Roma-Sprachen in Ungarn
„Die Schriftsprache zu Beasch haben wir erschaffen“ – Anna Orsós im Gespräch

Die indoeuropäische Sprachfamilie
Die indoeuropäische Sprachfamilie | Anna Orsós (Forschungszentrum für Romologie), nach István Tótfalusis Stammbaumskizze

Wie viele Menschen sprechen heute in Ungarn Roma-Sprachen, wie viele Roma-Sprachen gibt es überhaupt, wie steht es um sie in der Welt der Wissenschaft, in den Schulen und im Alltag? Über diese Fragen haben wir uns mit Anna Orsós unterhalten, der Inhaberin des Lehrstuhls für Romologie und Erziehungssoziologie der Universität Pécs.

Sprache und Wissenschaft

Die Menschen wissen im Allgemeinen ziemlich wenig über die Roma, noch weniger aber über die von den Roma gesprochenen Sprachen. Von wie vielen Sprachen ist überhaupt die Rede? Welche Grundlagen sollten uns bezüglich der Roma-Sprachen und ihrer Dialekte bekannt sein?

Auch ich werde immer wieder damit konfrontiert, dass es viele Missverständnisse gibt bezüglich der von den Roma gesprochenen Sprachen. Dabei lassen sich diese aus sprachwissenschaftlicher Sicht eigentlich leicht erfassen. Im Kreise der ungarischen Roma sind zwei Sprachen zu nennen. Die eine ist das Romani, mit indischen Ursprüngen. Romani hat viele-viele Dialekte: Eine ihrer verbreitetsten Varianten ist das Lovari-Romani, aber zu dieser Sprache zählen auch das sogenannte Sinti-Romani, das vom Deutschen als Kontaktsprache beeinflusst wurde, sowie der karpatische Roma-Dialekt. Vom Romani unterscheidet sich bedeutend die mit dem Lateinischen verwandte, archaische, aus der Zeit vor der Spracherneuerung stammende Version des Rumänischen, die wir hierzulande als Beasch (ung.: beás) bezeichnen. Auch diese Sprache teilt sich in mehrere Dialekte auf.

Wie ist heute in Ungarn die Situation der Roma-Sprachen im akademisch-universitären Bereich? Gibt es Sprachwerkstätten, werden Wörterbücher herausgeben, gibt es eine einheitliche beschreibende Grammatik?

Aus welcher Perspektive wir es auch betrachten, die Lage ist desolat. Was die akademische Situation betrifft, ist es besonders schlecht um uns bestellt. Die wissenschaftliche Beschreibung der Sprache Beasch wurde fertiggestellt, auch die englische Ausgabe ist in Arbeit. Romani aber existiert in unzähligen Dialekten, in sehr viel mehr Versionen als uns momentan in Ungarn bekannt. Daher ist hier die Lage komplizierter als im Fall von Beasch. Letztere Sprache wird außerhalb unseres Landes ja nur an wenigen Orten und von wenigen Menschen gesprochen.

Die Sprache Beasch existierte bis zu den 1990-er Jahren nur in gesprochener Form. Die Gründung des Gandhi-Gymnasiums in Pécs (des ersten Gymnasiums der Volksgruppe der Roma in Europa – Anm. d. Red.) brachte den Anspruch mit sich, in einem Gymnasium dieser Volksgruppe auch die Sprache dieser Volksgruppe zu unterrichten. So mussten wir damals der Tatsache ins Auge sehen, dass Beasch keine Schriftsprache war. Die Schriftsprache zu Beasch haben wir erschaffen, auch auf internationaler Ebene, was aber noch lange nicht heißt, dass wir uns nun zufrieden zurücklehnen könnten. Wir haben noch eine Menge zu tun.

