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Friedenspreis für Amartya Sen
Gegen die Dummheit

Amartya Sen
Amartya Sen | © DPA

Der Friedenspreis vermag seinem Ruhm nichts hinzuzufügen. Aber wenig ließe sich so gut mit dem Begriff des Friedens verbinden wie Amartya Sens Beiträge zur Theorie und Empirie der Armut und der Gerechtigkeit.

Von Jürgen Kaube

Zwei Mädchen finden zwei Äpfel, einen großen und einen kleinen. Mädchen A zu Mädchen B: "Nimm dir einen." Mädchen B nimmt den größeren. Mädchen A ist verstimmt: "Das war unfair." Mädchen B: "Weshalb, welchen hättest du denn genommen?" Mädchen A: "Na, den kleineren." Mädchen B: " Dann sei doch zufrieden, genau den hast du ja jetzt."
 
Der indische Ökonom und Sozialphilosoph Amartya Sen ruft diese Geschichte in seinem Essay "Rationale Dummköpfe" auf, in dem er 1977 die gängigen Verhaltensannahmen der Wirtschaftswissenschaften kritisierte. Die Verstimmung des Mädchens, so sein Argument, zeige an, dass dessen hypothetische Wahl nicht auf einem Hang zu kleinen Äpfeln oder auf Sympathie mit dem Gegenüber beruhte, sondern auf einem Gefühl dafür, was sich gehört. Die utilitaristische Replik ihrer Freundin greift daher, so witzig sie ist, am Problem vorbei. Denn die Bindung an Normen, so Sen, treibe einen Keil zwischen unsere Entscheidungen und unser persönliches Wohlergehen. Die ökonomische Theorie setze beides im Begriff "Präferenz" allzu schnell gleich.

Mitunter ein fast zu groß geschnittenes Gewand

Sens Werk ist ein einziger Angriff auf solche Kurzschlüsse: von der Wirtschaftslage auf die Wohlfahrt, von der Güterverteilung auf das Ausmaß an Gerechtigkeit, vom Einkommen auf die Lebenserwartung und so weiter. Seinen Ruhm erwarb er nach Arbeiten über das Auseinanderfallen individueller und sozialer Entscheidungsrationalität vor allem durch Studien über Hungersnöte und ihren Zusammenhang mit Meinungsfreiheit, sowie über Begriff und Messbarkeit von Grundbedürfnissen, Armut und Lebensstandards. In den späteren Jahren generalisierte der vor allem in Delhi, Oxford und Harvard lehrende Sen die Ergebnisse seiner empirischen Untersuchungen in Büchern über Ungleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit.
 
Durch Sens Sinn dafür, dass all diese Ideen erst in Institutionen wirksam werden können, wurden die Gedanken des Theoretikers, der eigenem Bekunden zufolge Zeit seines Lebens auf einem Campus gelebt hat - der Vater war Chemieprofessor in Dhaka (Bangladesch) -, eminent praktisch. Denn natürlich ist es beispielsweise folgenreich, wenn fraglos angenommen wird, das Pro-Kopf-Einkommen einer Bevölkerung sei informativ über ihren Lebensstandard. So folgenreich wie es das Verständnis von Messgrößen wie ihrer Grenzen ist, wenn Wohlfahrtsstaaten oder internationale Organisationen sich mittels Indikatoren ein Bild der sozio-ökonomischen Lage von Gesellschaften machen. Der "Human Development Index" der Vereinten Nationen geht maßgeblich auf Sens Überlegungen zurück. Umgekehrt stehen Entwicklungshilfe, Armutsbekämpfung und Bildungspolitik oft ganz stark unter dem Eindruck von Kennziffern, die bei näherer Betrachtung ihrerseits wirken, als seien sie von den "rational fools" errechnet worden, die Sen seit 1977 kritisiert.
 
Jetzt hat der Börsenverein Amartya Sen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen. Als wir zuletzt zählten, das war vor knapp dreizehn Jahren, hatte Sen siebenundachtzig Ehrendoktorate und seit 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, um nur die prominenteste Ehrung seines Werks zu erwähnen. Der Sechsundachtzigjährige gehört zu den meistgerühmten Wissenschaftlern der Welt. Ihm nun auch den Friedenspreis zu verleihen, vermag diesem Ruhm nichts hinzuzufügen. Aber es ist eine sehr gute Entscheidung, weil "Friedenspreis" ja mitunter wie ein fast zu groß geschnittenes Gewand für die Geehrten wirkt. Denn nicht immer ist ja selbst auf den zweiten Blick ersichtlich, worin der konkrete Zusammenhang von Romaneschreiben, Fotografieren, Bildermalen oder kulturhistorischen Studien mit Friedenswirkungen gefunden werden könnte.
 
Im Fall Amartya Sens genügt dafür der erste Blick. Seine Beiträge zur Theorie und Empirie der Armut, der ökonomischen Entwicklung und einem an konkreten Fragen orientierten Konzept der Gerechtigkeit lassen sich zwanglos mit dem Begriff des Friedens verbinden. Auf die eventuelle Sorge, der Buchhandel, der den Preis spendiert, werde womöglich am Geehrten ökonomisch nicht froh, weil der kein Bestsellerautor ist, möchten wir einerseits mit Mädchen A antworten: Darum geht es nicht. Und andererseits empfehlen, sich Sens Bücher über "Die Identitätsfalle", "Die Idee der Gerechtigkeit" oder "The Argumentative Indian" mit den wunderbaren Essays über seine Heimat im Buchhandel zu besorgen. Alle hätten etwas davon.

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