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Krieg in der Ukraine
Keller-Tagebuch aus Charkiw

Krieg in der Ukraine: Keller-Tagebuch aus Charkiw
Während über der Erde geschossen wird, findet Ruslan Unterschlupf in einem Schutzkeller in der Nachbarschaft. Auch eine seiner Katzen holt er irgendwann dazu. | Foto (Detail): © Ruslan Niyazov

In den ersten sieben Tagen hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in Charkiw bereits krasse Spuren hinterlassen. Die zweitgrößte Stadt im Nordosten des Landes steht unter Dauerbeschuss. Das Zentrum um den Platz der Freiheit ist schon stark zerstört. Auch Wohnviertel werden täglich angegriffen. Dutzende Menschen sind getötet, noch mehr verletzt worden. Viele versuchen, die Metropole zu verlassen. Wer das nicht kann oder will, versteckt sich in Unterführungen und Hauskellern. So auch Ruslan Niyazov, der gegen die ständige Gefahr und Angst anschreibt: In seinen Nachrichten und Posts für Freunde in den sozialen Netzwerken beschreibt er Alltagsszenen, Hoffnung und Sorgen. Manchmal teilt er Fotos und kurze Live-Videos.

Auszüge aus dem digitalen Kriegstagebuch von Ruslan Niyazov. Protokolliert von Peggy Lohse für das Deutsch-tschechisch-slowakische Onlinemagazin Jádu.

Tag eins, 24. Februar 2022
Morgen: Der Morgen des russischen Angriffs – 04:16 Uhr

Leute wachen auf, fünf Uhr morgens, es dröhnt. Leute schieben Koffer. Jedenfalls diejenigen, die Koffer haben und wissen wohin.

In diesen Tagen soll mein Enkel auf die Welt kommen. Wo wird er geboren? Im Bombenschutzraum, im Wald. Scheiße, atme durch, Ruslan, atme.

Der Vorschlag, meine Katzen auf die Straße zu jagen, macht mich hysterisch.

Gut, dass es Internet gibt. Welch ein Glück.

Der Stadtverkehr ist jetzt kostenlos. In Geschäften und Kiosks ist Wasser schon ausverkauft. In der Metro gibt es kleine Trinkwasserbrunnen.

Sohn angerufen, sie fahren weg. Gut. Unklar, wohin. Schlecht. Das Kind im Bauch lebt, sie halten durch. Mich haben sie nicht gefragt, aber ich wäre auch nicht mitgefahren. Ich bleibe noch bei meinen Tieren ... so lange das möglich ist. Wie schön ist es doch zu Hause, ich will nirgendwo anders hin. Fenster abgeklebt, beobachte die Katzen. Militärtechnik und Feuerwehr fahren die Straße runter. Ich atme weiter.

Katzen vor gesicherten Fenstern damit sie nicht durch Druckwellen von Einschlägen splittern. | Foto: © Ruslan Niyazov

Mittag: Sonne und Explosionen – 12:19 Uhr

Ich komme aus dem Geschäft: Sonne und Explosionen. Noch nicht nah. Ich bekomme Panik. Leute sitzen in der Metro, wer wo kann. Ich bin zu Hause. Die Nachbarn höre ich auch.

Praktische Frage: Wie schlafen? Wahrscheinlich im Bad. Die Fenster noch mit einer Matratze sichern. Ich habe keine Möglichkeiten wegzufahren, und warum sollte ich auch? Ich will in meinem Zuhause leben, in meinem Land, mit meinen Katzen unter einem friedlichen Himmel. Die Menschen wollen keinen Krieg, sie wollen nicht töten. Krieg – das ist Entmenschlichung, das ist Faschismus! Wir müssen den gesunden Menschenverstand erhalten!

Ich will in meinem Zuhause leben, in meinem Land, mit meinen Katzen unter einem friedlichen Himmel.

Nachmittag: Die ersten Tränen – 16:05 Uhr

Bin am Nachbareingang vorbeigegangen. Alle im Keller. Fremde lassen sie nicht rein, mich auch nicht. Ich solle mir einen anderen Ort suchen. Nicht einmal jetzt sehen sie mich als Menschen. Weil ich Trans bin. Ich gefalle ihnen mit meinem Aussehen nicht. Das ist schlimmer als das allgemeine Elend. Obwohl, nichts Neues. Aber ich dachte, dass wenigstens jetzt ... Aber nein. Sie sind einfach schon fünf Jahre von mir schockiert, verdammt.