Minderheit in der Minderheit

Sprachwissenschaftliche Forschungsgruppen existieren hierzulande nicht, es kann lediglich von einigen isoliert arbeitenden Fachleuten die Rede sein, und auch im Ausland ist die Lage nicht viel besser. Dort gibt es aber immerhin berufliche Netzwerke und Konferenzen. All dies trifft aber ausschließlich auf das Romani zu; die Sprache Beasch verfügt nur in Ungarn über eine Schriftlichkeit und daran anknüpfende wissenschaftliche Tätigkeit. In den umliegenden Ländern – in denen noch Beasch-Gemeinschaften leben – stecken hinter den in kleiner Zahl anzutreffenden sprachwissenschaftlichen Initiativen in der Regel keine Beasch-Muttersprachler. Unsere Sprache findet auch in den wissenschaftlichen Kreisen nicht die notwendige Beachtung; wir sind eine Minderheit innerhalb der Minderheit. Was das Romani betrifft, herrscht dort ein Prestige-Kampf der unterschiedlichen Dialekte. Je nach Land gibt es einzelne anerkannte Experten, die aber bezeichnenderweise jeweils einen anderen Dialekt sprechen, daher wird es wohl noch eine ganze Weile dauern, bis sie sich auf bestimmte sprachliche Standardisierungen einigen können. Aber selbst dieser Anspruch wurde bisher noch nicht wirklich kristallklar formuliert.

Im Bildungssystem verfügen die Roma-Sprachen über keinen angemessenen Stellenwert. Heute gibt es in Ungarn in diesem Bereich weder eine Lehrerausbildung noch nennenswerte sprachwissenschaftliche Forschungsarbeit. Viele treten als Lehrende der Roma-Sprachen auf, aber leider verfügen nur wenige unter ihnen über sprachwissenschaftliche Kenntnisse. Es gibt bei uns keine gut funktionierende, bewusst aufgebaute Sprachdidaktik. Hinzu kommt, dass dieser Aufgabenbereich zum Monopol der für Subventionsskandale berühmt-berüchtigten Landesverwaltung der Volksgruppe gehört. Diese stellt die „Fachleute“ zur Verfügung, die in Wirklichkeit Personen sind, die ihre Sprache mehr oder weniger beherrschen, auf jeden Fall aber fernab des fachlichen Kreises agieren. Und diese Leute verdienen ziemlich gut an den Fördergeldern. Aber all das stört mich nicht wirklich, zumindest solange nicht, bis die Publikationen dieser Personen nicht auch noch als Lehrbücher deklariert werden.

Ein anderes Problem ist, dass es nicht genügend Lehrkräfte an den Schulen gibt. Charakteristisch für die Qualität des Unterrichts ist etwa die Tatsache, dass manchen Lehrern diese Aufgabe nur deshalb zugeteilt wird, weil sie es ansonsten nicht auf die vorgeschriebene Stundenzahl bringen würden. Rechtlich gesehen besteht also die Möglichkeit, Roma-Sprachen in den Schulen zu lernen, die Voraussetzungen sind aber nicht gegeben.

Und die aktuellste Tendenz durchkreuzt alle beruflichen Bestrebungen: Die Lehrer der Sprachschulen liefern sich einen Wettstreit, wer wie schnell jemanden auf die staatliche Sprachprüfung der mittleren Niveaustufe vorbereiten kann. Und die längste Periode sind drei Monate! Man muss kein Sprachwissenschaftler sein um einzusehen, dass man sich keine einzige Sprache innerhalb von drei Monaten auf mittlerem Niveau aneignen kann.

Man hat uns ermahnt, wir sollten nicht diese Sprache sprechen

Wie viele Personen sprechen heute die Roma-Sprachen in Ungarn und jenseits der Landesgrenzen? Gibt es Forschungsergebnisse oder Schätzungen diesbezüglich?

