Gemeindebibliotheken in neuem Gewand
Denn man braucht einen Ort…

Denn man braucht einen Ort_Magazin
Bibliothek in Nyárlőrinc | Foto: Katona József Megyei Könyvtár

In den ländlichen Gebieten Ungarns sind seit Jahrzehnten sehr wichtige Transformationsprozesse im Gange. Die Dörfer, besonders in den benachteiligten Regionen sind von Überalterung und Bevölkerungsrückgang betroffen gleichzeitig verzeichnen die prosperierenden Dörfer in den mehr entwickelten Teilen des Landes auch einen Bevölkerungszuwachs.

Ein Drittel der Bevölkerung, das sind mehr als 3,56 Millionen Menschen, leben in Gemeinden auf dem Lande. 90% der kommunalen Bibliotheken sind Gemeindebibliotheken und nur 10% Stadtbibliotheken, von denen wiederum 1% die in Budapest ansässigen Bibliotheken und die Komitatsbibliotheken ausmachen. Gleichzeitig sind die Bedingungen in den Gemeindebibliotheken am schlechtesten. So kann man getrost die Behauptung aufstellen, dass seit nunmehr 10 Jahren eine der wichtigsten Aufgaben des ungarischen Bibliothekswesens die Umstrukturierung der Bibliotheksversorgung in den kleineren Ortschaften entsprechend den zeitgemäßen Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer ist, und zwar im gesamtgesellschaftlichen Interesse.

Im Folgenden schildert Mária Ramháb, Direktorin der Katona-József-Bibliothek des Komitats Bács-Kiskun, wie in Ungarn das System zur Bibliotheksversorgung der kleinen Gemeinden funktioniert und erklärt dabei das Programm, das im Komitat Bács-Kiskun zur Reformierung der Gemeindebibliotheken umgesetzt wird.

Die Bibliotheksversorgung in ländlichen Gebieten

Die wichtigste Frage ist, wie die Landbevölkerung (vor allem Kinder und ältere Menschen) auf kulturelle Dienstleistungen zugreifen kann. Gerade die prinzipielle Erreichbarkeit für alle, die Bereitstellung der neu erschienenen Bücher und aktuellen Zeitungen, der Zugriff auf Informationen, die auf adäquaten Quellen basieren, und auf das Internet sowie die Möglichkeit, dass sich Gemeinschaften begegnen und zusammen sein können, sind die Kernaufgaben der Bibliotheken. Dafür braucht man vor allem genügend Raum, eine fachgerechte Einrichtung, neue Dokumente, moderne Computertechnik und nicht zuletzt gut ausgebildetes Bibliothekspersonal.

Die kleineren Gemeindebibliotheken sind jedoch nicht in der Lage, all das auf sich allein gestellt zu leisten. Genau aus diesem Grund hat die „Nationale Bibliotheksstrategie für die Jahre 2008-2013“ den Ausbau eines solchen modernen Systems anvisiert, innerhalb dessen die Komitatsbibliotheken - im Rahmen der mit den Kommunen getroffenen Vereinbarungen - diese Dienstleistungen zum Teil sichern, und zwar mit staatlichen Fördermitteln. 

Im Auftrag des Fachministeriums leite ich seit 2004 die Arbeitsgruppe, die das entsprechende Gesetz mit den zugehörigen Paragrafen vorbereitet und die Funktionsprinzipien der Bibliotheksversorgung ausgearbeitet hat. Zudem haben wir mehrere fachliche, methodische Anleitungen erstellt, wobei eine landesweite Vereinheitlichung der Funktionsweise des Systems angestrebt wird, natürlich mit Rücksicht auf lokale Besonderheiten. Denn natürlich besteht ein großer Unterschied zwischen der Organisation von Bibliotheksdienstleistungen einer kleinen Ortschaft in Transdanubien, die einige Hundert Einwohner zählt, und der Versorgung einer größeren Gemeinde mit 2000-3000 Einwohnern, die in der Tiefebene liegt .

Seit dem 1. Januar 2013 wird das Dienstleistungssystem zur Bibliotheksversorgung von 19 Komitatsbibliotheken in den jeweils eigenen Komitaten umgesetzt. Bis zum Ende des Jahres 2013 haben sich 2344 kleine Gemeinden der Organisation angeschlossen, womit das ganze Land abgedeckt ist.