Tränen brechen durch, tropfen einfach aufs Telefon.

Abend: Die erste Nacht im Keller – 20:17 Uhr

Ich habe doch jemanden gefunden, wohin ich gehen kann, bei mir im Viertel. Es kracht. Ich bin hingerannt. Hier gibt es die Möglichkeit, in den Keller zu gehen, die Patenfamilie lässt mich rein. Allein in der Dunkelheit habe ich verstanden, dass meine Nerven nicht aus Gummi sind. Die Katzen habe ich im Flur eingeschlossen.

Zahlreiche Menschen verstecken sich vor dem Beschuss in normalen Wohnhauskellern. Zahlreiche Menschen verstecken sich vor dem Beschuss in normalen Wohnhauskellern. | Foto: © Ruslan Niyazov

Tag zwei, 25. Februar 2022
Morgen: Besser nicht allein sein – 06:54 Uhr

Lebendig. Ruhig bei uns. Gut, dass ich entschieden habe, nicht allein zu sein. Sprechen beruhigt. Das Einschlafen war, gelinde gesagt, schwierig.

Ich halte durch, bin es ja gewohnt, allein klar zu kommen. Ich suche nach Pluspunkten und versuche, mich zu loben. Ich lag doch falsch damit, dass ich allein klarkomme. Mir half eure Unterstützung sehr.

Mittag: Schüsse in der Ferne – 12:08 Uhr

Zwei Stunden ist es schon nicht mehr still. Ich lausche, telefoniere. Ich wollte zum Geldautomaten gehen, nicht geschafft, weil Beschuss zu hören war. Ich sitze bei den Gastgebern, bereit, jeden Moment in den Keller zu rennen. In der Ferne wird geschossen. Momentan gibt es für mich keine Hilfe. Ein Freund hat angerufen und mit mir gesprochen. Ging mir gleich besser.
 

Die Eltern des 16-jährigen Mädchens nehmen ihre Angst vor Granaten nicht ernst, lachen sie aus, sie wird hysterisch. Ich verstehe jetzt, dass ich hier in diesem Keller am richtigen Ort bin und wofür.

Nachmittag: Im Keller am richtigen Ort – 15:02 Uhr

Im Keller angekommen. Wasserkocher ist da, gar nicht so feucht hier. Habe zwei Schichten Klamotten an. Ich will so sehr nach Hause. Die Katzen verstehen doch nicht, warum sie nicht in die Zimmer dürfen, warum ich kurz vorbeikomme, durch die Wohnung renne und wieder weggehe.

Die Eltern des 16-jährigen Mädchens nehmen ihre Angst vor Granaten nicht ernst, lachen sie aus, sie wird hysterisch. Ich verstehe jetzt, dass ich hier in diesem Keller am richtigen Ort bin und wofür. Schwierig, Kindern zu erklären, warum man im Keller sein muss. Bilder zeigst du ihnen auch nicht, um sie nicht zu traumatisieren, aber beschäftigen muss man sie irgendwie. Das Kind hyperventiliert. Sind rausgegangen, frische Luft schnappen.

Abend: Gedanken über Heldentum – 20:09 Uhr

Die heldenhaftesten Menschen von denen, die keine Waffen tragen, sind die Straßenbahnfahrer. Wir sind im Schutzraum – und sie fahren. Vielleicht ist ja doch wer an den Haltestellen. Ich bewundere diesen Heroismus. Hier fliegen Flugzeuge. Wir sind wieder im Keller.

Eine Kellernische zum Überleben. Eine Kellernische zum Überleben. | Foto: © Ruslan Niyazov

Tag drei, 26. Februar 2022
Morgen: Leben unter Fliegeralarm und Artilleriebeschuss – 06:49 Uhr

Rausgekrochen, um in der Wohnung zu übernachten. Von Krach Aufwachen, Anziehen in einer Minute haben wir schon gelernt. Der Morgen des dritten Tages. Normal, den Umständen entsprechend. Beschlossen, Tee zu trinken, sich waschen, solange es still ist. Bin zu den Miezen gegangen. Die Fellnasen sind am Leben. Fressen.

Achtung, Fliegeralarm! Artilleriebeschuss! Alle in die Schutzräume! So leben wir.

