík gar von -30 bis - 40 Grad keine Seltenheit.) Häufig wurde die Wasser- und Stromversorgung unterbrochen, zeitweilig mangelte es an Benzin, die meisten Ambulanzfahrzeuge wurden stillgelegt, Städte mit die den Diktator verherrlichenden Parolen überzogen. Aus dem Radio dröhnten Massenlieder und Pseudovolksmusik. Eine Versammlung folgte der anderen. Aus den Geschäften waren praktisch die Lebensmittel verschwunden: Auf Zuteilung gab es 1 Hühnchen, 7 Eier, einen halben Liter Öl pro Monat und ein halbes Kilo Brot pro Tag und Person, wobei allerdings von all dem nie so viel in den Geschäften vorrätig war, dass es für alle gereicht hätte. Nächtelang standen die Menschen vor den Geschäften Schlange, wurden in ihrem Elend oft gar handgreiflich. Das Abtreibungsgesetz verpflichtete jede Frau zur Geburt von vier Kindern – egal, ob sie verheiratet oder zur Versorgung der Kinder fähig war. In Kliniken und Krankenhäusern lagen die Frauen zu zweit in rostigen Betten, mit dem Kopf neben den Füßen der anderen. Waisenhäuser waren voll mit körperlich und geistig behinderter Kindern. Presse und Buchverlage standen unter der strengen Zensur der Staatsmacht, Zeitungen durften Nachrichten nur aus einer einzigen staatlichen Quelle beziehen. Der berüchtigte Geheimdienst Securitate kontrollierte das Land in jeder Sekunde – wer nicht für Sonderleistungen zu haben war, wurde durch Erpressung zur Bespitzelung gezwungen. Es heißt, dass etwa ein Siebtel der Bevölkerung als Spitzel für den Geheimdienst arbeitete.

Wie Herta Müller schrieb, versuchte man auch sie an ihrem Arbeitsplatz anzuwerben. Da sie aber trotz aller Druckausübung nicht dazu bereit war und sie, wie schon erwähnt, einer oppositionellen Schriftstellergruppe, dem Freundeskreis Aktionsgruppe Banat, angehörte, begann man sie zu bedrohen. Sie und ihr Schriftstellergatte Richard Wagner wurden beobachtet und verfolgt, Abhörgeräte in ihrer Wohnung versteckt, ihre Briefe abgefangen. Regelmäßige Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Verhöre machten ihnen das Leben unerträglich. Einer ihrer Freunde (der Dichter und Architekt Roland Kirsch) wurde ermordet, andere wurden angeworben, wieder andere in die Emigration getrieben. Sechs Wochen nach seiner Ankunft in Deutschland beging der Dichter Rolf Bossert Selbstmord. 
Im März 1987 verließ Herta Müller Rumänien, und seither legt sie beharrlich Zeugnis von dem ab, was sie durchmachen musste. Nicht nur in Romanen und Erzählungen, sondern auch in Artikeln und Berichten – in zahlreichen Genres – beschreibt sie, was es heißt, als Mensch und als Angehöriger einer nationalen Minderheit ein Leben voller Demütigung und im Gefühl der Schutzlosigkeit zu führen. 
Hier geht es nicht um Rumänienfeindlichkeit, wie dies die bis heute andauernden, merkwürdigen Presseangriffe vermuten lassen. Das wäre billig und eines Intellektuellen unwürdig. Im Gegenteil: Herta Müller bekennt, dass die Metaphern, das Bildhafte und der Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten im Rumänischen, ihrer zweiten Muttersprache, sie immer wieder erstaunen lassen und ihre schriftstellerische Ausdrucksweise beeinflussen. Sie sei dankbar dafür, auch aus der Perspektive einer anderen Kultur auf die deutsche Literatur blicken zu können. 
An anderer Stelle spricht Herta Müller jedoch auch davon, dass Paul Celan vom Vertrauen in die Muttersprache aufs Eis geführt wurde: Die Sprache, in der der Dichter schreiben musste, war die Sprache derjenigen, die seine Mutter ermordeten. Daher ist laut Herta Müller auch die Behauptung falsch, „die Sprache sei die Heimat“ eines Schriftstellers oder Dichters. Nein. Herta Müller bekennt sich, gemeinsam mit einem Helden bei Jorge Semprun, dazu, dass nicht die Sprache, sondern was gesprochen wird, die Heimat ist. 
Auf ihr Leid antwortete Herta Müller nicht mit Gegennationalismus oder Hass, sondern mit literarischen Werken voller Erwägungen. Der namhafte englische Philosoph Bertrand Russel bemerkte dazu einmal: Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, dass die Dummen todsicher und die Intelligenten voller Zweifel sind. In ihren Werken und Interviews, immer und überall, bringt Herta Müller all das zur Sprache, und kleidet es zugleich in Worte, was sie weiß und was sie bis heute, egal wo, erlebt hat: die Unterdrückung von Minderheiten oder ethnischen Minderheiten, die Weiterbeschäftigung von Spitzeln und deren Eindringen in demokratische Länder und deren Institutionen. Sie spricht von Feigheit und Verrat. 
Als ein Ein-Personen-Freikorps kämpft sie bis heute dagegen, aus dem Menschen ein Objekt zu machen, ihn zu einem Objekt zu erniedrigen.

Der Weg, den Herta Müller vom Lesen der Paul-Celan-Gedichte bis zur Atemschaukel zurückgelegt hat, steht für die Konsequenz, mit der sie das ungleiche Verhältnis zwischen Leidensgeschichten und Freiheitsmangel, Macht und Individuum aufzeigt. Am Anfang des Weges steht die ehrliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus und den Familiengeschichten. Später tritt das Mitgefühl für die Kriegsleiden, die die Siebenbürger Sachsen und Schwaben, darunter ihre Familie, erlitten, in den Vordergrund. Herta Müller wägt die Leiden von Paul Celan und Oskar Pastior nicht gegeneinander ab, zieht zwischen ihrem Erlebten keine Parallelen, weil eine historische Sünde eine andere nicht ungeschehen macht, und eine Vernichtung eine andere nicht rechtfertigt. Ja, die Werke Herta Müllers werden im Zauber des moralisch Guten, des Wahren geboren. Schon Aristoteles sagte: …(der Dichter) erreicht durch die Nachahmung von Handelnden, die Jammer und Schaudern hervorruft, eine Reinigung von diesen Erregungszuständen. 

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Und nun betrachten Sie die Bilder, lesen Sie die Bücher! Und vergessen Sie nicht, welch ausgezeichnete Übersetzer gearbeitet haben, damit Sie alles auf Ungarisch lesen können.