Medien und Selbstregulierung
„Freiwillige Normbefolgung durch die Branche“

Freiwillige Normbefolgung_Magazin
Ilona Móricz | Foto: Hernád Géza

In Ungarn konnte sich seit der Wende kein Gremium für medienethische Fragen etablieren, dessen Entscheidungen von allen Parteien akzeptiert würden. Das Unabhängige Medienzentrum (Független Médiaközpont, Center for Independent Journalism; CIJ) bemüht sich zusammen mit führenden Journalisten seit Jahren darum, ein umfassendes System der Medienselbstregulierung zu erarbeiten. Eingriffe des Staates seien in diesem Bereich eigentlich überflüssig, meint Ilona Móricz, die Leiterin des Zentrums – wichtiger wäre, dass die Vertreter der Medien selbst zu einer Einigung über diese Regelungen kommen. Mit Frau Móricz sprachen wir über die „Medienselbstregulierungsinitiative“ des von ihr geleiteten Zentrums, die schon vor einigen Jahren gestartet wurde, aber nach wie vor aktuell ist.

Frau Móricz, gibt es einen Zusammenhang zwischen Ihrer Initiative und dem Ende 2010 verabschiedeten und im März 2011 modifizierten Mediengesetz – und wenn ja, inwiefern? 

Als wir 2007 zusammen mit anderen Journalisten daran gingen, ein neues System der Medienselbstregulierung zu erarbeiten, konnte vom heutigen Mediengesetz noch gar keine Rede sein. Der von uns erarbeitete Ethikkodex wurde in zahlreichen öffentlichen Foren diskutiert, und 2008 konnten wir bereits eine bearbeitete Fassung mit dem Titel „Ethische Richtlinien“ vorlegen, die bei vielen wichtigen Vertretern der Branche auf Zustimmung stieß. 

Wir legten die Prinzipien eines zukünftigen Gremiums für Medienselbstregulierung fest und entwarfen ein Statut für dieses Gremium. Dann kam die Finanzkrise, und damit geriet auch unsere Arbeit ins Stocken. Würde man die damaligen Arbeitspapiere „entstauben“, könnte jetzt dieses überregionale Gremium für Medienselbstregulierung zustande kommen.

Wer sollte sich an der Gründung eines solchen Gremiums beteiligen?

Man braucht schon die größten Medienunternehmen dazu, damit das künftige Gremium wirklich ein Ansehen hat. Nach unserem Vorschlag könnte es in der Form eines Vereins arbeiten.

Unabhängig auch von der Medienbehörde

Das heißt, Sie wollen eine Selbstregulierung unabhängig vom aktuellen Mediengesetz?

Selbstverständlich. Zwar hat das Mediengesetz keinen direkten Einfluss auf die Gestaltung des Selbstregulierungssystems, es hat aber sicher viele dazu bewegt, sich über den Nutzen einer Selbstregulierung Gedanken zu machen.

Nach dem Mediengesetz soll die Medienbehörde die Aufsicht auf bestimmten Gebieten den brancheninternen Organisationen überlassen. Warum sollte das nicht gut sein? 

Bei der Selbstregulierung geht es um die freiwillige und autonome Normbefolgung durch die Branche. Mit- und Selbstregulierung können sich im Prinzip ergänzen, der Staat kann zum Beispiel dabei helfen, den Entscheidungen, die im Rahmen der Selbstregulierung getroffen werden, Geltung zu verschaffen. 

Nur will das Mediengesetz die Gremien der Medienselbstregulierung und ihre Beschlüsse durch ein eigenartiges „Outsourcing” unter Aufsicht stellen. Und das widerspricht bereits dem Prinzip der Selbstregulierung.

In inhaltlichen und ethischen Fragen des Journalismus sollten meiner Ansicht nach die Journalisten entscheiden. Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass infolge der Selbstregulierung langfristig nicht nur die Zahl der Presseprozesse zurückgeht, sondern auch eine allgemeine Verbesserung der Pressekultur eintritt. 

Die Beschlüsse werden von den Redaktionen beachtet, und in einigen Ländern sind sie sogar für die Gerichte richtungweisend. Je besser die Selbstkontrolle in den Medien wirkt und je anerkannter sie ist, umso weniger sind rechtliche Regelungen notwendig.

Nur presseethische Beschwerden

Worin sollten die Aufgaben eines solchen Selbstregulierungsvereins bestehen?

Seine wichtigste Aufgabe wird die Untersuchung der Beschwerden von Konsumenten sein. Das heißt, das neue Gremium soll ausschließlich presseethische und keine juristischen Beschwerden untersuchen. (Anträge auf eine rechtliche Wiedergutmachung nach Verletzungen von Persönlichkeitsrechten müssten nach wie vor beim Gericht gestellt werden, und solche Verfahren könnten unabhängig von den Beschwerden an das Selbstregulierungsgremium eingeleitet werden. Anm. der Redaktion)

Am Verfahren würden sich beide Parteien, sowohl der Beschwerdeführer als auch der Beschwerdegegner, beteiligen, und die Entscheidung würde dann von den dafür zuständigen Räten getroffen. In diesem Prozess der Streitbeilegung würde auch der Mediation, der Vermittlung, eine wichtige Rolle zukommen. Jede Entscheidung, ob rügend oder entlastend, müsste öffentlich sein. 

Können Sie uns Länder nennen, in denen ein solches System bereits funktioniert?

In einigen westeuropäischen Ländern, in Deutschland, Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden zum Beispiel existieren bereits seit Jahrzehnten solche Selbstregulierungsmechanismen. Ich könnte aber auch jüngere Beispiele nennen, Bulgarien oder Bosnien-Herzegowina etwa.

