Nationalsozialistischer Untergrund
Auftakt zum "Rassenkrieg"

Zehn Menschen sterben zwischen 2000 und 2007 durch die Morde des "Nationalsozialistischen Untergrundes". Wie so häufig in der Geschichte des Rechtsterrorismus können die Ermittler die Taten nicht entschlüsseln, weil diese nicht in ihr Weltbild passen.

Von Martín Steinhagen
 

München, ein Dienstag irgendwann im Jahr 2006. Ein Kunde mittleren Alters tritt an einen Imbisswagen. Ohne Anlass wirft er dem Dönerverkäufer Beschimpfungen an den Kopf. Aber der Mann hinter dem Tresen ist kein gewöhnlicher Mitarbeiter, sondern eine "Vertrauensperson", ein Spitzel. Der Dönerstand soll eine Falle für Serienmörder sein.

Die Polizei will endlich eine Reihe von Morden aufklären, die zu diesem Zeitpunkt bereits neun Männer das Leben gekostet haben. Alle wurden aus nächster Nähe mit einer schallgedämpften Pistole des Typs Česká CZ 83 erschossen, am helllichten Tag, bei der Arbeit. Zwei der Opfer starben in einem Imbiss, ähnlich dem in München.

Auf Enver Şimşek schießen die Täter am 9. September 2000 an einem Blumenstand in Nürnberg, zwei Tage später ist er tot. Abdurrahim Özüdoğru wird am 13. Juni 2001 in seiner Änderungsschneiderei in Nürnberg ermordet. Süleyman Taşköprü stirbt am 27. Juni 2001 im Laden seines Vaters in Hamburg und Habil Kılıç am 29. August 2001 in seinem Gemüsegeschäft in München. Mehmet Turgut erschießen die Mörder am 25. Februar 2004 hinter dem Tresen eines Kebab-Grills in Rostock. İsmail Yaşar wird am 9. Juni 2005 in seinem Imbiss in Nürnberg ermordet, sechs Tage später Theodoros Boulgarides in seinem Schlüsseldienst-Laden, den er gerade in München eröffnet hat. Am 4. April 2006 erschießen die Täter Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk in Dortmund und zwei Tage später den 21-jährigen Halit Yozgat, der in seinem Internetcafé in Kassel für eine Physikprüfung an der Abendschule lernt. Was die Ermittler damals noch nicht erkennen: Auch mehr als ein Dutzend Banküberfälle und drei Sprengstoffanschläge mit teils schwer Verletzten, darunter das Nagelbomben-Attentat am 9. Juni 2004 in der belebten Kölner Keupstraße, gehen auf das Konto der Täter.

Die Mörder drücken aus nächster Nähe ab, nutzen immer dieselbe Waffe und hinterlassen – außer der Tat selbst – keine Botschaft. Die Polizei ermittelt im Umfeld der Opfer, sucht Verbindungen zur Mafia, spekuliert über Schutzgeld und Drogen. Auch in den Medien ist von einer "düsteren Parallelwelt" die Rede, von "Döner-Morden". In einer polizeilichen Analyse heißt es: "Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist." Weit gefehlt, wie später offenkundig wird.

Bizarre Vorurteile wie dieses gibt es viele, aber keine konkrete Spur. Der Fake-Imbiss in München ist nicht der erste Versuch der Polizei, die Täter anzulocken. Den angeblichen Verkäufer haben die Ermittler vorab "sensibilisiert", er solle auf Straftäter aus dem "Türkenmilieu" achten. So ist es in einem Aktenvermerk festgehalten. Stattdessen steht an diesem Tag nun also jener Mann vor ihm, der vielleicht Deutscher, vielleicht Österreicher ist, wie der Polizeispitzel sich später erinnert. Der Kunde beschimpft ihn eine Viertelstunde lang, behauptet, die Türken nähmen den Deutschen die Arbeit weg und breiteten sich unkontrolliert in Deutschland aus. Dann zeigt er auf ein Fahndungsplakat zur Mordserie und sagt: Wenn man die Türken nicht vertreiben könne, dann würden sie halt so heimgeschickt.