Seit den 1950er Jahren hat es keine umfassende Untersuchung der in Ungarn gesprochenen Roma-Dialekte mehr gegeben. Damals hatte Kamill Erdős 13 Dialekte identifiziert und festgestellt, dass der Lovari-Dialekt des Romani der am meisten verbreitete war. Laut der 1971 von István Kemény geleiteten Roma-Studie sprechen lediglich 21 Prozent der ungarischen Roma einen der Dialekte des Romani. Wie der aktuelle Stand ist, das wissen wir nicht, da wir keine frischen Daten haben. Es entsteht der Eindruck, dass es von keinem als wichtig erachtet wird, dass derartige Forschungen durchgeführt werden. Mit Sicherheit ist die Situation heute schlechter als vor einigen Jahrzehnten. Im Unterricht und in den Sprachschulen ist Lovari verbreitet, was offensichtlich damit einhergeht, dass die anderen Dialekte noch weiter in den Hintergrund gedrängt werden. In der 40 000 bis 50 000 Personen umfassenden Beasch-Gemeinschaft habe ich die Erfahrung gemacht – und auch meine sprachpraktischen Forschungen belegen dies –, dass der Sprachwechsel extrem weit vorangeschritten ist: Lediglich die älteste Generation spricht die Sprache, sie haben eine emotionale Bindung dazu. Die Enkelkinder sprechen jedoch hauptsächlich nur Ungarisch; Beasch betrachten sie als Fremdsprache. Hinter alledem steckt die Tatsache, dass Schüler, deren Muttersprache eine Roma-Sprache ist, in der Schule benachteiligt werden, wenn sie sich in ihrer Muttersprache äußern. Auch wir, die mittlere Generation, erinnern uns lebhaft an derartige Szenen: Man hat uns ermahnt, wir sollten nicht diese Sprache sprechen.

Es gibt aber natürlich auch Positives zu berichten. Viele interessieren sich für die Roma-Sprachen, und das ist ein Kapital, mit dem man geschickt arbeiten könnte. Ich habe die Erfahrung, dass sich viele Menschen, wenn sie es denn in Angriff nehmen und an korrekte Informationen gelangen können, in die Sprache verlieben (wenngleich sie bisweilen enttäuscht sind, dass man sie nun einmal nicht innerhalb von drei Monaten lernen kann). Die Sprache ist nämlich nicht bloß ein isolierter Lehrstoff, sondern ein spannendes und komplexes Ausdrucksmittel für die Kultur, das Leben, und die Traditionen einer Gemeinschaft.

Anna Orsós Anna Orsós ist Inhaberin des Lehrstuhls für Romologie und Erziehungssoziologie an der Universität Pécs. Sie wurde 1963 in Szekszárd geboren. Ihr Lehrerdiplom erlangte sie in Pécs in den Fächern Ungarisch, Russisch und Pädagogik. In ihrer Doktorarbeit sowie ihrer Habilitationsschrift befasste sie sich analytisch mit den Möglichkeiten zur Bewahrung der Sprache Beasch (ung.: beás). Ihre wissenschaftliche Forschungsarbeit liefert Beiträge zu zahlreichen Themen in folgenden Bereichen: Soziolinguistik, Gender und Sprachgebrauch, Sprachpolitik, Menschenrechte aus linguistischer Sicht, Sprachunterricht und Sprachgebrauch bei Minderheiten, allgemeine Sprachpädagogik. Sie agiert als Bildungsexpertin und ist Kuratorin der gemeinnützigen Stiftung für die Roma in Ungarn. Sie war Mitglied des ehemaligen Landesrates für Erziehung und ist Mentorin und Lehrerin des Fachschulprogramms János Arany. Außerdem leitet sie die Akkreditierte PROFEX-Sprachprüfstelle für Beasch und das an der Universität Pécs angesiedelte Forschungszentrum für Romologie.

Das Goethe-Institut unterstützt die Arbeit von RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes, und flankiert es mit eigenen Veranstaltungen.

Uns liegt als Goethe-Institut an der Ununterscheidbarkeit der Roma-Sprachen in ihrer Wertigkeit gegenüber den anderen Sprachen Europas. Europa ist ein Kontinent der Vielsprachigkeit, und es wäre nicht komplett ohne die Roma-Sprachen.