Béla Tarr
Der Anfang und das Ende: Es bleibt die Dunkelheit

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"Das Pferd von Turin" | Foto: © Cirkó Film

Bei der Preisverleihung der Europäischen Filmakademie im Berliner Tempodrom am 3. Dezember 2011 blieb Béla Tarrs Das Pferd von Turin trotz drei Nominierungen (beste Regie, beste Kamera, beste Musik) unberücksichtigt, da die Betonung dessen, dass Lars von Trier nach seiner Hitlerrede in Cannes verziehen wurde, dem hohen Gremium anscheinend wichtiger war, als das Hauptwerk einer nunmehr abgeschlossenen künstlerischen Laufbahn zu würdigen. Für das Versäumnis mag es tausend Gründe geben, ein Gegenargument aber bleibt: das Oeuvre des Regisseurs mit seiner Krönung, dem letzten Film von Béla Tarr.

Keine Ahnung, ob es jemanden gibt, der bereit wäre, mit dem von Béla Tarr gebauten Schiff die Donau hinunterzufahren, ich jedenfalls würde es mir tausendmal überlegen; fest steht jedoch, dass der Regisseur als Arbeiter in der Budapester Werft mit dem Kino in Berührung kam: István Dárday wurde dort auf den passionierten Amateurfilmer aufmerksam, und er nahm ihn Mitte der 1970er Jahre in das Balázs-Béla-Studio mit, wo angehende Filmemacher (selbstverständlich erst nach dem Diplom) ihre ersten Versuche machen durften. Ohne staatliche Ausbildung, sozusagen als Partisan in die Position eines Regisseurs zu kommen – zu einer exklusiven Position in der Filmindustrie des Spätsozialismus –, war fast unmöglich, denn das war eine Karriere, die zuverlässigen Künstlergenossen vorbehalten und durch mehrfache Kontraselektion belastet war. 

Noch dazu gelang Tarr ein aufsehenerregendes Debüt: Sein erster Film, Familienherd (1979), holte sich gleich den Grossen Preis des Filmfestivals Mannheim. Das ist insofern nichts wirklich Erstaunliches, als der Westen seit den 1960er Jahren bei den Filmen aus Osteuropa konsequent das politisch Pikante prämierte. Und davon gab es in diesem Debütfilm genug, zudem wurde es in einem in Mannheim gut bekannten Stil, nämlich in dem des Doku-Spielfilms, der cinéma direct oder cinéma vérité vorgetragen, der in den frühen 1960er Jahren in Amerika erarbeitet wurde. Die Hauptfigur in Familienherd, eine Fabrikarbeiterin, wohnt mit ihrer Tochter in der Einzimmerwohnung des Schwiegervaters, während ihr Mann Wehrdienst leistet. Acht Menschen, drei Generationen in einem Zimmer, das kann man unmöglich mit heilem Verstand überstehen, selbst wenn alle von den edelsten Absichten geleitet sind. Und das trifft hier natürlich keineswegs zu, der Schwiegervater ist das Paradebeispiel eines Monsters, die schlimmste Mischung aus Kleinbürger und Lumpenprolet; der Ehemann ein reiner Alkoholiker, die Arbeit nervend und schlecht bezahlt, die Außenwelt korrupt, das Regime verlogen – das musste den Leuten in Mannheim gefallen.

Es gefiel aber auch den Menschen in Ungarn, denn so offen, vor allem aber in einem solch leidenschaftlichen Ton, sprach noch keiner, auch in den anderen Kunstgattungen nicht. Béla Tarrs Film erzählte zudem, abgesehen von den starken politischen Bezügen, vor allem über die Menschen, über das menschliche Elend. Sein Auftritt in der dokumentarisch ausgerichteten Budapester Schule war daher von solch elementarer Kraft, dass er die Zukunft der Künstlergruppe entscheidend beeinflusste – er wies ihr den Weg, und er stieß sowohl im In-, wie auch im Ausland auf großes Interesse.

Danach folgten Filme in ähnlichem Stil und von ähnlich starker Wirkung: Der Außenseiter (1981) und Plattenbaubeziehung (1982), die man eigentlich als die Fortsetzung von Familienherd betrachten kann, da man dort bis zum Schluss fest daran glaubte, man bräuchte nur eine Wohnung, dann würde sich alles zum Guten wenden; mit dem Ehepaar in Plattenbaubeziehung – er arbeitet in der Chemieindustrie, sie bleibt zu Hause mit dem Kind – wird bereits der große Traum der Kádár-Ära, die Anderthalbzimmer-Plattenbauwohnung, erfüllt. Doch dafür muss das Paar einen großen Preis zahlen: nach neun Jahre Quälerei ein letzter großer Streit, und es ist aus. Mit diesem dritten Film bietet Tarr eine Art Synthese seiner Entwicklung, zugleich geht er in ihm bereits über das Dokumentarische hinaus. Hier tauchen zum ersten Mal jene langen Einstellungen (beim Friseur, auf dem Betriebsfest) auf, die später zu seinem Markenzeichen werden; und er arbeitet nach einem genauen Drehbuch und mit professionellen Schauspielern.

