Ruinenkneipen in Budapest
Szimpla Stories!

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Szimpla | Foto: Hernád Géza

In den Innenhöfen und einstigen Wohnungen alter Mietshäuser tobt das Budapester Kneipenleben. Eine Art Schwanengesang der maroden Gebäude – vor ihrem unwiderruflichen Abriss.

Tritt man in die typischen Innenhöfe der Mietshäuser, unter die zu Lampen umfunktionierten Plastikeimerchen, bietet sich ein immer gleiches Bild. Egal in welche Ruinenkneipe man geht, überall herrscht reges Getümmel. Unter den bei Entrümpelungen zusammengesammelten Einrichtungsgegenständen findet man kaum zwei identische, die Stühle wurden bunt angestrichen, an der Theke steht man an, um Würstchen zu kaufen, im muffigen Keller ist ein DJ zu Gange und ein paar Leute tanzen.

Ruinenkneipen findet man fast ausschließlich in den Innenbezirken Budapests. Die meisten befinden sich im VII. Bezirk – dem einstigen Judenviertel –, aber auch im VI. und VIII. trifft man hier und da auf eine solche Gartenkneipe. Dieses Phänomen beschränkt sich eher auf die Pester Seite der Stadt, obwohl es auch in Buda derartige Versuche gab, allerdings waren diese von eher kurzer Lebensdauer, derzeit ist nur eine einzige Ruinenkneipe in Buda bekannt, die Szezon.

Die erste Schwalbe

Es ist nicht überliefert, wer diese einen Sommer lang bestehenden „Biergärten“ zuerst Ruinenkneipen nannte. An die erste Schwalbe aber erinnern sich viele: Im Herbst 2001 gründeten vier – in Geschäftsdingen eher weniger bewanderte – Geisteswissenschaftler aus einer spontanen Idee heraus das 

Szimpla (deutsch: simpel, einfach) in der Kertész utca. Ein Jahr später folgte die Sommerdependance, der im Hinterhof der Kazinczy utca 25 eröffnete Szimpla Garten. „Wir wollten eine Kneipe, aus der wir nach Hause gehen, wann wir wollen“ - erzählt Márk Gauder, einer der Gründer, über die Anfänge. Die Nachricht über die neu eröffnete Kneipe in der Kazinczy utca verbreitete sich zu Beginn über Mundpropaganda: Hier versammelten sich Neo-Hippies, Biker, Leute aus der urbanen Subkultur, dann kamen die Touristen, letztendlich traf sich halb Budapest an diesem Ort. 

Aus der Idee wurde schon bald ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Jeden Sommer entstanden neue und neue Szimpla-Clone im VII. Bezirk, die Ruinenkneipen verloren ihren Undergroundcharakter, aber die einzigartige Atmosphäre ist geblieben, und eben diese macht die Ruinenkneipen zu den besten Lokalitäten von Budapest. Seit einigen Jahren sind die Ruinenkneipen auch zum Exportartikel geworden: In Berlin, der Stadt, aus der die Idee eigentlich stammt, wurde ein Szimpla eröffnet. 

Was macht sie so attraktiv?

„Das Gemütliche” – antwortet Ádám Hatvani, Architekt des Zeitgenössischen Architekturzentrums (KÉK). Er fügt hinzu: „Darüber hinaus sind sie billig, witzig und in gewissem Maße individuell, obwohl sich alle Ruinenkneipen irgendwie ähneln”.

Viele halten Ruinenkneipen für eine ungarische Spezialität (Hungaricum) aber dem Ökonomen Balázs Édes zufolge sind sie es schon deshalb nicht, weil im Zuge der Hippie-Welle in den 70er Jahren zahlreiche ähnliche Lokalitäten entstanden sind. Und das auf Wiederverwertung, Öko- und Retroaspekte ausgerichtete Design dieser Kneipen passt sich harmonisch den aktuellen Trends weltweit an. 

Dieser Hype geht soweit, dass die Ruinenkneipen sogar in dem von Rucksacktouristen als Bibel verehrten Lonely Planet Erwähnung finden. Erfindungsreiche Unternehmer organisieren gar besondere Ruinenkneipen-Touren – in dem Wissen, dass man selbst in einem gemütlichen Tempo in der Lage ist, sich in einer Nacht durch fünf-sechs Lokale zu trinken. In den Reiseführern werden die Ruinenkneipen als Kert’s (Gärten), Biergarten, ruin pubs erwähnt; im Szimpla hört man heutzutage mehr Fremdsprachen als Ungarisch.

„Wenn man es als Tourist betrachtet, ist dieses Viertel die Innenstadt, die Váci utca dagegen nicht mehr. Früher war dieses mit den im Verfall begriffenen Ruinenkneipen verbundene Feeling auch in Prag oder Berlin spürbar, doch die meisten europäischen Großstädte haben es heute verloren. In Budapest erwacht in vielen Reisenden eine Art Nostalgie für solche Lokale. Es ist etwas Romantisches, Nostalgisches, Vorübergehendes” – erklärt Balázs Édes.
 

