Literarische Übersetzung
Stil des Faust als übersetzerisches Problem

Faust. Der Tragödie zweiter Teil im Katona József Theater
© Nagy Zágon

Goethes Faust ist ein sehr vielfältiges Werk sowohl was die Verskunst betrifft als auch in sprachlicher Hinsicht. Der Übersetzer und Schriftsteller László Márton erzählt in fesselnden Momentaufnahmen, wie er bei der Übertragung ins Ungarische die dramaturgische Funktion der reichen Reimtechnik fand und das begriffliche Konzept des Dramas im Getümmel der verschiedenen Sprachschichten aufrecht zu erhalten suchte.

Faust. Der Tragödie Erster Teil habe ich noch Anfang der 1990er Jahre für einen Verlag übersetzt, für mich war es aber bereits damals wichtig, nicht bloß einen leicht lesbaren Text zu schaffen, sondern einen, der auch auf der Bühne funktioniert. Mit der Übertragung des zweiten Teils begann ich im Auftrag einer Bühne, des Pester Katona József Theaters, und erst später tauchte die Möglichkeit auf, die zwei Teile (sowie die frühere, von Goethe nicht publizierte Fassung des Werkes, den sogenannten „Urfaust“ und das von einem unbekannten Autor verfassten Faust-Volksbuch aus dem Jahr 1587) auch zusammen, in einem Band herauszugeben.

All das greift die Frage der Gattung und des Stils auf. Welcher Gattung kann Faust zugeschrieben werden? Wie kann der Stil des Werkes in der heutigen ungarischen Sprache dargestellt werden?

Ein Drama mit gigantischem dichterischem Potenzial


Die Frage nach der Gattung ist relativ einfach zu beantworten, es hängt nämlich von der Entscheidung des Übersetzers ab. Die früheren Übersetzer hielten den Faust für ein Gedicht, das zufällig in Dialogform geschrieben wurde. Ich halte ihn aber für ein Drama, das gigantisches dichterisches Potenzial aufzeigt. Es ist eine andere Frage, dass diese Meinung auch in sich selbst weittragende sprachliche und metrische Folgen hat. Ich versuchte, die dramaturgischen Funktionen sowohl der vielfältigen Rondeaus im Werk als auch Goethes Reimtechnik zu finden. Die Rondeaus, bzw. ihre charakteristischen Textstellen versuchte ich auf einer „Ehrlichkeitsskala“ oder auf einer „Direktheitsskala“ zu rangieren und sie dementsprechend lockerer oder strenger zu behandeln. Der Madrigalvers ist zum Beispiel eine „ehrliche“ Form, er gibt die Persönlichkeit und die Position des Sprechenden „direkt“ zurück, so können – wenn es von der Sinneinheit verlangt wird – die vier Versfüße durch einen fünften ergänzt werden, und an der Stelle des Kreuzreims kann umarmender Reim stehen. Der barocke Alexandriner ist aber Stilimitation, folglich „nicht ehrlich“, dort muss man straffe und genaue Zäsuren setzen, sowie den Wechsel der männlichen und weiblichen Reime einhalten. Und die Reime des Faust dürfen nie als Dekoration aufgefasst werden, sondern als Ausdruck der Machtverhältnisse, bzw. der willensmäßigen und emotionalen Nachdrücke. (Wie bewusst das Goethe gemacht hat, beweist uns die ekstatische Reimszene des 3. Aufzugs im zweiten Teil.)

Die Veranschaulichung oder Darstellung des Stils des Faust in der heutigen ungarischen Sprache ist ein viel komplizierterer Fall. Es könnte Thema einer eigenen Studie sein, was der Stil im Allgemeinen bedeutet und wie der Stil eines literarischen Werkes wahrgenommen werden kann, und was Goethe über den Stil gedacht hatte. (Wenn ein Übersetzer die Entscheidung trifft, Letzteres außer Acht zu lassen, muss er damit trotzdem im Klaren sein, was er außer Acht lässt.) Es lohnt sich, sich auch darüber Gedanken zu machen, ob es überhaupt eine „heutige ungarische Sprache“ gibt und falls ja, bis wann sie als „heutige“ gilt. Ab wann und bis wann dauert ein gut abgrenzbarer Sprachzustand? Zum Beispiel „die Epoche der ungarischen Spracherneuerung“, die zeitlich ungefähr mit Goethes Epoche zusammenfiel.

Regionalismen und archaische Sprachzustände


All dies ist aus dem Grund interessant, weil Faust ein sehr mannigfaches Werk ist, nicht nur was die Verskunst betrifft, sondern auch aus sprachlicher Hinsicht. Die in der Jugend spielenden Szenen widerspiegeln einen markant unterschiedlicheren Sprachzustand als die Szenen im Alter. Noch dazu kommen in den vorherigen Textstellen Regionalismen aus der Umgebung Frankfurts und aus dem Rokoko übernommene französische Wörter häufig vor, in den späteren aber sind für Goethe charakteristische Wortschöpfungen oder Wortdeutungen abundant. Einige Beispiele, aufs Geratewohl: Zeile 11927, das Wort „Ringverein“ ist kein Verein, sondern der Reigen der tot geborenen Söhne. In Zeile 10315 kann „Kriegsunrat“ sowohl die Ratlosigkeit des Kriegsrates als auch den Dreckstrom bedeuten, den Kriege als Folge haben. Am Ende des Werkes, in den Zeilen des Chorus Mysticus heißt „vergänglich“ nicht ephemer, sondern verschwindend, das Wort „Gleichnis“ steht hier nicht als eine Art Metapher, Vergleich, sondern bezieht sich auf einen Gegenstand oder eine Person, der oder die einem gleich wird. „Ereignis“ – was Goethe als „Eräugnis“ geschrieben hatte und somit auf das Wort „Auge“ hindeutete – ist keine Begebenheit, sondern ein Anblick oder eine Erkenntnis.

