Dokumentarfilm in Ungarn
Wie waren wir früher?

Wie waren wir frührer_Magazin
Szene aus dem Film "Gebet" | Foto: Dunatáj Alapítvány

Der ungarische Dokumentarfilm begann in den frühen 1960er Jahren einen stillen Freiheitskampf zu führen, bei dem er sich seine zurückgestellte Position hinter dem streng kontrollierten Spielfilm gleichsam in dessen Windschatten seine relative Kostengünstigkeit sowie seine bescheidenen technischen Bedürfnisse zunutze machte. Gesellschaftliche Funktion, Ethos und Verantwortung des Dokumentarfilms waren in den Jahren der Diktatur ohnehin eindeutig: Er sollte im Gegensatz zu den deklarierten Zielen des Sozialismus, zu seinem durchideologisierten und stark idealisierten Selbstbild die Wirklichkeit, das Alltagsleben der Menschen und ihre Probleme, kurz: ein anderes, reales Ungarn zeigen.

Nach der Wende brach Panik aus: Wozu kann der Dokumentarfilm mit seinem Streben nach Wahrheitsenthüllung noch gut sein, wenn es eine pluralistische Demokratie, eine freie Presse und eine vielfältige Medienlandschaft gibt, in denen die verschiedenen Interessen zum Ausdruck kommen können? Die Zeit bestätigte diese Ängste nicht, es hat sich vielmehr gezeigt, dass weder die Publizistik noch die Fernsehreportage die vertiefte Arbeit, die sorgfältige Erforschung der Wirklichkeit hinter den Erscheinungen, die Empathie und Solidarität für die Hilflosen und Verlierer und die persönliche Glaubwürdigkeit ersetzen können, für die der seriöse, verantwortungsvolle Dokumentarfilm steht.
Dazu kommen noch all die Grenzgänger, die die Trennungslinien zwischen den Gattungen übertreten und mit der Filmsprache mutig experimentieren: Die Ergebnisse ihrer Arbeit haben den Spielfilm fruchtbar beeinflusst und dazu die Möglichkeiten des Dokumentarfilms um die Ausdrucksmittel der fiktionalen Gattungen bereichert.

Der Wegfall der öffentlichen Förderungen im Jahr 2010 bedeutete einen vernichtenden Schlag für das Doku-Genre, das ohnehin am Rand der Existenz vegetierte. Die Erschütterung hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt erfolgen können. Die Dokumentarfilmszene, die bereits mit Alterserscheinungen zu kämpfen hatte und neue Zuschauer oft nicht mehr erreichen konnte, war bereits atomisiert. Sie war schlecht organisiert und konnte ihre Interessen nur schwach vertreten. In den 2000er Jahren zeigten sich endlich Zeichen einer Wiederbelebung. Es tauchten immer mehr begabte und engagierte junge Regisseure auf, die neue Themen und neue Sichtweisen mit sich brachten und den richtigen Draht zum Publikum fanden. Es wurden Studios, Werkstätten und Vereine gegründet, die mit der Formulierung gemeinsamer Ziele vor die Öffentlichkeit traten. Die „zuschauerfreundlichen” Filme erfüllten die Erwartungen des Fernsehens und des internationalen Vertriebs (hinsichtlich der Formate und der Dramaturgie) und konnten sich nach und nach etablieren.

Die Arbeit wurde selbst in den schweren Jahren nie ganz eingestellt, es sind immer wieder spannende, bedeutende neue Werke entstanden, wenn auch insgesamt weitaus weniger Filme produziert wurden. Die Doku-Branche hat es gelernt, selbst unter Kriegszuständen, inmitten großer Schwierigkeiten und im Gegenwind Filme zu machen. Und die Zeit arbeitet für sie. Die glitzernden Erfolgsprodukte der Spielfilmindustrie verlieren bereits am nächsten Tag ihren Glanz, eine Woche später erinnern wir uns selbst an die Aktualitäten von „großer Tragweite” nicht mehr. Die neuen Generationen werden sie in fünfzig oder hundert Jahren mit jenem wohlwollenden Blick betrachten, der den Kuriositäten gebührt, wenn sie jedoch die Vergangenheit ihrer Heimat kennen lernen möchten, wenn sie erfahren möchten, wer ihre Eltern und Großeltern waren, wie sie waren und wie sie lebten, werden sie sich den Dokumentarfilmen zuwenden.
 

Sehenswert – eine subjektive Auswahl 2005—2011 

Tamás Almási: Puskás Hungary (2009)
Csaba Bereczki: Életek éneke (Lebenslied, 2008) 
Zsuzsa Böszörményi, Kai Salminen: Hosszú utazás (Lange Reise, 2007) 
Ibolya Fekete: Utazások egy szerzetessel (Reisen mit einem Mönch, 2005) 
Péter Forgács: Hunky Blues (2009) 
Lívia Gyarmathy: Kishalak… nagyhalak (Kleine Fische… große Fische, 2008) 
Zoltán Farkas Hajdú, Gábor Balog: Az árulásról (Über den Verrat, 2005) 
Attila Kékesi: Motalko – Egy benzinkút krónikája (Motalko – Chronik einer Tankstelle, 2010) 
András Kisfaludy: Kalef – A Moszkva téri galeri (Kalef – die Bande vom Moskauer Platz, 2007) 
Tibor Kocsis: Új Eldorádó 1-2 (Neues Eldorado 1-2, 2004; 2011) 
Kristóf Kovács: Malaccal teljes (Full of Grease, 2007) 
Edit Kőszegi: Menekülés a szerelembe (Flucht in die Liebe, 2006) 
Bori Kriza: Dübörög a nemzeti rock (Rocking the Nation, 2007) 
Sándor Mohi: Imádság (Gebet, 2007) 
Ferenc Moldoványi: Another Planet/Másik bolygó (2008) 
György Pálos: Mit tudjátok ti, ki vagyok én (Ihr habt keine Ahnung, wer ich bin, 2008) 
Zsigmond Gábor Papp: Kelet-nyugati átjáró (Ost-West-Passage, 2009) 
Ágnes Sós: Láthatatlan húrok (Unsichtbare Saiten, 2010) 
Péter Szalay: Határeset (Grenzfall, 2006) 
Júlia Szederkényi: Barlang (Die Höhle, 2010) 
Árpád Szőczi: Drakula árnyéka (Drakulas Schatten, 2009) 
Ágota Varga: Leszármazottak (Die Nachfahren, 2005) 
Dezső Zsigmond: A gyimesi borbély (Der Barbier aus Gyimes, 2008)