Wir wollen keineswegs das gut bewährte englische oder das effektive deutsche System mechanisch kopieren. Das hat sich selbst in Ländern nicht bewährt, die einander kulturell näher stehen: In Estland wollte man das finnische System adaptieren, und man merkte schon bald, dass ein eigenes System entwickelt werden muss.

Schnelligkeit und Blumenstrauß

Warum ist das englische System gut, und warum ist das deutsche effektiv?

Sie treffen beide den Kern der Selbstregulierung: den sachlich fundierten Entscheidungsprozess und die Öffentlichkeit. Das Beschwerdeverfahren ist öffentlich, schnell und wirksam. Und die Beschwerdeführer erheben oft gar keinen Anspruch auf eine rechtliche Wiedergutmachung, im Gegenteil, meist wollen sie gerade den Gerichtsprozess vermeiden.

Manchmal wünschen sie nur paar nette Worte, oder sie erwarten nur eine Geste von der Zeitung, die sie in negativem Licht darstellte, die Anerkennung dessen, dass sie doch Recht haben. Aus England könnte man viele gute Beispiele der Vermittlung und vielfältige Formen der Wiedergutmachung nennen, sei es ein Entschuldigungsbrief oder ein Blumenstrauß.

In Deutschland steht ebenfalls die Schnelligkeit des Beschwerdeverfahrens im Vordergrund. Nicht unwesentlich ist auch der Aspekt, dass man sich in den Fällen, in denen der deutsche Presserat entscheidet, kostspielige Gerichtsprozesse erspart, was sowohl für das jeweilige Presseunternehmen als auch für die betroffenen Privatpersonen einen konkreten finanziellen Gewinn darstellen kann.

Was die Öffentlichkeit anbelangt, liefert uns Norwegen das beste Beispiel: Dort werden bestimmte Sitzungen des Gremiums für Medienselbstregulierung live im Fernsehen übertragen. Dadurch wird die ganze Gemeinschaft in fachinterne Fragen des Journalismus einbezogen.

Langwierige Konsenssuche

In Ungarn kam bis jetzt eigentlich nur in der Werbebranche ein funktionsfähiges System der Selbstregulierung zustande, in den Medien hingegen kaum. Wo liegen die Gründe dafür?

Die Journalistengemeinde ist stark gespalten, vor allem politisch. Alles braucht Zeit, zudem ist die Medienindustrie eine vielverzweigte und sich ständig verändernde Branche.
 

Das Mediengesetz 2010

Die Weichenstellung für die Schaffung eines neuen institutionellen und inhaltlichen Rahmens, an dem sich die Medien in Ungarn zukünftig orientieren sollen, erfolgte durch eine Verfassungsänderung und die Verabschiedung mehrerer Gesetze, darunter auch das am 21. Dezember 2010 verabschiedete Gesetz über „Mediendienste und Massenkommunikation“, das bisher die stärksten Reaktionen auslöste.

Diese 120 Seiten umfassende Sammlung von Rechtsvorschriften wird kurz als das neue Mediengesetz bezeichnet. Es wurde kraft der Zweidrittelmehrheit verabschiedet, über die die Parteienkoalition FIDESZ-KDNP im Parlament verfügt. Mit Ausnahme der Paragraphen über behördliche Sanktionen trat es am 1. Januar 2011 in Kraft.

Das Regelwerk wurde von mehreren einheimischen NGOs, die sich für Pressefreiheit und Menschenrechte einsetzen, sowie auf internationaler Ebene von der OSZE kritisiert. Nach der Verabschiedung des Gesetzes leitete die Europäische Kommission eine Untersuchung ein, um festzustellen, ob das Gesetz den Richtlinien der Gemeinschaft für audiovisuelle Mediendienste entspricht.

Infolge dieser Untersuchung musste die ungarische Regierung das Gesetz bereits im März 2011 novellieren.

Dabei wurde der Geltungsbereich des Gesetzes auf Mediendienste und Presseprodukte beschränkt, die auf wirtschaftlichen Nutzen ausgerichtet sind, somit fallen zum Beispiel Blogs privaten Charakters nicht mehr darunter. 

Eine ausgewogene Berichterstattung wird nur noch von den Fernseh- und Rundfunkanstalten verlangt. Glaubwürdigkeit, Schnelligkeit und Genauigkeit in der Berichterstattung wird auch nicht mehr von jedem einzelnen Medienerzeugnis, sondern von den Medien insgesamt gefordert.

Das Parlament setzte auch jene Paragraphen des Gesetzes außer Kraft, die die offene oder indirekte Verletzung von Personen und Gruppen sowie das Anbieten von Mediendiensten ohne vorherige Registrierung bei den Behörden untersagen.

Obwohl die Regierung die Sache damit als erledigt betrachtete, wurden die Änderungen sowohl vom Europäischen Parlament als auch vom Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen als unbefriedigend bewertet.

Sie beanstandeten, dass die Zusammensetzung der Medienbehörde politisch nach wie vor einseitig ist (sie wurde ausschließlich mit Personen besetzt, die den Regierungsparteien nahestehen, und die Mitglieder wurden gleich für neun Jahre ernannt), und dass die einzelnen, doch sehr verschiedenen Sparten der Medienbranche einheitlich reguliert werden. Die Kritiker beanstandeten zudem, dass die weiterhin vage formulierten Gummiparagraphen des Gesetzes einen weiten Spielraum für behördliche Eingriffe bieten.

Im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes druckten mehrere Zeitungen eine Ausgabe mit leerem Titelblatt, und es gab zahlreiche Bürgerproteste gegen das Gesetz. Die Protestkundgebung am 15. März 2011 in Budapest war die größte zivile Demonstration in Ungarn seit der Wende.