Krimis in Ungarn
Die Ungarn lesen angelsächsische Krimis

Die Ungarn lesen angelsächsische Krimis_Magazin
Krimis in der Buchhandlung | Foto: Hernád Géza

Der deutsche Kriminalroman ist in Ungarn nur sporadisch präsent, von den bisherigen 50 Trägerinnen und Trägern des Deutschen Krimi-Preises sind nicht einmal zehn auf Ungarisch zu lesen. Das Publikum fragt gewöhnlich nach den klassischen Whodunit-Krimis [1] und den großen alten Autoren aus dem angelsächsischen Raum. Die Verlage gehen nur ungern Risiken ein, obwohl die neuen Vertreter der Gattung aus den letzten Jahren auch in Ungarn durchaus ihre Anhänger finden.

Studiert man die Verkaufsstatistiken des internationalen Buchmarktes, hat man im ersten Augenblick den Eindruck: Der zeitgenössische Kriminalroman war in den letzten Jahren mit Stieg Larsson und dem skandinavischen Krimi identisch. Der Fernsehsender BBC suchte in einem einstündigen Dokumentarfilm mit dem Titel Nordic Noir das Erfolgsrezept nordischer Krimiautoren (neben Larsson gehören Jo Nesbø, Henning Mankell, Arnaldur Indriðason und noch andere zu ihnen) zu entschlüsseln, und auf die Liste der 50 größten Krimiautoren aller Zeiten, die vom Times Magazin zusammengestellt wurde, schafften es gleich vier skandinavische Autoren.

Am Anfang des 21. Jahrhunderts erlebte die Gattung eine überraschende inhaltliche und stilistische Erneuerung. Die dramaturgischen Grundregeln änderten sich zwar nicht in der Art und Weise des Erzählens und im Milieu der Erzählungen, jedoch kam es zu einigen Neuerungen: In Tim Davys’ Amberville (2008) zum Beispiel sind es Plüschtiere, die nach dem Leben anderer Plüschtiere trachten. Im Roman der jungen deutschen Autorin Leonie Swann (Glennkill, 2005), hingegen sucht eine Schafherde nach dem Mörder ihres Hirten. 

Noch auffälliger war die Erscheinung, dass Autoren von Kriminalromanen immer neuere exotische Schauplätze und historische Epochen für ihre blutigen Geschichten aussuchten. Somit überrascht keinen mehr, wenn mysteriöse Verbrechen in Augsburger und Frankfurter Dampfbädern des 16. Jahrhunderts statt in den dunklen Gassen von Großstädten begangen werden (Wilfried Horwege: Tod im Badehaus, 1999)

Krimi als WochenendlektüreObwohl der Buchhandel in Ungarn auf internationale Trends und Modeerscheinungen meist schnell reagiert, ist bei den Krimis nach wie vor ausschlaggebend, dass das ungarische Publikum sich traditionell für angelsächsische Autoren bzw. einige Klassiker interessiert. Ein bedeutender Teil der Leser bevorzugt Krimis, die durch logische Schlüsse erschließbare Lösungen bieten. Sie erwarten von den Geschichten vor allem Denkrätsel und keine Action, eine leichte Wochenendlektüre und kein mit literarischen Anspielungen durchwobenes Gesellschafts- oder Zeittableau.

Da das Geschäft mit Kriminalromanen seine spezifischen Risiken hat, und da die ungarischen Verlage ausgesprochen risikoscheu sind, wollen nur wenige unter ihnen neue Wege betreten. Während nach der Wende eine Reihe von Verlagen daran ging, die Werke von Agatha Christie, Georges Simenon, Raymond Chandler, Arthur Conan Doyle und Dashiell Hammet in Neuauflagen zu vermarkten, sind nur wenige bereit, neue Autoren, und seien sie in ihrer Heimat noch so erfolgreich, auf dem Markt einzuführen.

Krimis – ein riskantes Geschäft

Man braucht eben Zeit, Geld und Energie, um eine Detektivfigur bekannt zu machen. Eine Serie muss intensiv beworben werden, damit sie auch finanziell zum Erfolg wird. Der Leser jedoch, dem die Hauptfigur und ihre Geschichten bereits im ersten Band ans Herz wuchsen, möchte die Fortsetzung bereits in wenigen Monaten haben, und er ist empört, falls der Verlag den Druck des nächsten Band nicht riskiert, weil sich der erste nicht gut genug verkaufte. Dadurch können sich Verlage treue Leser zu tödlichen Feinden machen. Auch halten sich die Verlage oft gar nicht an die ursprüngliche Reihenfolge, sondern beginnen gleich mit dem „Highlight” in der Hoffnung, sie können den Autor auf diese Weise leichter einführen. Es gab auch Fälle, wo die schlechte Übersetzung alle Hoffnungen auf ein erfolgreiches Debüt scheitern ließ. In Ungarn galten selbst so populäre Autorinnen und Autoren wie Patricia Cornwell, Tess Gerritsen oder John Le Carré bis in die jüngste Zeit als riskant. So gibt es auch in Ungarn keinen Verlag, der sich, wie Diogenes oder der Unionsverlag in Deutschland, ausgesprochen auf Krimis spezialisiert hätte. 

