Daniel Kehlmann in Budapest
„Beim Schreiben suche ich die Herausforderung“

Daniel Kehlmann
© Draskovics

Daniel Kehlmann war Ehrengast des 25. Budapester Internationalen Buchfestivals, und erhielt den Budapest-Großpreis. Pünktlich zum Buchfestival erschien im Magvető Verlag sein neuster Roman Tyll auf Ungarisch.

Vor drei Jahren war Daniel Kehlmann schon einmal Gast beim Budapester Internationalen Buchfestival, doch er hätte nicht gedacht, dass er innerhalb so kurzer Zeit als Ehrengast wiederkehren würde – meist wären ja die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, denen diese Rolle zuteil wird, älter als er. Die Einladung sei also eine Überraschung für ihn gewesen, dabei gilt er auch in Ungarn als beliebter Autor, dementsprechend erwartete ihn ein voll gefüllter Saal am Veranstaltungsort im Budapester Millenáris Park. Der in Berlin und New York lebende Schriftsteller ist mit seinen 43 Jahren bereits weltbekannt, und auch die ungarische Verlagslandschaft schloss sich dem weltweiten Trend schnell an: So erschien beim Magvető Verlag in der Übersetzung von Zsuzsa Fodor ein Kehlmann-Band nach dem anderen: Die Vermessung der Welt (2006), Beerholms Vorstellung (2008), Ruhm (2009), F (2014), Du hättest gehen sollen (2017), Ich und Kaminski (2017) und schließlich der neueste Roman Tyll, dessen Geschichte in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs spielt. Im Zentrum des Romans, der auf historischen Ereignissen fußt, jedoch in für Kehlmann typischer Manier häufig in eine Art surreales Märchen übergeht, steht die – eigentlich aus einer anderen Epoche stammende – Figur von Tyll Ulenspiegel. Der deutsche Volksheld Till Eulenspiegel ist auch in Ungarn dafür bekannt, der mittelalterlichen Gesellschaft einen Zerrspiegel vorzuhalten und sie so zu verspotten. Seine lehrreichen Geschichten wurden zwar erstmals Anfang des 16. Jahrhunderts niedergeschrieben, doch stammen eigentlich aus dem 14. Jahrhundert. Unzählige Male wurde diese Figur, mit der Daniel Kehlmann durchaus zu kämpfen hatte, bereits literarisch verarbeitet. Es sei nämlich schwierig gewesen, ihr eine Stimme zu verleihen: Der Autor habe sich vorstellen müssen, wie diese Figur, die in den Originalerzählungen eigentlich keine Persönlichkeit besitzt, sprechen oder handeln könnte. Kehlmann habe sich jedoch schon seit langem dafür interessiert, was von dieser spöttischen Figur übrig bleibt, schält man die didaktische Schicht von ihr ab – darüber sprach er im Rahmen seiner Buchpräsentation am Samstag mit seinem Gesprächspartner, dem ungarischen Schriftsteller Krisztián Grecsó.
 
Dies ist nicht der erste Band Kehlmanns, der dem Genre des historischen Romans zuzuordnen ist, wobei sich in der Geschichte von Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss deutlich mehr, als Ausgangspunkt dienende wahre Begebenheiten fanden, von denen sich der Autor dann Richtung Fiktion bewegen konnte – so entstand der 2005 erschienene Roman Die Vermessung der Welt, eine Geschichte über die beiden genannten Wissenschaftler und die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft.

Im Rahmen der Eröffnung des Buchfestivals nahm der Autor den Budapest-Großpreis entgegen. Bei dieser Gelegenheit unterhielt er sich auf der Bühne mit Moderator Balázs Lévai und gab allen voran einen Blick hinter die Kulissen seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Kehlmann verfasste seinen ersten Roman im Alter von 22 Jahren. Eigentlich sei ihm nur eine längere Novelle vorgeschwebt, doch dann habe er überrascht festgestellt, dass ein 200 Seiten langer Roman daraus geworden ist, der noch dazu schnell herausgegeben wurde. Auch seither ist er ein produktiver Autor, was natürlich nicht bedeutet, dass er keine unfertigen Arbeiten in der Schublade hätte. Über diese Arbeiten sagt er, er habe sie liegen gelassen, als er das Gefühl hatte, die Texte seien leer geworden und bedeuteten keine echte Herausforderung mehr für ihn. Wie sich herausstellt, ist wohl gerade die Herausforderung seine wichtigste Triebfeder beim Schreiben.
 