1984 erfolgt eine radikale Wende zum Lyrischen: Tarrs einziger Farbfilm Herbstalmanach, mit langen Einstellungen in Gelb und Braun und unter der erstmaligen Mitwirkung von Mihály Víg, der jetzt für seine Musik zum Pferd von Turin für den Preis der Akademie nominiert wurde. Ein merkwürdiges Zwischenspiel vor der zweiten großen Periode in Tarrs Schaffen, die 1988 mit Verdammnis begann und deren Stationen bereits besser bekannt sind. Und eine komische Parallele zwischen einst und heute: Verdammnis wurde damals ebenfalls für den Preis für junge Filmemacher der Europäischen Filmakademie nominiert, aber dann doch nicht ausgezeichnet. Trotzdem führte diese Periode von Nominierungen und Auszeichnungen in Berlin und Cannes über Anerkennungen in Übersee bzw. über Filme wie SatanstangoDie Werckmeisterschen Harmonien oder Der Mann aus London bis zum Pferd von Turin

Das Pferd von Turin

Nachdem Tarr mit seinem bahnbrechenden Werk Verdammnisden Weg der metaphysischen Abenteuerfilme oder, aus ungarischer Perspektive, den der metaphysischen Horrorfilme betrat und im siebenstündigen Satanstango (1994) mit seinen unvergesslich langen Fußmärschen unter anderem Peter Berling (Die Sehnsucht der Veronika Voss, Die Ehe der Maria Braun, Warnung vor einer heiligen Nutte) auftreten ließ, erreichte er mit den Werckmeisterschen Harmonien (2000, mit Hanna Schygulla in einer der Hauptrollen) die äußerste Grenze seiner Ausdrucksmöglichkeiten. Nach dem Versuch, einen anderen Weg einzuschlagen – denn Der Mann aus London (2007), eine für ungarische Verhältnisse ungewöhnlich aufwendige Adaptation nach Georges Simenons Kurzroman, war ein solcher Versuch –, blieb für Tarr keine andere Möglichkeit, als Schluss zu machen. Nur ist Das Pferd von Turin somit nicht nur die Endstation einer filmkünstlerischen Laufbahn, sondern ein weit ehrgeizigeres Unternehmen: echtes Endzeit-Kino, nach dessen Ende das Licht nicht mehr wie sonst in den Kinos zurückkehrt, es bleibt nur die Dunkelheit.

In der langen Szene vor dem Vorspann zieht die Hauptfigur, Nietzsches Pferd, bei trostlosem, unaufhörlichem und immer stärkerem Wind das Fuhrwerk, der Kutscher kauert auf dem Bock, und so fahren sie unbeirrbar und immerfort nach Mihály Vígs wunderbar dazu passender, repetierender Musik, was könnten sie auch sonst machen als fahren? Ihr Ziel ist ein abgelegenes Einzelgehöft, wo sie abgeschieden von der Welt leben: der Vater, die Tochter und das Pferd, das damals den berühmten Philosophen verrückt gemacht hat. Die Außenwelt erreicht sie nur im Bild einer Zigeunertruppe, die vor etwas Schrecklichem, näher nicht Benanntem, flieht, sowie in dem eines entfernten Nachbarn, der seine aufgebrauchten Schnapsreserven nachfüllen will, aber bereits diese kurzen, in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zum ganzen Film völlig unbedeutenden Sequenzen lassen einen ahnen, dass dort draußen etwas nicht stimmt, dass ein Umbruch naht. Selbst das Ticken der Holzwürmer im Gebälk der Hütte verstummt. Was geht hier ab? Tarr dosiert die Informationen mit der Spannung eines Krimis, sozusagen mit den seit Alfred Hitchcock obligatorischen Mitteln der suspence, wobei die tägliche Routine seiner Figuren sich auf einige grundlegende Gesten des Daseins wie Essen, Schlafen und Aufwachen reduziert. Aber selbst bis dahin führt ein langer Weg, und unter dem Eindruck der schlechten Nachrichten und ominösen Vorzeichen machen die letzten Kinohelden bei immer stärkerem Wind noch einen Fluchtversuch. Aber flüchten von hier – wohin?