Agavé-Könyvek bildet da insofern eine Ausnahme, als die Kriminalliteratur einen sehr markanten Teil im Programm des Verlags bildet. Etwa die Hälfte der Agavé-Bücher sind Krimis, während dieser Anteil in anderen erfolgreichen Verlagen, zum Beispiel beim Animus-Könyvkiadó (Verleger der Millenniums-Trilogie) oder beim Scolar-Kiadó (der ungarische Verleger von Wolf Haas) nur 15 bis 20 Prozent ausmacht – letzterer beschränkt zudem sein Angebot auf ein bis zwei Autoren. Der Verlag Agavé Könyvek setzt sich auch explizit zum Ziel, international erfolgreiche, in Ungarn jedoch bis jetzt nicht publizierte Krimiautoren bekannt zu machen. „Vor zwanzig Jahren wäre es noch unvorstellbar gewesen, aber die Leser von heute wissen bereits, wer Matthew Scudder, Patrick Kenzie oder eben Gordianus sind (Hauptfiguren in den Büchern von Lawrence Block, Dennis Lehane und Steven Saylor – Anmerkung des Autors)”, bringt Bálint Varga, Geschäftsführer von Agavé Könyvek, die Entwicklung auf den Punkt.

Hie und da ein deutscher Krimi

Der deutsche Kriminalroman ist in Ungarn nur sporadisch präsent. Von den Trägerinnen und Trägern des 1985 gegründeten und seitdem jährlich vergebenen Deutschen Krimi-Preis liegen nur einige auf Ungarisch vor, und selbst bei diesen kamen die Ausgaben nach dem ersten oder zweiten Band ins Stocken. Ein typisches Beispiel: Der Autor der Kayankaya-Detektivromane, Jakob Arjouni, konnte sich mit seinen Büchern auf dem ungarischen Markt nicht behaupten. Der Helikon Verlag erblickte eben mehr Fantasie in Büchern, die die Verantwortung für die Verbrechen Nazideutschlands (Hausaufgaben, ungarisch Lecke) oder die Folgen des Terrorangriffs vom 11. September 2001 (Chez Max, ungarisch Chez Max – Vacsorázz Max-nál Párizsban) literarisch thematisierten, als in den Ermittlungen eines türkischen Kommissars in Deutschland. Aus Oliver Bottinis Louise-Boni-Serie sind ebenfalls nur zwei Bände (Gyilkosok nyara, Gyilkosság a Zen jegyében) auf Ungarisch zugänglich.

Als erfreuliche Ausnahmen könnte man Frank Schätzing nennen, dessen wissenschaftlich-fantastische Thriller auf Ungarisch beim Athenaeum-2000-Verlag erscheinen, sowie den Österreicher Wolf Haas mit seinen von Sprachwitz strotzenden Brenner-Romanen. Die siebenteilige Serie wird in Ungarn vom Scolar-Verlag herausgegeben, der fünfte Band (Wie die Tiere, ungarisch Mint az állatok) kam im Frühjahr 2011 heraus. Die ungarische Rezeption der deutschen Kriminalliteratur wird auch dadurch stark beeinträchtigt, dass direkte Informationen über den deutschen Buchmarkt nur spärlich nach Ungarn gelangen. Dadurch treffen die ungarischen Verlage ihre Entscheidungen meist nicht aufgrund der Erfolge in Deutschland, sondern unter dem Eindruck des positiven internationalen Echos. Es kann auch sehr nützlich sein, wenn der Übersetzer oder der Lektor des jeweiligen Buches sich persönlich für die Herausgabe einsetzen, und der Verlag sich um eine Übersetzungsförderung bemüht.
 

Kriminalliteratur hinter dem Eisernen Vorhang

In den 1950er-Jahren wurden in Ungarn, ähnlich wie in anderen Ländern des Ostblocks, keine Detektivgeschichten gedruckt, die Gattung verschwand für fast anderthalb Jahrzehnte aus dem Programm der Verlage. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre konnte dann der Krimi eine bis dahin unbekannte Beliebtheit erlangen, nachdem zwei inzwischen legendäre Buchreihen gestartet wurden.

Durch die Albatrosz-Bücher des Magvető-Verlages und die Fekete Zsebkönyvek-("Schwarze Taschenbücher") des Európa-Verlages konnte das ungarische Lesepublikum die besten Werke der internationalen Kriminalliteratur kennenlernen. Nicht selten waren renommierte Autoren verantwortlich für die Übersetzungen, und die Verlage finanzierten durch diese Reihen andere, schwer verkäufliche Titel ihres Programms. In den 1980er-Jahren sind dann die Rakéta Romanhefte (Rakéta Regényújság) zur Bibel der Krimifans geworden: Die Zeitschrift stellte regelmäßig die Neuheiten der internationalen Kriminalliteratur vor. Die Edition im Heftformat erinnerte an die Pionierzeit des Detektivromans im England und in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts. Nach der Wende versuchten mehrere Verlage den Erfolg der Albatrosz- und Fekete-Zsebkönyvek-Reihe zu wiederholen, das Kunststück jedoch gelang niemandem mehr. Einzelexemplare der beiden Reihen hingegen blieben bis in die 2000er-Jahre gesuchte Sammlerstücke.

[1] Whodunit steht für Who`s done it? (Wer hat es getan? Wer war`s?) Der Whodunit Krimi wird auch Rätselkrimi, Landhauskrimi oder Cozy genannt.