„Immer“, antwortet Kehlmann, als ihn Balázs Lévai fragt, ob er denn manchmal das Gefühl habe, an seine Grenzen gestoßen zu sein. Auch als er Tyll schrieb, hätte der Autor oft geglaubt, er würde es nicht schaffen. „Finde Dinge, die du nicht schaffen kannst und dann versuch sie doch zu schaffen“ – so oder so ähnlich ließe sich auch Kehlmanns Motto beschreiben, das er übrigens vom US-amerikanischen Prosaschriftsteller Jonathan Franzen entlehnt hat. „Finde etwas, von dem du denkst, du solltest nicht darüber schreiben, und dann schreib genau darüber“ – zwar wurde diese Aussage laut Kehlmann in einem etwas anderen Zusammenhang getätigt, doch sie passt auch hier ganz gut. Dementsprechend wenig überraschend dürfte es sein, dass es Kehlmann bis heute nicht abschreckt, wenn er seine Texte anfangs als schlecht empfindet. Er meint, die erste Rohfassung sei immer ein schlechter Text, doch sie müsse nun einmal geschrieben werden, da es sonst nichts gäbe, das man aufbessern kann. Kehlmann arbeitet präzise, einzelne Kapitel von Tyll hat er beispielsweise sieben Mal umgeschrieben. Seiner Ansicht nach macht einen nicht das Schreiben zum Schriftsteller – Schriftsteller ist derjenige, der seine Texte zu Ende schreibt, selbst dann, wenn sie nicht gut sind. Die Gedichte und Novellen am Anfang seiner Laufbahn seien – laut eigener Aussage – schrecklich schlecht gewesen, doch er habe einfach Geschichten erzählen wollen, deswegen habe er zu schreiben begonnen.
 
Seither erweitert Kehlmann seinen Horizont von Buch zu Buch. Tyll bedeutete für ihn auch deswegen eine Herausforderung, weil der Dreißigjährige Krieg eine so lange Reihe an Ereignissen umfasst, mit vielen, vielen Wendungen und Akteuren, dass es dem Autor schwerfiel, einige bestimmte Figuren und Ereignisse herauszugreifen. Schließlich wurde Tyll zu einer der zentralen Figuren. Eine weitere große Herausforderung beim Verfassen des Romans sei für den Autor die Beschreibung des dörflichen Lebens gewesen. Kehlmann ist Stadtmensch, er hat nie auf dem Land gelebt und zuvor auch noch nie über eine Dorfgemeinschaft geschrieben, wie sie zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges hätte aussehen können.

Zur Genauigkeit seiner Texte gehört auch der sorgfältig komponierte Aufbau. Kehlmann könne sich vorstellen, dass manche Leserinnen und Leser den Zusammenhängen nicht immer folgen können, doch seines Erachtens würde gut geschriebene Prosa mit feinen Details auch bei ihnen für Unterhaltung sorgen. Während des Schreibens, meint er, wäre es ein großer Fehler an Leserinnen und Leser zu denken, die das Werk vielleicht nicht in seinem vollen Umfang verstehen. „Es wäre zynisch für unintelligente Menschen zu schreiben – dafür gibt es viel zu viele intelligente Menschen“, erklärt er.
 
Das Budapester Internationale Buchfestival ist nicht Kehlmanns einzige Verbindung zu Ungarn, sondern da gibt es noch einige ungarische Schriftsteller, so zum Beispiel Péter Esterházy, den Kehlmann sogar persönlich getroffen hat und dessen mitunter wichtigstes Werk, Harmonia Caelestis (in der deutschen Übersetzung von Terézia Mora) eine Inspiration für Kehlmann war. Er fand Gefallen an der fragmentarischen Struktur und den wechselnden Zeitebenen dieser Familiengeschichte, und aus dieser Inspiration schöpfte er später auch die Idee für seinen Roman F, in dem er sich ebenfalls mit der Geschichte einer Familie befasst. Über Der Scheiterhaufen, den neuesten Roman von György Dragomán (aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer) verfasste Kehlmann sogar eine Rezension. Schon Dragománs vorherigen Roman, mit dem Titel Der weiße König (ebenfalls übersetzt von Lacy Kornitzer), bezeichnete Kehlmann als Meisterwerk, doch Der Scheiterhaufen ist in seinen Augen eines der besten Werke, das in seiner Generation geschrieben wurde. In Kehlmanns Roman F taucht außerdem ein weiterer ungarischer Bezug auf, und zwar der Rubik-Würfel. Wie unvorhersehbar die literarische Interpretation manchmal sein kann, zeigte sich darin, dass viele Leserinnen und Leser den Würfel als zentrales Motiv empfanden, in dem – wie das Meer im einzelnen Tropfen – der Aufbau des gesamten Romans enthalten ist. Obwohl der Würfel in gewisser Weise tatsächlich die Romanstruktur widerspiegelt, wurde er erst in letzter Sekunde in den Text hineingeschrieben, da der Verleger Kehlmann geraten hatte, die Figur des traurigen Priesters Martin mit irgendetwas "aufzupeppen".

Daniel Kehlmann hat zwar gerade einen Roman über den Dreißigjährigen Krieg geschrieben, eine für Europa so tragische Epoche, doch laut eigener Aussage geschah das nicht, weil ihn die heutige Situation Europas an diese düstere Parallele erinnert hätte. Schließlich sei die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs eine viel furchtbarere Zeit als unsere gewesen, sie könne eher mit der heutigen Situation in Syrien verglichen werden. Dennoch glaubt Kehlmann, dass die Ereignisse in der Welt auf den Schriftsteller einwirken: Es sei bestimmt kein Zufall gewesen, dass seine Wahl gerade auf eine solch tragische Epoche gefallen ist.