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Persönliche Freiheit
Wir müssen wach bleiben und diskutieren

Greece Goes To Lockdown Due To Covid-19
Foto: Nicolas Economou © picture alliance / NurPhoto

Wie gewichtet man die Freiheit, etwas zu tun, gegenüber der Freiheit, vor etwas bewahrt zu werden? Die Frage bleibt auch in Zeiten der antizipierten Katastrophe wichtig.

Von Nora Bossong

"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Vielleicht kommen wir mit Carl Schmitt nicht gegen Corvid-19 an, aber das Virus gibt trotzdem Grund, zwischen allen Podcasts mit dem sympathischen Virologen Christian Drosten auch mal wieder Schmitts Politische Theologie zu lesen, die mit diesem berühmten Satz anhebt. Und wenn nicht zu Carl Schmitt, dann könnten wir zu Giorgio Agamben blicken, der in seinem Homo-sacer-Werk mit Schmitts Diktum die Strukturen totalitärer Macht im 20. Jahrhunderts beschrieb und auch aktuell vor ihrer zumindest spurenweise Wiederkehr in der Gegenwart meint warnen zu können. Manchmal schießt er dabei über das Ziel hinaus, und das ist derzeit sowohl höchst problematisch wie dennoch debattenrelevant.

So war sich Agamben zu Beginn der italienischen Corona-Epidemie noch sicher, dass wir es mit einem Ausnahmezustand im gefährlichen Sinne zu tun haben, wobei er die Gefahr weniger in den Viren als in der Einschränkungsvirulenz des Staates sah. Er prangerte ein Vorgehen an, das die bürgerlichen Grundwerte und -rechte aushöhle und einen Ausnahmezustand in die Normalität zu überführen drohe wegen etwas, das doch kaum mehr sei als eine Grippe. Vermutlich hätte Agamben selbst das eine Woche später schon anders formuliert, zuvor sprang aber schon der ebenso wie Agamben politisch links stehende Philosoph Slavoj Žižek in die Quere und rückte die Dinge etwas zurecht: "Agambens Reaktion ist nur die äußerste Form einer bei der Linken weitverbreiteten Einstellung. Die durch die Ausbreitung des Virus verursachte 'übertriebene Panik' soll demnach dem doppelten Zweck dienen, einerseits durch soziale Kontrolle Macht auf Menschen auszuüben und anderseits Rassismus salonfähig zu machen. Diese gesellschaftliche Interpretation behandelt das Virus also als Konstrukt und blendet den Realitätsgehalt der Gefahr vollständig aus."

Auch, wenn man Agambens Einschätzung nicht teilt, ja sogar strikt zurückweist, sind Beiträge wie seiner wichtig, damit wir wach bleiben und darüber diskutieren, was derzeit passiert. Es geht im Kern um die simple Frage, wie positive Freiheit zur negativen steht, also die Freiheit, etwas zu tun, zur Freiheit, vor etwas bewahrt zu werden. Als schlichte Faustregel dafür kann man sagen: Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen verletzt wird. Oder wie es die linksliberale Denkerin Judith Shklar formuliert: "Jeder erwachsene Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist." Da wir es aber mit einer komplexen Situation zu tun haben, bei der die sich bedeckt haltende Zukunft mal wieder eine wichtige Rolle spielt, ist es nicht ganz so leicht zu beantworten, wo genau die Grenze verläuft.

Weder Sabotage noch Alarmismus ist derzeit hilfreich, sondern das faire Hinterfragen der Mittel. Genau das macht ja eine freiheitliche Gesellschaft aus, auch in Ausnahmezeiten. Verschwörungstheorien und reflexartiges, undifferenziertes Staatsmisstrauen waren noch nie sonderlich hilfreich. Auch allen, die jetzt von radikal linker Seite auf den Systemsturz hoffen, muss man entgegnen: Exzellent erkannt, Krisenzeiten können zu eben jener Destabilisierung führen, die für einen Umsturz günstig ist. Allerdings sind da auch schon die extrem Rechten draufgekommen. Und gewiss ist Agambens Warnung in diesem Punkt nicht falsch: Die Gewöhnung an einen Ausnahmezustand mit Einschränkungen der gewohnten Freiheiten bereitet eher auf die Akzeptanz eines autoritären Staates vor als auf Anarchie.
Man könnte dafür mal wieder Agamben gegen Agamben lesen. Den Ausnahmezustand, vor dessen Wiederkehr er dieser Tage zu warnen meinte, hat er in seinem Großprojekt Homo sacer ja genau untersucht. Es geht um Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der durch übermäßigen Gebrauch während der Weimarer Republik quasi zur Norm wurde und schließlich durch die Notverordnung der nationalsozialistischen Herrschaft ersetzt. Der Ausnahmezustand war "nicht mehr auf eine äußere und vorläufige Situation faktischer Gefahr bezogen und tendiert[e] dazu, mit der Norm selbst verwechselt zu werden".

