Kulturgemeinschaften
„Die Budapester sind weniger abweisend“

Die Budapester_Magazin
András Kováts | Foto: Hernád Géza

Wie gestaltet sich das Leben der aus dem Ausland oder aus Ungarn Zugewanderten in Budapest? Zeigt sich die ungarische Hauptstadt sehr aufnahmefreudig und entsprechend buntgescheckt? Ein Gespräch mit dem Soziologen und sozialpolitischen Berater András Kováts.

Fallen in der Zwei-Millionen-Metropole Einheimische und Ausländer gleich als gesonderte soziale Gruppen ins Auge, ähnlich wie in den westlichen Großstädten?

Die klassische Form räumlich getrennter und sozial isolierter Migrantenviertel wie in New York und Nordamerika gibt es in Budapest nicht. Selbst die ethnische Trennung nach Herkunftsländern, wie sie z.B. für Paris typisch ist, trifft man hier nicht an. Es gibt also weder ein Chinatown noch mehrheitlich von Türken und Muslimen bewohnte Stadtteile. Die Präsenz dieser Gruppen ist vor allem im Bereich der Dienstleistungen und des Handels sichtbar.

Warum gibt es keine Migrantenviertel? 

Einfach, weil in Budapest nicht so viele Einwanderer leben wie in den westlichen Metropolen. Ihr Anteil an der Bevölkerung der Stadt macht etwa 5-6 Prozent aus, sie haben also nicht jene Bevölkerungsdichte erreicht, die zur Bildung „autarker” Viertel führen könnte. Durch die Binnenbewegungen der Budapester, durch die nationale Migration zwischen Budapest und dem Rest des Landes und eventuell durch die Umsiedlung der Ungarn aus den Nachbarländern könnten zwar strukturell unterschiedliche Stadtteile entstehen. Nur wirken sie hier nicht prägend, weil die sozialen und kulturellen Unterschiede in Ungarn viel geringer als etwa in Westeuropa sind. Siedelt jemand z.B. vom Land in die Hauptstadt um, ist der kulturelle Sprung doch nicht so groß, dass er unbedingt seine „Schicksalsgenossen“ um sich brauchte.

Gewisse Tendenzen, Umzüge aus einer Gegend in die andere als „Aufstiegs“bewegungen zu nutzen, dürften aber wohl schon zu beobachten sein? [1]

Allerdings. Die kulturell weniger offene untere Mittelschicht lässt sich vorwiegend in den Wohnparks am Stadtrand nieder, und es gibt eine andere Gruppe einheimischer Migranten, die empfänglicher für das Multikulturelle sind. Sie suchen die bunten Stadtviertel, viele von ihnen siedeln sich in Újlipótváros (Neuleopoldstadt [2]), in der Umgebung der Király Strasse oder in der inneren und mittleren Ferencváros (Franzstadt) an.

Und wie sieht es aus in der Umgebung der Studentenwohnheime?

Sie können in der Tat zu Kristallisationspunkten urbaner Subkulturen werden. Ein interessantes Beispiel dafür ist das Studentenwohnheim „Áron Márton” in Óbuda, wo sich die Umgebung durch die verstärkte Präsenz von Minderheitsungarn aus den Nachbarländern inzwischen leicht verändert hat. Ein anderes, vielleicht noch besseres Beispiel für diese Erscheinung ist die Central European University in der Innenstadt, die bewirkte, dass dort Imbissstuben, Buchhandlungen und andere Läden für die speziellen Bedürfnisse der amerikanischen, israelischen und asiatischen Studenten eröffnet wurden. 

Sind die Budapester gastfreundlich? Wie stehen sie zu den Ausländern, zu den Migranten aus Asien und Afrika?

