Kieze in Budapest
„Unsere Straße“

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Die Hajós Straße in Budapest | Die Hajós Straße in Budapest

Im Menschen gibt es Platz für vielerlei Identitäten. Wir können nicht nur an Nationen, kleinere oder größere Regionen, an bestimmte Lebensalter, Berufe oder Hobbys gebunden sein, sondern unter Umständen auch an gewisse Straßen und Plätze. Ein Außenstehender kann zwar an diesen Orten nichts Besonderes entdecken – trotzdem sind ihre Bewohner durch etwas Unsichtbares verbunden: durch das Bewusstsein, dass das hier „unsere Straße” ist.

II. Bezirk: Lövőház Straße – Millenáris Park 

Egal, welches Programm im Millenáris Park gerade läuft, die Zahl der Eltern mit Kleinkindern pro Quadratmeter ist hier stets am höchsten in ganz Budapest. Von den Industriegebieten der Innenstadt V wurde als erstes das Areal der einstigen Ganz-Elektrizitätswerke vor zehn Jahren in ein Kulturzentrum mit Parkanlage verwandelt, und das hatte im Leben des wohlhabenden Bürgertums vom Rosenhügel eine radikale Wende zur Folge. Denn bis dahin gab es in Buda kaum Orte, die man zwecks gediegener Unterhaltung aufsuchen konnte; nun finden im Millenáris Park regelmäßig Konzerte, Ausstellungen und Festivals statt. Und die Kinder können, falls sie nicht gerade im ungarischen Science Park, im „Palast der Wunder”, die merkwürdige Welt der Physik bestaunen, auf einem der Spielplätze ihre überschüssige Energie loswerden. Seit ein Stück der benachbarten Lövőház Straße Fußgängerzone wurde, zieht sie auch immer mehr Besucher an. Die Bevölkerung beteiligte sich aktiv an der Gestaltung dieses neuen öffentlichen Raumes; die Lokale eröffneten eins nach dem anderen ihre Terrassen, inzwischen gibt es in der Straße einen Bioladen, eine Familienkonditorei, einen Friseursalon und eine Schreibwarenhandlung, außerdem findet man hier den dichtesten Babyausstattungs-Cluster der Stadt. Die Komfortstufe des Viertels wird auch dadurch erhöht, dass man nur noch eine Ecke bis zum Gemüsemarkt und zum Mammut-Einkaufszentrum gehen muss. Das aber ist bereits eine andere Welt: Die „unsere-Straße”-Atmosphäre hört bei der Fény-Straße auf.

VI. Bezirk: Die Hajós Straße

Die vor einigen Jahren Fußgängerzone gewordene Hajós Straße liegt zwischen der berühmten Andrássy-Straße mit ihren Luxusmodegeschäften, der Bajcsy-Zsilinszky-Straße mit ihrem regen Autoverkehr und der Nagymező-Straße mit ihren Theatern und Varietés, die wegen dieser auch als Pester Broadway bezeichnet wird. An der Ecke Hajós-Straße – Andrássy-Straße steht die Oper. Unter Eingeweihten ist die Straße auch dafür bekannt, dass um die Zeit der Wende hier der erste Laden für handgefertigten Schmuck und Designermode sowie eins der ersten alternativen Musiklokale, das berühmte Picasso Point aufmachten. An diese Künstleratmosphäre knüpften dann eine Reihe anderer Cafés an. Man findet hier aber auch Antiquitäten-, Designer- und Bioläden – das Angebot richtet sich eher an die zufälligen Flaneure als an die ständigen Bewohner. Die Anziehungskraft der umliegenden Straßen beruht auf dem starken Kontrast zwischen dem Glanz der Andrássy-Straße und ihrer Luxusläden und den alten Mietskasernen mit ihrem bröckelnden Putz.

VI. Bezirk: Hunyadi Platz

In den dicht bebauten Bezirken der Budapester Innenstadt gibt es kaum einen zweiten öffentlichen Raum, in dem so viele hohe Bäume stehen wie am Hunyadi-Platz. Hier ist auch eine der ältesten Markthallen der Stadt (erbaut 1896), an die einer der letzten Kleinbauern-Tagesmärkte unter freiem Himmel anschließt. Im Park, der den Platz beherrscht, findet jedes Wochenende ein sozialer Flohmarkt statt: Dort bieten die Mittel- und Obdachlosen der Stadt ihre aus Mülltonnen geborgenen Schätze feil. Ein Besuch beim Friseur, beim Bilderrahmenmacher, beim Kunstmöbeltischler oder im „Kleinrestaurant Hunyadi” wirkt wie eine Zeitreise. Gleich neben der Markthalle findet man einen der bekanntesten Delikatessenläden der Stadt, der ausgesuchte Spezialitäten für die Liebhaber internationaler Gastronomie auf Lager hält. Im Gebäude daneben: ein Antiquariat für englische Bücher, das zugleich als Fair-Trade-Café fungiert. Der Eindruck des Multikulturellen wird durch das indische Teehaus und Gewürzgeschäft auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ergänzt. Die Bezirksverwaltung beschloss vor einigen Jahren eigenmächtig, die Markthalle zu sanieren und den ganzen Platz neu zu gestalten. Es ist vor allem dem Widerstand der Bewohner der Umgebung zu verdanken, dass der Plan, dem auch der Kleinbauernmarkt zum Opfer gefallen wäre, vorerst aufgegeben wurde.