Mittag: Psychologische Betrachtungen – 12:17 Uhr

Am zweiten Tag – Angst vor geschlossenen Türen. Sicher Posttraumatische Belastungsstörung, dachte ich. Am dritten Tag kracht es – ich sitze da und rauche. Und die Eltern im Keller erklären den Kindern, dass Krieg schlecht ist! Dass man niemanden töten darf. Ich bin stolz auf meine Leute. Wir dachten schon, Krieg – das ist Vergangenheit. Den Kindern müssen wir eine andere Mentalität mitgeben, sonst hört das nicht auf.

Mir scheint, wir halten die Stellung nicht nur an Land und in der Luft, sondern auch in den Köpfen und dem Geist. Und wisst ihr, ich denke, wir gewinnen. Ich bin nicht für Frieden um jeden Preis. Nein. Ich bin dafür, dass wir siegen, und für den gerechten Zorn als Antwort auf diesen hinterhältigen Überfall.

Kurz zum Rauchen rausgekrochen und wieder Flieger. Schon ganz nah. Betet für Charkiw, wünscht uns das Überleben, fürchtet euch um uns. Es hört nicht auf, solange es nicht gestoppt wird. Wir warten. Ruhm den Helden!
 

Mir scheint, wir halten die Stellung nicht nur am Boden und in der Luft, sondern auch in den Köpfen und dem Geist. Und wisst ihr, ich denke, wir gewinnen.

Nachmittag: So eine Art Blogger – 16:40 Uhr

Als ich las „Ich lese dich“, ist mir aufgegangen, dass ich jetzt so eine Art Blogger bin. Weil man sich ja auch irgendwie unterhalten muss im Keller, während die schwere Militärtechnik oben rumpelt.

Gut gemacht. Bin nach Hause gegangen, um die Isomatten zu holen, weil ich nicht krank werden sollte. Keller ist Keller. Heute kann von Schlaf keine Rede sein. Bei uns ist es „heiß“ und unheimlich. In anderen Vierteln nicht.

Abend: Genug Kaffee bis zum Morgen – 19:00 Uhr

Ich habe meine Lieblingstasse mit gemahlenem Kaffee dabei, der Deckel ist fest, die Tasse hängt mit Karabiner am Rucksack. Der Kaffee reicht bis zum Morgen. Da dachte ich mir, poste ich doch mal was wie ein Blogger – und habe meine Tasse gezeigt. Ich mag die wirklich schon viele Jahre.

Hier im Keller bin ich mutig. Aber in die Wohnung gehen zum Essen, ins Bad – schrecklich. Der Kampf geht weiter. Mir ist scheißkalt im Keller.

Stromanschlüsse in den Kellern sind begehrt – für Wasserkocher und Aufladekabel. Stromanschlüsse in den Kellern sind begehrt – für Wasserkocher und Aufladekabel. | Foto: © Ruslan Niyazov

Tag vier, 27. Februar 2022
Morgen: Kinder in Panik – 01:13 Uhr

Schlafen, wenn es klappt, in Abschnitten, wenn Ruhe ist. Kalt.

Ich schrieb, am dritten Tag hat sich meine Psyche angepasst und ich habe mich im Griff. Den Kindern fällt das schwerer. Kinder mit PTBS, mit Angst, die nur langsam weggehen wird. Mein Patenkind kann nicht einschlafen. Es ist so schmerzhaft zu sehen, wie sich die Psyche eines Kindes in zwei Tagen verändern kann. Aber: Erstmal überleben.

Heute gibt es eine neue Taktik. Vereinzelt ist Militärtechnik durchgekommen und beschießt Wohnhäuser, sogar Einfamilienhäuser. Sie wollen ins Zentrum. Man findet sie, schlägt sie zurück, in der ganzen Stadt gibt es Straßenkämpfe. Raketenbeschuss auch, aber nicht über uns. Anordnung: Niemand darf rausgehen, aber die Nerven wollen Vögel und Sonne.

In vier Tagen habe ich vergessen, wann ich zuletzt Geld benutzt habe.

Nachmittag: Keine Gewöhnung, nur keine Kraft mehr für Angst – 14:51 Uhr

Hier ist ganz nah etwas eingeschlagen. Wie im Nachbarhof. Und wir sind schon so entspannt. Aber noch zu früh. Wann endet das? Das ist keine Anpassung, es fehlt nur die Kraft, Angst zu haben. Wir sind jetzt mehr Leute. Neue Kinder sind aufgetaucht, unterhalten sich jetzt selbst. Gut, dass es Strom gibt. Schlecht, dass natürlich alle Steckdosen belegt sind.

Hunger, ich esse Trockenfrüchte. Kochen hat heute nicht geklappt. Gefährlich. Katzen haben gestern gefressen. Ich hoffe, es ist noch was übrig, und ich hoffe, dass ich morgen hingehen kann.