Die Umfrageergebnisse deuten darauf hin, dass die Budapester weniger abweisend sind, sie können die Ansiedlung von Ausländern eher akzeptieren als die Bevölkerung in der Provinz, speziell die Dorfbewohner. Das ist ein allgemeines Phänomen der europäischen Gesellschaften: In einer Großstadt begegnet man häufiger Vertretern anderer Kulturen, hier gilt jeder ein wenig als Migrant. Unser Verhältnis zu den Asiaten und Afrikanern ist etwas ambivalent: Im Handel, im wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt sind sie gut integriert, trotzdem werden in der einheimischen Bevölkerung immer wieder unterschwellig diskriminierende oder manchmal sogar offen fremdenfeindliche Äußerungen laut. Kurz, wir kaufen ihre Waren, essen ihre Speisen, tanzen nach ihrer Musik, aber wir mögen sie nicht.
 

Was meint das: der Kiez?

Kieze sind typische urbane Gebilde: Wohnviertel, deren Bewohner ihre nähere Umgebung nur selten verlassen, weil sie in den umliegenden Straßen alle wesentlichen Dienstleistungen finden können. Sie machen ihre Einkäufe im Kiez, sie gehen dort aus, sie treffen sich dort – und diese Erfahrung führt dazu, dass sich allmählich Gemeinschaften mit den gleichen Bräuchen, Festen und Zielen herausbilden. Kieze entstehen meist unabhängig von den einzelnen Verwaltungsgrenzen. Der Begriff hat sich vielfach gewandelt: Ursprünglich bezeichnete er im Mittelalter einzelne Siedlungsteile, oft nur einzelne Straßen, in denen Menschen desselben Berufes oder Dienstleute einer anderen Nationalität als ihre Umgebung wohnten (das Wort Kiez selbst z. B. ist slawischer Herkunft). Später wurden vor allem Vergnügungsviertel (wie St. Pauli und die Reeperbahn in Hamburg) mit diesem Wort bezeichnet. In Berlin wird es bis heute in seiner oben beschriebenen positiven Bedeutung benutzt.

Sucht man in Budapest nach Kiezen, können einem als erstes einige Straßen in Újlipótváros einfallen.

In Újlipótváros treffen mehrere soziale Prozesse aufeinander. Der Stadtteil ist historisch stark mit dem Judentum verbunden, und wenngleich diese Verbindung durch die furchtbarsten menschlichen Tragödien belastet ist, prägt sie dennoch die Atmosphäre im Viertel. Zudem lässt sich in der jungen und mittleren Generation jener Mittelschicht, die bevorzugt in den Hügeln von Buda lebt, eine Art „Jewish Revival” beobachten. Die Mitglieder dieser Generationen sind zwar vollständig assimiliert, aber viele von ihnen entdecken ihre jüdischen Wurzeln neu und beschließen, sich in jenem Teil von Újlipótváros anzusiedeln, der über jüdische Traditionen verfügt. Dazu kommt noch die Ansiedlung der kosmopolitischen ländlichen Jugend mit liberalen Ansichten. Der Stadtteil erlebt heute durch die zusammenwachsende Kultur der jüdischen Identität und der freiheitlichen Ungarn einen beeindruckenden Aufschwung.

Und dann gibt es noch das ehemalige, historische jüdische Viertel im VII. Bezirk, in Erzsébetváros (Elisabethstadt).

Richtig. Das Gebiet um die Király, Wesselényi und Kazinczy Straßen könnte zum zweiten, innenstädtischen Kiez mit jüdischen Traditionen werden, nur sind die Hüter der Tradition auch dort in der Minderheit. Dafür kann man in beiden Vierteln die Ansiedlung israelischer Migranten beobachten, die die soziale Zusammensetzung dieser Stadtteile weiter bereichern. 

Wo landen die ärmeren Gruppen der einheimischen Migranten?

Sie siedeln sich vor allem in Józsefváros (Josefstadt, VIII. Bezirk), in Kőbánya (X. Bezirk) und in den Plattenbausiedlungen der Außenbezirke an.

In Józsefváros leben viele Migranten, und es leben dort traditionell viele Roma.

