Grimm
Die Märchen der Brüder Grimm

Die Märchen der Brüder Grimm_Magazin
Mari Takács: Rotkäppchen und der Wolf | Foto: Csimota Kiadó

Man nennt eigentlich nur Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) die „Brüder Grimm”, obwohl ihre Eltern insgesamt sechs Kinder, fünf Söhne und eine Tochter hatten, aber die literarische und wissenschaftliche Tätigkeit von Jacob und Wilhelm war ihr ganzes Leben hindurch dermaßen verflochten, dass sie beide als Zwillingsgestalten im kulturellen Gedächtnis weiterleben.

Die Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen, deren zweibändige erste Augabe 1812 und 1815 erschien, ist ihr Jugendwerk, dem eine Reihe von wichtigen sprach- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten folgt, es gilt zugleich bis heute als ihr bekanntestes und beliebtestes Buch. Die Märchen der Brüder Grimm vertreten sowohl den Begriff „Märchen” als auch das Weltbild der deutschen Romantik. Sie wurden teilweise oder vollständig in fast alle Sprachen der Welt übersetzt, vielfach nacherzählt, illustriert, dramatisiert, verfilmt, als Comics bearbeitet – und natürlich auch in ihrer Originalform gelesen.

Jacob und Wilhelm Grimm waren kaum mehr als zwanzig Jahre alt, als sich ihr Interesse der Volksdichtung zuwendete. Zuerst lieferten sie Beiträge für Clemens Brentano zur Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn, dann aber fingen sie an, selbständig Märchen und Sagen zu sammeln. Dazu haben sie sowohl gedruckte Quellen als auch alte Handschriften, Chroniken, Tagebücher und Protokolle verwendet, aber noch wichtiger waren die brieflichen Mitteilungen einiger Freunde, die im Familienkreis oder unter Bekannten die dort und damals geläufigen Märchen aufzeichneten.

Die Namen der meisten MärchenerzählerInnen sind bekannt. Der Schneiderwitwe Dorothea Viehmann verdankt die Märchensammlung etwa vierzig Märchen, unter anderen hochbedeutsame Stücke wie Der treue Johannes und Der Teufel und seine Großmutter. Die Apothekerstochter Dortchen Wild, später von Wilhelm Grimm geheiratet, schrieb zwanzig Märchen auf, aber die Eltern und Schwestern Wild trugen ebenfalls zur Sammlung bei. Auch die Familie Hassenpflug und Haxthausen zeichneten Dutzende von Märchen für die Brüder Grimm auf. Diese Vermittler gehörten zu bürgerlichen Familien mit hugenottischen Wurzeln. Dadurch werden die motivischen Parallelen zum französischen Märchengut erklärbar, und es wird auch verständlich, warum sich die Kinder und Hausmärchen für den Geschmack eines bürgerlichen Leserkreises als attraktiv erwiesen.

Zielsetzung der Brüder Grimm war, für ihre Märchen sowohl Erwachsene als auch Kinder als Leser und Zuhörer zu gewinnen. Sie wollten einerseits wissenschaftliche Ansprüche berücksichtigen, andererseits ästhetisch vollständige Texte, literarische Kunstwerke herstellen. Sie schrieben in der Vorrede der zweiten Ausgabe aus dem Jahr 1819: „Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten; daß der Ausdruck und die Ausführung des einzelnen großenteils von uns herrührt, versteht sich von selbst, doch haben wir jede Eigentümlichkeit, die wir bemerkten, zu erhalten gesucht, um auch in dieser Hinsicht der Sammlung die Mannigfaltigkeit der Natur zu lassen.”

Was die damaligen und späteren pädagogischen Besorgnisse betrifft, die drastischen Einzelheiten in manchen Stücken der Sammlung könnten für Kinder unpassend sein, so sind die Worte der Brüder Grimm heute noch gültig: „Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht. Sollte man dennoch einzuwenden haben, daß Eltern eins und das andere in Verlegenheit setze und ihnen anstößig vorkomme, so daß sie das Buch Kindern nicht geradezu in die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge begründet sein, und sie können leicht eine Auswahl treffen: im ganzen, das heißt für einen gesunden Zustand, ist sie gewiß unnötig.”

Diese drei ganz verschieden Normen – wissenschaftliche Authentizität, ästhetischer Wert, pädagogische Hinsicht – vermochten die Brüder Grimm in Einklang zu bringen. Das Werk Kinder- und Hausmärchen gilt als repräsentative Volksmärchensammlung, zugleich aber auch als Meisterwerk der deutschen romantischen Kunstprosa. Ihre Veröffentlichung kann als Gründung der vergleichenden Mythenforschung aufgefasst werden, da den Brüdern erst während des Arbeitsprozesses klar wurde, dass die „poetischen” Märchen von den „historischen” oder „örtlich-mytischen” Sagen getrennt zu behandeln sind. (Die gleichermaßen monumentale Sammlung Deutsche Sagen erschien kurz nach der Erstausgabe der Märchen.)