Interview mit Noémi Kiss
„Europa ist ein sehr persönlicher Kontinent“

Kiss Noémi
© Csoszó Gabriella

Anlässlich der Vorstellung der neuen und erweiterten Ausgabe ihrer osteuropäischen Reisebeschreibungen Schäbiges Schmuckkästchen antwortete die ungarische Autorin auf unsere Fragen: Sie erzählt im Gespräch über Länder und Schriften.

Der Titel Schäbiges Schmuckkästchen erzeugt eine unmittelbare emotionale Wirkung, aber worauf spielt er eigentlich an?
 

Schmuckkästchen steht für eine Stadt – welche genau, das liegt im Buch verborgen, deshalb möchte ich das jetzt nicht preisgeben. Ich kann jedoch verraten, dass sich die Stadt in Galizien befindet, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, und sie ist Partnerstadt von Krakau. Und warum schäbig? Weil es um eine sehr schöne Stadt geht, die von der Renaissance bis zum Jugendstil viele verschiedene Stile in sich birgt. Dennoch fällt einem heute bei der Ankunft zuerst am ehesten das von der tristen Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägte Stadtbild ins Auge. Von der Ideologie der postsowjetischen Zeit, die danach trachtete die Erinnerung zu zerstören. Wirft man jedoch einen näheren Blick auf die Stadt und verbringt Stunden oder auch Tage dort, dann wandelt sie sich plötzlich zur schönsten Stadt der Welt und man findet sich im Zentrum der Welt wieder, an einem Ort reich an Kunst und besonderen Menschen. Schmuckkästchen-Städte sind natürliche und menschliche Wunder der Geografie. Freilich findet man die Mehrheit dieser in Osteuropa, aber man muss sich ihren Anblick erkämpfen. Man muss suchen und beobachten, denn nichts fliegt einem einfach so entgegen.
 
Das Thema Reisen ist in mehreren Ihrer erschienenen Werke zentral. Welche Motivation steckt hinter der Form des reisenden Erzählers?
 

Für mich haben Reisen und Schreiben ein und dieselbe Wurzel. Denn Erzählen sowie auch das Beschreiben der Welt sind grundsätzlich eine innere Reise, und Beobachten sowie auch das Festhalten einer Landschaft stellen ein ähnliches Unterfangen dar. Mich haben meine ersten Reisen sehr inspiriert, als ich nach 1989 in Siebenbürgen war, genauer gesagt in Gyimes, Kolozsvár und Nagyvárad. Vor mir eröffnete sich eine beim ersten Mal fremde, beim zweiten Mal jedoch schon vertraut anmutende, ja, sogar ersehnte archaische Welt. Ich war mit Ethnografen unterwegs und begriff, dass ihr Beruf darin besteht, zu beobachten, Gespräche zu führen und Menschen zu interviewen. Doch mein Wunsch war es, Geschichten von diesen Begegnungen zu formen. Die Fotografie ist mir ebenfalls wichtig. Auf meinen Reisen mache ich immer Bilder, zuletzt war ich in Albanien und Georgien. Die Fotos helfen mir diese Reisen niederzuschreiben. Heute führe ich sogar schon auf meiner Facebook-Seite ein Reisetagebuch. Als ich meinen Roman Dürre Engel schrieb, bin ich in die Vergangenheit meiner eigenen Kleinstadt, Gödöllő gereist. Ich habe mich durch das Familienarchiv und alte Fotografien gestöbert.
 
Sie führen die Leserinnen und Leser auf ganz besondere Weise durch verschiedene Landschaften. Deskriptiv, gleichzeitig aber auch sehr persönlich. Wie schaffen Sie es, diese beiden Aspekte zu trennen beziehungsweise handzuhaben?
 

Weil ich keinen wirklichen Unterschied zwischen den beiden sehe. Erleben, Durchleben und die schriftstellerische Aufmerksamkeit entspringen der eigenen intimen Welt. Und wir vergleichen unweigerlich. Wir messen das Fremde an unserer eigenen Welt. Wir könnten uns in dem, was wir sehen, anders gar nicht zurechtfinden, die Interpretation des Gesehenen kann nicht unpersönlich sein. Ich nenne hier auch gleich ein Beispiel: Die Häuser der Tschangos, die Tierhaltung und die dortige Sprechweise erinnern mich immer an die Welt meiner Großmutter aus Máramaros, und genau diese Welt suche ich dann dort auch, nur habe ich das noch nie so offen geschrieben, weil ich da eben von Gyimes erzählen möchte. Aber dasselbe gilt auch für die Welt der kaukasischen Dörfer. Wenn ich über Georgien und Swanetien schreibe, sehe ich die Karpaten vor meinem geistigen Auge.
 
Die Bukowina, Galizien, die Vojvodina ... alles historische Regionen, in die Sie nicht nur einen urbanen und historischen Einblick geben, sondern Sie zeigen das „alltägliche“ menschliche Leben, und gerade diese Geschichten machen Ihre Erzählungen so lebendig. Inwiefern ist es möglich neben dem Einbringen der subjektiven Perspektive auch ein objektives Bild entstehen zu lassen?
 

Es gibt keine objektiven Bilder, denn sogar ein auf der Reise geknipstes Bild stellt eine bestimmte Perspektive dar. Es selektiert und gibt gewisse Lichtverhältnisse wieder. Aber man kann nach Gerechtigkeit streben. Danach, nicht zu früh zu urteilen, nichts zu überstürzen, danach also, auf die Menschen, ihre Reaktionen und jene Lebenswelt zu achten, die sie für sich erschaffen haben. In der Geografie ist nichts Zufall, alles hat einen Grund. Im Gegensatz dazu ist jede Reise eine Reihe von zufälligen Begegnungen. Was einem auffällt, was auf einen wirkt und wie man das behalten und aufarbeiten kann, ist willkürlich. Mich interessieren nicht touristische Sehenswürdigkeiten, sondern die Frage, wie eine Landschaft auf mich wirkt. In dieser Hinsicht sind individuelle Begegnungen und persönliche Präsenz sehr entscheidend.
 
Was für persönliche Erlebnisse bedeuten Ihnen Ihre Reisen und welchen Einfluss hatten diese auf Sie?
 

Jede Reise ist anders, man kann also nicht verallgemeinern. Ich hatte ganz dramatische Erlebnisse mit der ukrainischen Polizei, kathartische Begegnungen mit den Tschangos in Gyimes oder auch in einem aserbaidschanischen Bergdorf in Xinaliq, wo ich die schönsten Fotos meines Lebens schießen konnte. Die Zäune waren aus Dünger. Eine „reichere“ karge Landschaft als diese habe ich in meinem Leben noch nie zuvor gesehen. Einmal wollte man mich für eine Sekte gewinnen, dann wurde ich in einem Badehaus voll bekleidet von oben bis unten massiert, das war ebenfalls in der Ukraine, in Odessa. Europa ist ein sehr persönlicher Kontinent, er hat tausend Gesichter, es ist faszinierend, wie sich die Landschaft verändert, von Schritt zu Schritt, und nichts ist mehr wie zuvor. Nun ja, es ist auch kein Zufall, dass die Romantik Landschaftsbilder nachgeahmt und das Reisen zu Literatur gemacht hat ...
 
 
Noémi Kiss, Budapest im August 2018

© Goethe-Institut Ungarn

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