VII. Bezirk: Die Barát Straße

Das Gedröhn der Rákóczi-Straße mit ihrem Wahnsinns-Verkehr ist zwar ganz nahe, trotzdem findet die Barát-Straße mit ihrer idyllischen Kleinstadtruhe selbst in Buda kaum Vergleichbares. Die besondere Atmosphäre hat wohl damit zu tun, dass die Bauhaus-Gebäude zu beiden Seiten der Straße hinter ihren Mauern einen gemeinsamen Garten, einen geheimen Stadtdschungel bergen. Als im Jahr 2007 dieses Paradies durch gigantische und glücklicherweise eingestellte Bauarbeiten bedroht war, gründeten die Bewohner der Straße zwecks organisiertem Protest einen Bürgerverein, der bald Programme für die ganze Umgebung organisierte. Als erstes feierte man den 50. Geburtstag der örtlichen Familienkonditorei Bognár, und nachdem das Fest zum großen Erfolg wurde, findet jetzt jedes Jahr an diesem Tag der „Straßenball“ in der Barát-Straße statt. Ein Blumengeschäft und ein Teehaus in der Nachbarschaft sind inzwischen der Wirtschaftskrise zum Opfer gefallen, aber bei „Bognár” gibt es nach wie vor jeden Tag frischen Kuchen.

XIII. Bezirk: Pozsonyi-Straße – Szent-István-Park und Umgebung

Der Teil des XIII. Bezirks jenseits des Szent-István-Rings, Újlipótváros (Neuleopoldstadt), wird vertraulich auch als Lipócia oder Újlipócia (dt. etwa: Leopoldinien, Neuleopoldinien) bezeichnet. Das Viertel kann inzwischen nicht nur mit solchen familiären Bezeichnungen aufwarten, sondern auch mit einem in der Literaturszene geschätzten Chronisten, einer gedruckten und einer Online-Zeitschrift, einem Artkino, einer stadtweit bekannten Buchhandlung und einer Pralinenmanufaktur. Es besteht zwar nur aus einigen Straßen, trotzdem kann man da praktisch alle Dienstleistungen finden, die man im Alltag braucht. Nicht umsonst heißt es auf der Website des lokalen Straßenfests „Pozsonyi Piknik”: „Újlipótváros ist nur scheinbar ein Teil von Budapest. Újlipótváros ist ein Dorf in der Stadt.” Hier kennt jeder jeden, und jemand hat das einmal so formuliert: Während der Stoßzeit braucht man mindestens 30 Minuten, um von einer Ecke bis zur nächsten zu gelangen. Architektonisch gehört das Viertel zu den einheitlichsten in Budapest, es ist sowohl für die Vielzahl gut erhaltener Bauhaus-Gebäude als auch für seine vitale jüdische und bürgerliche Kultur und seine vielen Cafés bekannt. Zur Donau hin wird das Viertel durch den Szent-István-Park begrenzt, in dem sich an jedem normalen Nachmittag so viele Familien mit Kindern versammeln wie auf den Spielplätzen in Prenzlauer Berg an einem schönen Sommersamstagnachmittag.

XIX. Bezirk: Die Wekerle-Siedlung

In Kispest oder „Kleinpest”, begrenzt durch die Üllői und die Nagykőrösi-Straße, liegt jener Stadtteil Budapests, der vermutlich unter allen Stadtteilen der ungarischen Hauptstadt die stärkste lokale Identität besitzt: dieWekerle-Siedlung. Sie ist als architektonisches Experiment einer modernen Vorstadt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden, und sie war vor allem für Arbeiter und Beamte gedacht, die vom Land in die Hauptstadt zogen. Die Zwei- und Mehrfamilienhäuser und Reihenhäuser wurden nach den Entwürfen bedeutender Architekten der Zeit, vor allem nach den Serienplänen von Károly Kós im Zeichen eines nationalen Jugendstils errichtet. Das Straßennetz ist ebenfalls einheitlich strukturiert, wobei die Straßen von einem zentralen Platz ausgehen. Ursprünglich gehörte zu jedem Haus ein Garten. Die Einwohner haben inzwischen oft gewechselt, dennoch strahlt die Siedlung eine starke Identität aus, und man ist bestrebt, die lokalen Traditionen zu bewahren. Die Siedlung hat ihre eigenen Feste (Seklertor-Tage, Gulaschsuppen-Kochwettbewerb), einen eigenen Floh-, Fahrrad- und Mutter- & Baby-Markt und gleich mehrere selbstbewusste Bürgervereine. Die historischen Bauten wurden im Laufe der Jahrzehnte durch diverseste Anbauten zugestellt, und die Denkmalschützer vor Ort kämpfen seit Jahren gegen die Plastikbuden und selbstgebastelten Betongaragen.