In vier Tagen habe ich vergessen, wann ich zuletzt Geld benutzt habe.
 
  • Spätestens alle zwei Tage müssen die Katzen in der Wohnung gefüttert werden. Der Weg vom Keller um wenige Hausecken ist gefährlich. Foto: © Ruslan Niyazov
    Spätestens alle zwei Tage müssen die Katzen in der Wohnung gefüttert werden. Der Weg vom Keller um wenige Hausecken ist gefährlich.
  • Eine Katze kann später mit in den Schutzkeller kommen. Foto: © Ruslan Niyazov
    Eine Katze kann später mit in den Schutzkeller kommen.

Tag fünf, 28. Februar 2022
Früher Morgen: Die Psyche macht Umwege – 03:27 Uhr

Niemand in der Ukraine weiß, welches Datum ist, aber alle wissen sicher, dass heute der Fünfte ist.

In der Nacht entschieden wir, dass während der Verhandlungen wohl nicht geschossen wird und gingen in die Wohnung zum Essen. Kochten Nudeln. Ich war so müde und schlief ein. 02:30 Uhr aufgewacht. So ein tolles Gefühl nach dem Schlaf, zwei Minuten lang. Solange das Gehirn noch nicht realisierte, wo ich bin, was bei uns passiert.

Wenn man sich ständig im Keller aufhält, ist die Gefahr groß, krank zu werden. Ich halte immer noch durch, huste nur, bin selbst überrascht. Manchen schmerzen die Beine bis hin zu Krämpfen, chronische Krankheiten verschlimmern sich. Haben gestern diskutiert, wie plötzlich alle Corona vergessen haben.

Wieder Explosionen, alle wachen auf. Wir rennen. Patentante: „Naja, wenn Krieg ausbricht, dann, weiß nicht, müssen wir wohl in den Keller umziehen.“ Am fünften Tag hat sie nicht begriffen, dass der Krieg schon da ist, dass eine Granate nur Sekunden fliegt. Schutzmechanismus der Psyche oder einfach Dummheit? Keine Ahnung. Solche Leute gibt es viele. Die Psyche macht Umwege, will sich nicht abfinden.

Starke Männer rauchen und reden über ihre Angst vor dem kleinsten Rascheln. Keiner wollte mit mir nach Hause gehen. Zu gruselig. Sie alle haben Kinder.

Morgen: Verhandlungen und Beschuss – 07:40 Uhr

„Ich schreibe, also bin ich“ – ein klasse Motto. Wenn es ruhig ist, kann ich detailliert und klug schreiben, aber jetzt bin ich nervös.

Oh, gerade rechtzeitig zurückgekehrt. Es wurde geschossen. Thermosflasche, Getreide geholt, Unterwäsche und Wasser. Und Notizbuch und Kuli, um weiter zu schreiben, auch wenn der Strom ausfällt.

Abend: Nerven liegen blank, im Rucksack liegen Bücher – 18:23 Uhr

Es war sehr gruselig, nach Hause zu gehen. Aber ich war gestern nicht, also musste ich heute. Um die Miezen zu füttern. Als ich ankam, sah ich in den Zeitungen, was nun in der Stadt los war.

Es gibt weniger Essen, aber noch ist was da. Tee fehlt. Starke Männer rauchen und reden über ihre Angst vor dem kleinsten Rascheln. Keiner wollte mit mir nach Hause gehen. Zu gruselig. Sie alle haben Kinder.

Ich bin mit den Nerven am Ende. Habe versucht, mich mit einfachen, friedlichen YouTube-Videos abzulenken, aber da setzt Panik ein. Sorge um die Katzen. Gedanken, dass alles umsonst war und alle sterben werden. Die größte Frage ist, wann das enden wird. Eine Antwort gibt es nicht.

Oh, ich dachte, ich hätte sie ausgepackt! Ich habe zufällig zwei Bücher in meinem Rucksack! Jetzt ist alles in Ordnung.
 
  • Im unbeheizten Keller muss man sich warm anziehen, um nicht auch noch krank zu werden. Foto: © Ruslan Niyazov
    Im unbeheizten Keller muss man sich warm anziehen, um nicht auch noch krank zu werden.
  • Überraschung! Im Rucksack sind noch zwei Bücher aus Vorkriegszeiten: Erich Fromms „Haben oder Sein?“ und Sarah Knights „You do You“. Foto: © Ruslan Niyazov
    Überraschung! Im Rucksack sind noch zwei Bücher aus Vorkriegszeiten: Erich Fromms „Haben oder Sein?“ und Sarah Knights „You do You“.