Das Modell des Komitats Bács-Kiskun

Die Katona-József-Bibliothek des Komitats Bács-Kiskun in Kecskemét bietet neben ihren weit verzweigten Aktivitäten auf Landes-, Komitats- und Stadtebene Bibliotheksdienstleistungen für die Bewohner von insgesamt 82 Gemeinden im Komitat Bács-Kiskun an.
Als Direktorin der Komitatsbibliothek werden alle Gemeinden zunächst von mir selbst kontaktiert, wobei ich den Bürgermeister und den Notar persönlich aufsuche. Dabei ist es sehr wichtig, den „ersten Mann im Ort“ anzuhören, was er über die Bibliothek denkt, ob er Veränderungen möchte, und wenn ja, welche. Wir versuchen immer zu einer akzeptablen Lösung zu kommen, die attraktiv ist und dennoch keine unerträgliche Belastung für die Gemeinden darstellt. Natürlich besteht die wichtigste Aufgabe darin, bei der Suche nach jener Fördermittelquelle behilflich zu sein, die die Verwirklichung der Träume ermöglicht.

Im ersten Schritt muss eine ausreichend große Bibliothek zur Verfügung stehen, was auch in den kleinsten Ortschaften eine Mindestgrundfläche von 80-150m² bedeutet. Dies ist eines der am schwierigsten erfüllbaren Kriterien, da nicht immer Räumlichkeiten vorhanden sind, die man leicht erweitern kann, wobei sich oftmals mit der Herausnahme einer Wand bzw. dem Hinzufügen eines Korridorabschnitts oder einer leer geräumten Abstellkammer zur ursprünglich vorhandenen Bibliothek großartige Chancen auftun. Danach muss der Raum fachgerecht eingerichtet werden, so dass zuerst für die Gruppen unterschiedlicher Altersstufen Plätze geschaffen werden: für die Kinder unter 3 Jahren wird eine „Lese- und Spielecke“ abgetrennt, für die Kindergartenkinder werden schon kleine Tische und Stühle aufgestellt, für die Größeren und Erwachsenen Lesetische mit bequem gepolsterten Stühlen und zuletzt werden auch die speziellen Computer-Arbeitsplätze installiert. Am besten eignet sich ein speziell designtes Mobiliar, das durch Jahre lange Erfahrung von uns selbst entwickelt worden ist. Dabei ist darauf zu achten, dass die Teppiche, Jalousien und Stuhlpolster farblich aufeinander abgestimmt sind, wobei die Farben der Möbel mitberücksichtigt werden müssen. Während die Bibliothek umgestaltet und eingerichtet wird, erfolgt die Aussonderung und Einarbeitung der Bücher. Die Tischlerbrigade vor Ort wird vom Bibliothekspersonal abgelöst, das innerhalb von 1-2 Tagen den umfangreich erneuerten Bestand systematisch ordnet, die Regale beschriftet, die Informationstafeln, Bilder und Gardinen anbringt. In einem letzten Schritt nimmt der Bibliotheks-Teddybär seinen Platz ein, der auf die Einweihungsfeier wartet, um die Kleinsten als Erster begrüßen zu können. Die mit Bild versehenen Einladungen lösen bei den Eingeladenen immer große Verwunderung aus, denn sie können oft gar nicht glauben, dass auf dem Bild ihre eigene Bibliothek zu sehen ist, so groß sind die Veränderungen.

Solange eine Bibliothek nicht modernisiert worden ist, fällt es sehr schwer wirkliches Interesse bei der Bevölkerung zu wecken, so dass wir in unserem Komitat bestrebt waren, die Umgestaltungen innerhalb kürzester Zeit durchzuführen. 68 Bibliotheken konnten in den letzten Jahren übergeben werden, was mit einer riesigen Menge Arbeit verbunden war. Infolge der komplexen, allumfassenden und fachgerecht ausgeführten Umgestaltung, der Verdopplung der Bibliotheksgrundfläche, der verlängerten Öffnungszeiten und der erweiterten Dienstleistungen hat sich die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer auf das beinahe Vierfache erhöht, während sich die Zahl der ausgeliehenen Dokumente um 28% und die der vor Ort genutzten Dokumente auf das Fünffache erhöht hat.