Am dramatischen Höhepunkt des Films laden sie trotz jeden Widerstands seitens des Pferdes (der Hauptdarsteller, Ricsi, weinte dabei nach Tarrs Aussage echte Tränen) ihre spärlichen Habseligkeiten auf das Fuhrwerk und fahren los, und die Kamera folgt ihnen lange, bis sie am Horizont verschwinden, ja sie harrt auch dann noch aus und blickt unentwegt in die Ferne. Dem Zuschauer fallen die bis zum Überdruss analysierten Mittel im Inventar des Regisseurs, die legendär langen Einstellungen ein, als plötzlich mit der einfachsten Geste der Welt alles auf den Kopf gestellt wird und eine Katharsis entsteht, wie ich sie im Kino schon lange nicht mehr erlebt habe. Das erzähle ich natürlich nicht. Hier bleibt sowieso nur noch Platz, um dem Leser zu versichern, dass Das Pferd von Turin selbst im sich konsequent entfaltenden und in jeder Hinsicht epochalen Tarrschen Oeuvre das herausragendste Meisterwerk verkörpert. Ein Kunstwerk, das nicht aus dem Grund so streng ist, weil das Publikum von ihm nach seinen bisherigen Erfahrungen diese Erwartung hat, sondern weil der authentische Einklang zwischen Sinn und Form nur so entstehen kann. Wir können ganz ruhig sein: Das Weltende wird nicht durch Godzilla oder den nächsten Tsunami gebracht, und auch durch keinen ermordeten Geheimagenten, der aus einem brennenden Zug auf uns stürzt - nein, sondern dadurch, dass unsere Handlungen von einem Tag auf den anderen sinnlos und überflüssig werden - wenn nämlich die Klaustrophobie alles endgültig ersticken wird. Wenn die Lichter wirklich gelöscht werden.

Und von da gibt es keine Rückkehr mehr. Das sei sein letzter Film, erklärte Béla Tarr, und solche Versprechen pflegt man nicht zu halten, unter sechzig Jahren schon gar nicht. Für ihn wird es aber schwierig, wenn er wieder anfangen will. Dieser Film erschwert ja auch seinen hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Leben: Ágnes Hraniczky, die als Editorin von Anfang an (praktisch seit Der Aussenseiter) dabei war, der Komponist Mihály Víg und László Krasznahorkai, als Autor seit Verdammnis unersetzlich, bilden mit ihren Persönlichkeiten und ihrem Werk einen dermaßen organischen Teil dieses grandiosen Oeuvres, dass es höchst fragwürdig ist, ob sie in einem anderen Universum ihren Platz finden könnten. 

Ist das vielleicht wirklich der letzte Film?
 

Béla Tarr – Preise in Ungarn

1982 – Béla-Balázs-Preis 
2003 – Kossuth-Preis 
2005 - Mittelkreuz des Verdienstordens der Republik Ungarn 
1994 – Satanstango - 25. Ungarische Filmschau, Sonderpreis 
2001 – Die Werckmeisterschen Harmonien - 32. Ungarische Filmschau, Preis für den besten Film; Gene-Moskowitz-Preis der ausländischen Kritiker 
Das Gremium des Verbandes Ungarischer Filmkünstler wählte im Dezember 2011 ein neues Präsidium. Béla Tarr wurde zum Präsidenten, sein Vorgänger Miklós Jancsó zum Ehrenpräsidenten gewählt. 

Beteiligungen und Preise an internationalen Filmfestivals

1994 - Satanstango – Forum-Sektion der 44. Berlinale, Caligari Filmpreis 
2001 – Die Werckmeisterschen Harmonien – Forum-Sektion der 51. Berlinale, Leserpreis der Berliner Zeitung 
2007 – Der Mann aus London - 60. Filmfestspiele Cannes, offizielles Programm 
2011 – Das Pferd von Turin - 61. Berlinale, offizielles Programm; Silberner Bär: Großer Preis der Jury; Preis des Internationalen Verbandes der Filmkritik (FIPRESCI-Award) 
2012 – Das Pferd von Turin – 23. International Film Festival Palm Springs: FIPRESCI-Award für den besten fremdsprachigen Film des Jahres 
2011 wurde Béla Tarr bei den Internationalen Filmfestspielen von Istanbul, Jerusalem und Reykjavík sowie im Januar 2012 am World Film Festival Bangkok für sein Lebenswerk ausgezeichnet.