Romkocsmak.hu
Die ungarisch-englische Website romkocsmak.hu existiert seit 2009 und stammt aus der Feder des Geisteswissenschaftlers Attila Höfle. Die Idee kam ihm, nachdem er mit Freunden einige Biere im Kőleves kert (Steinsuppen Garten) in der Kazinczy utca Ecke Dob utca getrunken hatte: „Ich habe vergeblich gesucht, es stellte sich heraus, dass nicht jede Ruinenkneipe eine eigene Website hat, oder die bestehende Website nur wenig informativ ist, bzw. keinen englischsprachigen Teil beinhaltet” – so die Erklärung. Die Zahl der aufgeführten Kneipen schwankt zwischen 12 und 15, zu Beginn des Sommers 2011 waren 14 Lokale aufgelistet. Höfle gestaltet die Website in seiner Freizeit. Die Seite enthält kurze Beschreibungen der Lokale, so lassen sich Veränderungen gut verfolgen.

Was führte zu ihrer Entstehung?

Warum entstanden die meisten dieser alternativen Lokale im VII. Bezirk von Budapest? In einer normal funktionierenden Stadt kommt es in den Außenbezirken, auf Industriegeländen zu derartigen Entwicklungen.

„Die Entstehung des Modells Ruinenkneipe wurde durch den Verfall der Stadt ermöglicht“ - meint dazu Balázs Édes. Die Stadt hatte weder Geld, noch Ideen oder ernst zu nehmende Ambitionen zur Rehabilitierung des maroden Stadtviertels, welches sie den auf der Bildfläche erschienenen Immobilienspekulanten mitsamt allen Problemen überlassen hätte. Ganz gleich, ob es um die Wohnsituation der alten Bewohner, den kompletten oder teilweisen Abriss der Gebäude oder deren Rekonstruktion ging.”

Laut Édes wurden denkmalschützerische und architektonische Aspekte in den Hintergrund gedrängt, der Verbleib der alten Einwohnerschaft gehörte nicht zu den primären Zielsetzungen. Wie sich im Nachhinein erahnen lässt, war es für die Stadt am wichtigsten, mit dem Verkauf der Immobilien unter dem Wert möglichst hohen Gewinn zu machen. Währenddessen rissen die Investoren einige denkmalgeschützte Gebäude im alten Judenviertel ab, und der Abriss mancher Häuser konnte nur durch ziviles Engagement verhindert werden. (Gegen den sozialistischen Bürgermeister des Stadtviertels, György Hunvald, und seine Partner wurde ein Verfahren wegen Bestechung und wegen Betrugs in Millionenhöhe eingeleitet, welches seit April 2011 in erster Instanz verhandelt wird. – Anmerkung des Redakteurs.)

Laut Édes verdanken die Ruinenkneipen eben diesem Chaos ihre Entstehung. Das Geschäftsmodell zielt ohnehin auf die vorübergehende Nutzung der Immobilien. Den Betreibern kam es dann nur gelegen, dass die Wirtschaftskrise 2008 den Immobilienmarkt quasi zum Erliegen brachte und in Ungarn kaum noch neue Investitionen in Gang kamen. Obzwar die in der unmittelbaren Nachbarschaft von zweifelhaften Immobiliengeschäften wie Pilze aus dem Boden sprossen, haben sie sehr viel dazu beigetragen, das Image des Stadtbezirks aufzupolieren.

Momentaufnahmen des Verfalls

Wenn eine Ruinenkneipe in einem zum Abriss vorgesehenen Haus eröffnet wird, hält das den Verfall des Gebäudes einen Moment lang auf. „Der größte Feind dieser Häuser ist der Umstand, dass sie keiner mehr nutzt.“ - meint der Architekt Ádám Hatvani. Er erklärt weiter: „Die Ruinenkneipe greift nicht in die Struktur des Hauses ein, sondern konserviert es, indem sie das Gebäude vorübergehend nutzbar macht. Die meisten Mieter verlassen sich auf provisorische Lösungen, da sie nicht sicher sind, wie lange sie noch bleiben können.“

Dieser provisorische Zustand kann sich über Jahre hinziehen – wie auch im Falle des zweiten Szimpla Gartens, der 2004 in einer ehemaligen Ofenfabrik in der Kazinczy utca 14. entstand. Dieses Dauer-Provisorium hat auch das Schicksal des Hauses verändert: Wenn sich eine Lokalität im Bewusstsein der Allgemeinheit festgesetzt hat, ist die Stadtverwaltung gezwungen, statt des Abrisses auch die Möglichkeit der Renovierung in Betracht zu ziehen. 

Die Bezirksverwaltung ist im Allgemeinen nicht sonderlich begeistert von den Ruinenkneipen, da die Anwohner sich vom weltstädtischen Trubel gestört fühlen. Der Gemeinderat verschärft auch üblicherweise vor den Wahlen die lokalen Lärmbestimmungen, was aber nichts an der Situation an sich ändert: Die Ruinenkneipen brummen, die Anwohner des dicht bewohnten Bezirks schimpfen wie die Rohrspatzen.