Die Leserinnen und Leser werden zu persönlichen Bekannten

Für die Organisation der Bibliotheksversorgung der kleinen Gemeinden ist innerhalb der Komitatsbibliothek die 13 Personen starke Dienstleistungsabteilung zur Bibliotheksversorgung des Komitats Bács-Kiskun zuständig. Unsere Kollegin Aranka Bujdosó, die neben ihrer täglichen Arbeit auch als Kontaktperson des Goethe Instituts fungiert, gewährt im Folgenden Einblicke in einen Alltag, der ganz und gar nicht typisch ist für eine Bibliothekarin:

„Ein Großteil meiner Arbeit spielt sich im Hintergrund ab. Zu meinen Arbeitsgebieten zählen die Bestellung von Büchern, die Gewährleistung einer Medienversorgung der im Komitat Bács-Kiskun lebenden nationalen Minderheiten und die Teilnahme am Programm zur Bibliotheksreform im Komitat. Dies führt zwangsläufig dazu, dass ich sehr viel im Komitat unterwegs bin.
Es gibt Wochen, da sortieren wir an dem einen Tag den Bestand in der einen Ortschaft, während wir am nächsten Tag in der anderen Ortschaft schon den Bibliotheksraum einrichten und den eingearbeiteten Bestand auf die neuen Möbel packen; einen Tag darauf bestelle ich Bücher oder stelle eine Bestellliste zusammen, und am Ende der Woche können wir in der dritten Ortschaft schon die Übergabe einer Bibliothek feiern. Daneben ist der permanente Kontakt zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von 82 verschiedenen Bibliotheken aufrechtzuerhalten, da sich bei der großen Anzahl der Gemeinden immer wieder Probleme ergeben, die gelöst werden müssen.
Jede Bibliothekarin wertet es als Erfolg, wenn sie sich an der Übergabe einer ihr nahe stehenden Bibliothek beteiligen kann. Ich selbst kann schon auf mehr als 60 solcher Erlebnisse zurückblicken. Allein im Jahr 2013 übergaben wir 18 modernisierte Bibliotheken. Nach der oftmals recht harten körperlichen Arbeit ist es ein großartiges Erlebnis, wenn die Einheimischen ihre Bibliothek in Besitz nehmen. Da die Anwesenden nach dem feierlichen Durchschneiden des Bandes als Eröffnungsveranstaltung eine „Bibliothekseröffnung-Spieleparty“ erwartet, können wir die Freude der zukünftigen Leserinnen und Leser, ob Jung oder Alt, hautnah miterleben. Die Leserinnen und Leser werden zu persönlichen Bekannten, was auch unsere zukünftige Arbeit erleichtern kann, da wir ja nun wissen, für wen wir die Bücher und Zeitschriften bestellen, für wen wir Programme und Fortbildungen organisieren.“ 

Die Rolle der Bibliotheken bei der Zukunftsgestaltung des ländlichen Raumes
Damit sich in Ungarn die Chancen für die auf dem Lande lebende Bevölkerung stetig verbessern und sich kleine Gemeinschaften organisieren können, müssen die kulturellen Institutionen – und darunter in erster Linie die Bibliotheken – ihre Dienstleistungen auf der höchsten Qualitätsstufe sichern. Entscheidend ist, dass sich die Menschen informieren, dass sie offen sind für neue Erkenntnisse, den Willen haben zum Lernen und zur kontinuierlichen Wissenserweiterung, da dies die Grundlage für eine höhere Lebensqualität ist, unserem höchsten Gut.
Im Rahmen einer umfassenden kulturellen ländlichen Regionalentwicklung bemühen wir uns mit dem Errichten und dem Betreiben eines Bibliotheksnetzes, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, entsprechende Möglichkeiten anzubieten. Unser Ziel ist es, in allen kleinen Gemeinden, deren Einwohnerzahl unter 5000 liegt und die sich der Dienstleistungsgemeinschaft anschließen möchten, den Ausbau bzw. die Modernisierung des Systems bis Ende des Jahres 2015 abschließen zu können.