Obwohl die Umgebung des Orczy Platzes und der Kőbányai Straße als chinesisches Handelszentrum gilt, wohnen die Chinesen nicht dort, sondern verstreut in der Stadt, daher ist dort auch kein Chinatown entstanden. Die Roma sind infolge ihrer mehrfach benachteiligten sozialen Lage in Józsefváros und Kőbánya hängen geblieben. In der Umgebung des Blaha-Lujza-Platzes, die ebenfalls zu Józsefváros gehört, wohnen viele Migranten aus Schwarzafrika. Das ist sicher kein Zufall, denn ihre materielle Lage ist ebenfalls alles andere als rosig.

Wie ist die Lage der chinesischen und vietnamesischen Migranten?

Die chinesischen Migranten in Ungarn leben zu 80 Prozent, die aus Vietnam zu 90 Prozent in Budapest. Die Zahl der Chinesen ging stark zurück. In den 1990er Jahren dürften es noch um die 40.000 gewesen sein, heute zählen sie nur noch 10-12.000. Die Zahl der in Ungarn lebenden Vietnamesen beträgt auch nicht viel mehr als fünf- bis sechstausend. Die Chinesen kennzeichnet dabei eine starke Transnationalität: Obwohl sie das Ungarische besser oder schlechter erlernen, verlieren sie ihre Kontakte zur Heimat nicht. Ihre Kinder fahren für die Ferien, eventuell auch zum Lernen und zum Studium nach Hause, und auch die Erwachsenen pendeln zwischen China und Ungarn hin und her. Eine kulturelle Integration lässt sich erst bei Chinesen der zweiten Generation beobachten, bei ihnen kann man bereits eine gemischte ungarisch-chinesische Identität feststellen.

Was kann man über die Muslime in Budapest sagen?

Das ist ein interessantes Phänomen: Türkische Imbissstuben schießen am Rand der Innenstadt, am Großen Ring und in seiner Umgebung wie Pilze aus dem Boden. Trotzdem haben sich weder die Türken noch die Araber auf einen bestimmten Stadtteil als Wohngebiet konzentriert. In Újbuda (XI. Bezirk), wo sie vielleicht in etwas größerer Dichte als in den anderen Bezirken wohnen – dort befindet sich ja auch der einzige Gebetsraum der Islamischen Kirche in der ungarischen Hauptstadt –, hat die Bezirksverwaltung den Bau einer Moschee verhindert.
 

Das „deutsche” Budapest 

Die deutsche ist die größte nationale Minderheit in Ungarn. Die Mehrzahl der Ungarndeutschen lebt in Westungarn, daneben leben größere deutsche Gruppen in den Siedlungen um Buda (Budaörs, Solymár, Pilisvörösvár –Wudersch, Schaumar und Werischwar mit ihren alten deutschen Namen) bzw. in Süd-Pest (Soroksár und Pestszentlőrinc), die ihre Traditionen pflegen, deutschsprachige Schulen und kulturelle Einrichtungen betreiben und enge Beziehungen zu den deutschen Partnerstädten wie zu den ehemaligen Vertriebenen und ihren Nachkommen aufrechterhalten. In der ungarischen Hauptstadt leben einige hundert deutsche Studenten und Manager (letztere mit ihren Familien), die früher zwar keine Beziehungen zu Ungarn hatten, die jedoch „das Schicksal nach Budapest verschlug”. Wie in vielen europäischen Großstädten, gibt es auch in Budapest eine vom deutschen Staat finanzierte und in Form einer Stiftung betriebene Grund- und Mittelschule: die Deutsche Schule Budapest empfängt zusammen mit dem Thomas Mann Gymnasium in einem der vielen grünen Viertel von Buda, am „Schwabenberg”, ihre Schüler.

[1] In Ungarn fährt man vom Land in die Hauptstadt „hinauf” und von dort aufs Land „hinunter” – ein sprachliches Zeugnis für Budapests Dominanz.
[2] Die Bezirke der Budapester Innenstadt entlang des Großen Rings wurden parallel zum Wiener Ring ausgebaut und meist nach Habsburgerherrschern benannt: von Norden nach Süden gehend, liegen Leopoldstadt, Theresien-, Elisabeth-, Josef- und Franzstadt nebeneinander.