Tag sechs, 1. März 2022
Morgen: Bomben zerstören Platz der Freiheit – 06:54 Uhr

Guten Morgen! Frühling. Ich war im Bad. In der Ferne sind Explosionen zu hören. In manchen Vierteln ist der Strom ausgefallen.

Oh Gott, am Hauptplatz war jeder Stein von historischem Wert. Meine Beine erinnern sich noch, wie oft ich dort langlief. Das ist, als wären sie mit einem Panzer über mein Herz gefahren.

Raketen von zwei Seiten. Wir sind wie durch ein Wunder nicht im Zentrum der Ereignisse. Ich übertreibe nicht, erlebe, wie es ist, aber ich kann mir kein positives Bild machen. Wie nicht in Ungläubigkeit verfallen, ich atme einfach.

Wir haben den Luftangriff überlebt. Wieder Luftalarm. Was ich für den Hauptplatz fühle, für meine Stadt, das ist jetzt: Verlust eines Geliebten. Wir haben gegessen. Der Strom flackert. Wir sind lebendig.
 

Sie ballern auf Menschen, Häuser, alles, was mir wichtig ist. Sie verheizen mein ganzes Leben. Wofür, wozu?

Abend: An heute gewöhne ich mich nie – 17:30 Uhr

Abend. Ich lag den halben Tag niedergeschlagen da. Alles zu viel. War nochmal oben auf Toilette, schaffte es gerade noch, mich zu waschen und rannte schnell wieder weg. Jetzt trotzdem nicht besser.

Flugzeug über uns. Scheiße, die Nerven sind total verbraucht. Der Mensch gewöhnt sich an alles, aber an den heutigen Tag, denke ich, gewöhne ich mich nie. Sie ballern auf Menschen, Häuser, alles, was mir wichtig ist. Sie verheizen mein ganzes Leben. Wofür, wozu? Die Erde bebt.

Wir leben. Das Flugzeug ist weg. Durchatmen. Die Kinder haben es gleich vergessen und spielen. Ich stehe da, zittere, mein Herz schmerzt. Erwachsene haben viele Erinnerungen, um die es schade ist, und man weiß noch nicht, um was es noch schade sein wird.
 
  • Ruslan Niyazov – der Blogger aus dem Schutzkeller. Foto: © Ruslan Niyazov
    Ruslan Niyazov – der Blogger aus dem Schutzkeller.
  • Wichtig: Lieblingstasse und genügend Kaffee bis zum nächsten Morgen. Foto: © Ruslan Niyazov
    Wichtig: Lieblingstasse und genügend Kaffee bis zum nächsten Morgen.
  • Schlafen im Schutzkeller gelingt oft nur in kurzen Ruhephasen ohne Beschuss. Foto: © Ruslan Niyazov
    Schlafen im Schutzkeller gelingt oft nur in kurzen Ruhephasen ohne Beschuss.

Tag sieben, 2. März 2022
Morgen: Eine Woche im Kriegszustand – 08:46 Uhr

Lebendig. Nach Hause zu gehen ist immer größerer Müll: Explosion, ich will mich mit meiner Katze im Keller unseres Hauses verstecken. Meine Nachbarn sagten, mit Katze darf ich nicht rein. Sie haben einen Hund. Jetzt wieder im Keller mit vernünftigen Menschen. In einer Nebenstraße, nicht weit. Der Weg ist trotzdem schrecklich gefährlich.

Nicht ich rette die Katze, sondern die Katze rettet mich.

Mittag: Essen und Einigkeit – 11:23 Uhr

In den Geschäften gibt es wieder Essen. Nicht alles natürlich, aber Eier, Getreide, Konserven. Ich gehe nicht. Ich kann nicht bezahlen. Ich werde versorgt, hungern werde ich nicht. Ich habe ja auch meine Vorräte abgegeben. Weiter werden wir sehen. Bin lebendig und mit Katze.

Mehrfachraketenwerfer sind nicht nah, aber wir alle im Keller. Fürchten eine Attacke. Über der Stadt flog ein Kampfjet.

Abend: Wer rettet wen? – 19:33 Uhr

Nicht ich rette die Katze, sondern die Katze rettet mich.



Seit dem 6. März ist Ruslan auf der Flucht. Er möchte zu Verwandten nach Frankreich.

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