Was soll dann der Übersetzer mit diesen Problemen anfangen? Wie soll er den Text dem Leser und dem Zuschauer näher bringen, ohne ihn stark zu vereinfachen? Meine Vorstellung war folgende: das Begriffsnetz und die poetische Konzeption des Textes so genau wie möglich zu behalten und die sprachlichen Zeitschichten sowie musealen Seltsamkeiten aufzuopfern. Ich versuchte nicht, die jugendlichen Szenen archaischer zu übersetzen als die zuletzt geschriebenen Szenen (obwohl das deutschsprachige Lesepublikum etwas Derartiges wahrnehmen kann) und führte keine Experimente mit Dialektwörtern durch. Bei der Wortwahl aber versuchte ich mich nach der Logik des Textes zu richten.

Die subversive Kraft des Textes


Es gibt dann Stellen, Wendungen, wo dem Text überraschende Aktualität verliehen werden kann. Diese muss der Übersetzer nicht unbedingt bemerken, er kann sie auch unter den Teppich kehren. Ich strebte aber danach, von der subversiven Kraft des deutschen Textes so viel wie möglich zurückzugeben. In Zeile 11274 verwendet Mephistopheles das Wort „Kolonisieren“, woraus ich „kitelepítés“, d.h. „Aussiedlung“ machte: Die grässlichen Schatten der Massenaussiedelungen im 20. Jahrhundert überschatten die gewalttätige Aussiedlung (wie wir wissen, eigentlich die Tötung) von Baucis und Philemon. In Zeile 10406 verwendet er das Wort „Schafsnatur“ für die sich vom Kaiser abwendende Menge; in den Ohren der ungarischen Leser klingt die Wendung „birka nép“, also „Schafsvolk“ auch unabhängig von Goethe vertraut. In der Klassischen Walpurgisnacht wird der fehlende vierte Kabir „der Rechte“ genannt. Goethe hatte es nicht wissen können, dass dieses Wort ein paar Generationen später auch eine politische Bedeutung in sich tragen wird. Auf Ungarisch wurde daraus „mély-kabír“ („Tief-Kabir“), der „híg kabírok helyett / is gondolkodni bír“ („Er sagte, er sei der Rechte / Der für sie alle dächte“). Ich hoffe, dass der riesige Schatten von László Németh mich zur Mitternacht in einem dunklen Wald wegen dieser Lösung nicht zur Rede stellen wird (László Németh, 1901 – 1975, war ein berühmter ungarischer Autor, Essayist und Dramatiker – Anm. der Übersetzerin).

Im Zusammenhang mit dem Stil tauchen auch weitere Fragen auf. Mit der Wiedergabe der philosophischen, meditativen und lyrischen Stellen gibt es keine besonderen Probleme, das hat eine lebendige Tradition in der heutigen ungarischen Sprache. Aber wie sollen die angeheiterten Studenten im Auerbachkeller sprechen, ohne dass die Treue erzielende Übersetzung eine Sprachdenkmalfälschung wäre? Wie sollen die plündernden Marodeure sprechen? Offensichtlich grob, aber in Goethes Zeit funktionierten Grobheit und verbale Aggression anders als in der heutigen ungarischen Alltagssprache. Das gleiche Problem werfen die als Lamien auftretenden Prostituierten und die liederlichen Hexen der Walpurgisnacht auf. Der deutsche Originaltext trägt viel mehr Zweideutigkeiten in sich als der ungarische, schon einmal wegen der zeitlichen sprachlichen Distanz. Wenn es trotzdem lösbar ist, hat der Übersetzer Glück. Als zum Beispiel Mephistopheles in Margaretes Zimmer „herumspürt“ und sagt: „Nem minden lánynak ilyen tiszta“ („Nicht jedes Mädchen hält so rein“), dann lobt er in erster Linie nicht Margaretes sorgfältiges Staubwischen. Wenn aber der Übersetzer den subversiven Kräften die Tür öffnet, auch wenn nur einen Spaltbreit, kann der Text nackt und zu schrill werden.

Es gibt keine perfekte Lösung, die gestrengen und kundigen Kritiker finden bei allen Übersetzungen von Klassikern der Weltliteratur einen Angriffspunkt. Die Übersetzung spiegelt die Konzeption des Übersetzers wider und die Zeit, in der er lebt, ebenso wie den Originaltext und die Absichten des Verfassers in ihm. Antal Váradi, der erste Übersetzer von Faust. Der Tragödie zweiter Teil machte vor 130 Jahren darauf aufmerksam, dass es sich lohnt, Goethes großes Werk in einem bestimmtem Abstand und als ein Ganzes zu betrachten: In diesem Fall gleicht sich die Disharmonie der Details aus. Die Sprache der Übersetzung Váradis ist seit Langem veraltet, aber dieser Gedanke, den er im Nachwort ausgeführt hatte, ist bis heute gültig.