Ágnes Heller im Gespräch
„Ein Problem lässt einen einfach nicht schlafen, man muss sich mit ihm auseinandersetzten“

Ein Problem_Magazin
Ágnes Heller | Foto: Juhász Tamás

Ausschnitt aus dem Gespräch mit Universitätsprofessor Béla Bacsó, Leiter des Instituts für Ästhetik an der Universität ELTE, für die Universitätszeitschrift „Trefort-kert” im Sommer 2009 anlässlich der Ernennung von Àgnes Heller zur „Emerita”

Mit der Ernennung zur „Emerita” bist du wieder an dem Ort, an dem du deine Laufbahn begonnen hast. Es lohnt sich nicht, einen Bogen vom Anfang bis zur Gegenwart zu spannen, meine erste Frage bezieht sich trotzdem darauf, wie du die Lage der Universitäten und der Philosophie in der heutigen Welt siehst. 

In erster Linie möchte ich betonen, dass mich diese Ernennung sehr freut. Ich immatrikulierte mich 1947 an der damaligen Péter Pázmány Universität, ich studierte Ungarisch und Philosophie. Kurze Zeit danach wurde ich Assistentin. Von 1958 an, als ich durch ein Disziplinarverfahren wegen meiner angeblichen gegenrevolutionären Einstellung suspendiert wurde, durfte ich bis 1989 keinen Fuß mehr in die Universität setzen. Und nun sind wir da, die Universität und ich. Ende gut, alles gut. 

Die Situation der Universitäten ist weltweit unterschiedlich, es gibt jedoch gemeinsame Tendenzen und Probleme, mit denen ich auch persönlich konfrontiert war. Ich würde die akademische Ausbildung für den Erwerb eines Diploms streng von den sogenannten Abenduniversitäten trennen. In Amerika – dort lebte ich lange Zeit – gibt es einen sehr großen Hunger nach Philosophie. Die Philosophiekurse am Abend, für die man – oft gar nicht wenig – zahlen muss, sind voll mit älteren Studenten und Geschäftsleuten, Anwälten, Händlern, Warenhausverkäufern, die einen Nietzsche-, Foucault- oder Heidegger-Kurs besuchen oder Lehrgänge über Logik und das griechische Denken absolvieren, weil sie „ihrem Leben einen Sinn geben” wollen. Meistens kommen sie nach der Arbeit müde zum Unterricht und verlassen ihn glücklich. Nun, diesen Hunger kann man auf verschiedene Art und Weise befriedigen. Er kann von hervorragenden Philosophen gestillt werden, die die philosophischen Gedanken, ohne sie zu vereinfachen, in eine verständliche Sprache übersetzen, die für jeden, der Hunger nach geistiger Nahrung hat, zugänglich ist. Oder er kann von Dilettanten befriedigt werden.

An den Universitäten, die Diplome erteilen, müssen wir zwischen den philosophischen Fakultäten und den anderen – naturwissenschaftlichen, medizinischen u. a. – Fakultäten unterscheiden. An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten wird besonderes Augenmerk auf die Philosophie gelegt, das gehört zur Tradition. An anderen Fakultäten wird Philosophie nicht immer unterrichtet, das ist von Land zu Land, von Universität zu Universität verschieden. 

Wie siehst du die Lage des Philosophieunterrichts in Ungarn im Vergleich zu anderen Ländern?

Die Akzeptanz des Philosophieunterrichts ist in jenen Ländern größer, in denen bereits in der Mittelschule Philosophie gelehrt wird, wie zum Beispiel in den italienischen Gymnasien. Vieles, wenngleich nicht alles, liegt am Niveau des Unterrichts. Ungarn hat keine mit Westeuropa oder Amerika vergleichbare Tradition in der Philosophie. Am Anfang des letzten Jahrhunderts wurde Philosophie als etwas „Deutsches, Abstraktes” betrachtet, das dem ungarischen Denken fremd war. Heute können wir auf unsere ausgezeichneten, interessanten, selbstständig denkenden Philosophen richtig stolz sein. Wir haben gute Leute; mit dieser erfreulichen Veränderung hat die öffentliche Meinung jedoch nicht Schritt gehalten. Selbst für die hervorragendsten Philosophiebücher kann man manchmal keine Leser finden. Die Universitäten und die Mittelschulen hätten die Aufgabe, eine neue, „geisteshungrige” Leserschaft zu erziehen. 

In letzter Zeit hast du mehrere Werke zum Thema Ästhetik verfasst – Shakespeare-Analysen Komödien, „Die Theorie des historischen Romans“. Können wir dies als eine prägnante ästhetische Wende in deinem Lebenswerk bezeichnen, und wenn ja, was ist der Grund dafür?

Es gibt tatsächlich eine „ästhetische Wende”; neben den erwähnten Werken würde ich auch meine die Bibel analysierenden Bücher dazu zählen. Meine sogenannten „Themen“ – wenn es solche gibt, was ich jedoch sehr bezweifle – sind nicht ganz neu, sie sind jedoch erst jetzt ins Zentrum meines Denkens gerückt. Der Autor ist immer der letzte, der seine Themenwahl begründen kann, denn dieser Prozess ist meistens spontan. Ein Problem lässt einen einfach nicht schlafen, man muss sich mit ihm auseinandersetzen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich wollte etwas Neues beginnen. Ich hatte das Gefühl, alles, was ich Neues über Ethik oder Geschichtsphilosophie sagen kann, bereits gesagt zu haben, und in meinen Büchern – im Unterrichten geht es sowieso nicht anders – möchte ich mich nicht wiederholen. Ich möchte Bücher schreiben, an deren Anfang ich das Ende noch nicht klar sehen kann, das Thema verwandelt sich während des Schreibens und wirkt auch auf mich zurück. Die erwähnten Bücher, in erster Linie das über die Komödie, gehören auch dazu. 

Schließlich eine Frage, die keinen Gegenstand hat, aber dir die Möglichkeit bietet, über etwas zu reden, das auf dem Spielfeld der Bildung und der Wissenschaft für dich von außerordentlicher Bedeutung ist. 

Das Wichtigste ist – nicht bloß für mich – der Auftritt neuer origineller Denker auf der Bühne der Wissenschaft. Dies ist besonders wichtig für die Philosophie auf der ganzen Welt, da eine alte, „große” Generation vom Aussterben bedroht ist, und Nachkommen zurzeit nicht in Sicht sind. Die in wissenschaftlichen Teams durchgeführte Forschung scheint in den Naturwissenschaften produktiv zu sein, nicht jedoch in den Humanwissenschaften. Hier haben das Individuum, die einmalige Persönlichkeit nicht ihre bestimmende Rolle verloren. Wie kann man den Geist der Selbstständigkeit, der Offenheit für Experimente, des Engagements fürs Neue in den Humanwissenschaften nähren? So, wie wir langsam lernten, den gleichen Geist in der Musik oder in den Bildenden Künsten zu nähren? Es wäre gut, darüber nachzudenken, unter anderem in der akademischen Ausbildung.