Es ist eine paradoxe Beruhigung, wenn man feststellen kann: Genau das ist derzeit nicht der Fall, denn die faktische Gefahr besteht ja. Auch sind die Einschränkungen der gewohnten Bürgerrechte, von der Beschränkung der Bewegungsfreiheit bis zur Missachtung des Postgeheimnisses, im Falle einer Epidemie verfassungsrechtlich verankert. Es gibt also klare Grenzen und die Auswertung etwa von Bewegungsdaten kann nicht einfach, weil man sich so bequem daran gewöhnt hat, für andere Zwecke weiterverwendet werden. Seinen Vergleich zur heutigen Situation in Italien kann Agamben nur dadurch bewerkstelligen, dass er die reale Lebensgefahr, die von der epidemischen Verbreitung des Virus ausgeht, negiert und wenn nicht zu Fake News, dann doch zu aufgebauschter Panikmache erklärt. Das ist doppelt ärgerlich, denn zum einen ist Verharmlosung einer realen und nicht nur konstruierten Pandemie gefährlich. Zum anderen brauchen wir derzeit neben allem, was zum Schutz der Menschen vor dem Virus zählt, eben gerade auch einen wachen Blick für die Dynamiken staatlicher Macht, um bei einem tatsächlichen Missbrauch nicht längst eingelullt zu sein. Ein solcher Blick aber muss präzise sein.

Ein ebenso relevanter Unterschied zwischen der heutigen und der in Homo sacer analysierten historischen Situation zeigt sich im Zugriff der damaligen nationalsozialistischen Staatsmacht auf das nackte Leben, das in den Konzentrationslagern getötet werden durfte und getötet wurde. Genau das gegenteilige Verhältnis von Staatsmacht zum Menschen aber drückt sich in den Maßnahmen aus, die zum Schutz jedes einzelnen Lebens derzeit umgesetzt werden. Angebrachter als ein Rundum-Misstrauen gegenüber staatlichem Handeln in Epidemiezeiten ist die Frage, ob Schutz und Wert des Lebens womöglich doch Einschränkungen unterliegen. Ist ein Nationenkalkül bei der Verteilung von dringend benötigten medizinischen Hilfsmitteln nicht längst anachronistisch? Der Schutz der eigenen Bevölkerung darf nicht zu einer Ausrede werden, das Leben anderer geringer zu bewerten. Ob der Versuch, das Leben zu schützen, gelingt, wird sich gerade an Orten wie dem katastrophal überfüllten Flüchtlingslager auf Lesbos zeigen. Wenn wir dort wegsehen, werden wir als solidarische Gemeinschaft versagen.
So wenig es derzeit darum geht, die aktuellen Vorsichtsmaßnahmen zu boykottieren oder desavouieren, so sehr bleiben es außerordentliche Einschränkungen bürgerlicher Rechte in demokratischen, freiheitlichen Gesellschaften. Deshalb sollten wir uns die Balance staatlicher Macht und bürgerlicher Freiheiten vor Augen führen – damit eben nicht das geschieht, wovor Agamben warnt, nämlich ein sanftes Übergleiten einer Ausnahmesituation mit bestimmten Restriktionen in einen Normalzustand beziehungsweise ein späterer Missbrauch dieser Ausnahmesituation durch tatsächlich antifreiheitliche, antiliberale Herrschaftswünsche. Frei nach dem Motto: Die Leute haben sich ja jetzt dran gewöhnt, also weiter so! Ein solches Nachdenken ist allemal sinnvoller als der nächste Hamsterkauf.

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