Interview mit Karl Schlögel
„Man dachte, dass nach 1989 alles irgendwie sich einrenken würde ...“

Karl Schlögel
© Csoszó Gabriella

Anlässlich der Vorstellung der ungarischen Ausgabe seines Essaybandes Marjampole in Budapest antwortete der deutsche Historiker auf unsere Fragen: Er erzählt im Gespräch unter anderem, wie die letzten anderthalb Jahrzehte seine Sicht auf Europa verändert haben.

Ihr Buch wurde 2005 verlegt. Hat sich Ihre Sicht auf Europa in den letzten anderthalb Jahrzehnten geändert? Wenn ja, wie?
 
Die Essays zu diesem Band sind über einen längeren Zeitraum hin entstanden – seit Mitte der 1980er Jahre. Es gab eine Aufbruchstimmung. Man ahnte, dass es nicht einfach sein würde. Aber dass es zu Krieg und ethnischen Säuberungen wie in Jugoslawien kommen würde oder dass Russland militärisch intervenieren und die Krim annektieren könnte, das lag jenseits meines Vorstellungsvermögens. Man dachte, dass nach 1989 alles irgendwie sich einrenken würde.
 
Wie hat sich das Interesse in Westeuropa für Osteuropa verändert? Hat sich damit auch die Sichtweise Westeuropas auf Osteuropa verändert?
 
Lernprozesse gehen sehr langsam. Man wusste im Westen ja wenig über das östliche Europa – selbst unter gebildeten Leuten. Für viele war es eine Entdeckung – Krakau, Riga, Budapest. In Wahrheit blieb die Hauptrichtung aber immer der Westen – oder eben China.
 
Sie vertraten die These, dass die prägenden Impulse für ein neues Europa aus dem ehemaligen Ostblock kommen werden. Woran denken Sie konkret? Ist das immer Ihre Meinung?
 
Ich hoffte auf ein Ende der Entweder-Oder-Denkweise des Kalten Krieges, dass man Europa in seiner Einheit neu denken würde. Rekonstruktion einer Kulturlandschaft, Lernen von den Erfahrungen der Bürgerrechtsbewegungen, dem Runden Tisch. Nun zeigt sich, dass es ohne Institutionen nicht geht und die brauchen Zeit. Und in jedem Land gibt es andere Traditionen und Erfahrungen. Aber dass es in Polen oder Ungarn zu so scharfen Reaktionen gegen Europa kommen würde, darauf war ich nicht gefasst.
 
Wie kann im europäischen Entwicklungsprozess entscheidendes Potenzial den einzelnen Orten zugeschrieben werden, auch in Zeiten der Globalisierung?
 
Alles Wichtige geschieht „on the ground“, vor Ort. Bürgermeister sind so wichtig wie Regierungen. Es sind die Städte und Gemeinden, die die Last der sog. Transformation tragen und sie bewältigen müssen. Ich glaube, dass die „metropolitan corridors“, die Städteachsen genauso wichtig sind wie die Nationalstaaten. Es gibt kein Zurück aus der Globalisierung, allenfalls geht es um Moderierung der Prozesse, um Einhegung. Aber das ist schwieriger als sich Multikulti-Romantiker das vorgestellt haben.
 
Welche Bedeutung schreiben Sie den Kräften der Zivilgesellschaft in Europa zu?
 
Ich spreche lieber von der Gesellschaft als ganzer – also auch Unternehmer, nicht nur NGOs –, sie entscheidet letztlich über Entwicklung, Stabilität. Sie braucht Zeit. Im Augenblick wird sie elementar bedroht von korrupten Clans, mafiösen Strukturen, kleptokratischen Cliquen, die für ihr eigenes Versagen Sündenböcke verantwortlich machen und die Menschen gegeneinander ausspielen. Diese Mechanismen zu analysieren, wäre eine der wichtigsten Aufgaben der „denkenden Gesellschaft“.
 
 
Karl Schlögel, Berlin im August 2018

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