Der Vorfall am Imbisswagen hätte die Polizei auf die richtige Spur führen können: ins "Deutschenmilieu". Aber die Täter können noch fünf Jahre lang weitermachen. Am 25. April 2007 erschießen sie die Polizistin Michèle Kiesewetter und verletzen ihren Kollegen im Streifenwagen schwer.

Erst 2011 wird bekannt, wer hinter den Morden, Bomben und Überfällen steckt: Neonazis, die sich selbst hochtrabend "Nationalsozialistischer Untergrund" nennen, kurz NSU. Nach einem Bankraub in Eisenach am 4. November bekommt die Polizei einen Hinweis auf ihr Fluchtfahrzeug; Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begehen in dem Wohnmobil Suizid. Beate Zschäpe zündet daraufhin die letzte gemeinsame Wohnung in Zwickau an, verschickt ein Bekennervideo und stellt sich.

Terroristische Taten sind Botschaftstaten. Rechtsterroristen kommen dabei oft – in diesem Fall jahrelang – ohne Bekennerschreiben aus. Die Taten sprechen für sich. Im Umfeld der Betroffenen verbreiten sie Angst, im eigenen Milieu sollen sie Nachahmer anstiften. Der pöbelnde Passant von München zeigt: Selbst ein gewöhnlicher Alltagsrassist versteht die Botschaft.

Den deutschen Sicherheitsbehörden aber gelingt es nicht, diese Zusammenhänge zu entschlüsseln. Dem Verdacht, dass Rassisten hinter den Taten stecken könnten, gehen sie nicht nach, obwohl Angehörige der Getöteten ihn immer wieder äußern. In allen Städten wird stattdessen gegen die Familien der Opfer ermittelt, sie werden stigmatisiert – ein Musterbeispiel für institutionellen Rassismus. Auch in der breiten Öffentlichkeit werden die Ermittlungen nicht hinterfragt. Was wäre wohl gewesen, wenn die Toten Meyer oder Schmidt geheißen hätten?

Erst nach dem Auffliegen des NSU erschüttern die Morde die Republik, erst jetzt wird das eklatante Versagen der Ermittlungsbehörden und der Verfassungsschutzämter erkennbar. Und es bleiben Fragen. Der NSU, so heißt es jedenfalls in dem Bekennervideo, sei ein "Netzwerk von Kameraden". Bis heute liegt im Dunkeln, wie die Tatorte ausgewählt wurden und ob dabei bisher unbekannte Komplizen halfen. Auch nach dem Urteil im NSU-Prozess im Sommer 2018 laufen Ermittlungen gegen mutmaßliche Unterstützer und gegen unbekannt. Weitere Anklagen hat es aber bisher nicht gegeben.

Das Kerntrio stammt aus der Jenaer Neonazi-Szene der Neunzigerjahre, die sich damals in "freien Kameradschaften" wie dem "Thüringer Heimatschutz" organisiert. In den Wendejahren flammt in Deutschland rechte Gewalt auf, die zum Pogrom werden kann: Das Bild des Plattenbaus mit dem Sonnenblumen-Mosaik in Rostock-Lichtenhagen, aus dem Flammen lodern, steht paradigmatisch für diese Exzesse – und für Nachbarn, die dazu klatschen.

Eine ganze Generation junger Neonazis wird in dieser Zeit sozialisiert – die Terroristen des NSU, der Attentäter, der die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker 2015 mit einem Messer attackierte, oder der Mörder von Walter Lübcke (2019). Für sie dürften die Erfahrungen in den "Baseballschlägerjahren" prägend gewesen sein. Schon damals kursieren in der Szene Konzepte für terroristische Aktionen jenseits von mehr oder weniger spontanen Überfällen und Übergriffen. Das Schlagwort dazu lautet "führerloser Widerstand".

Besonders ausgetüftelt sind die Überlegungen nicht, aber einfach umzusetzen und für die autoritätsverliebte Nazi-Szene eine Art Modernisierungsschub. Statt auf hierarchische Organisationen, die für den Staat leichter zu infiltrieren und zu zerschlagen sind, will man auf "Nicht-Organisationen" setzen: kleine Zellen, die unabhängig voneinander agieren und keine zentralen Befehle brauchen. Auch der Propaganda-Begriff vom "einsamen Wolf" stammt aus diesem Kontext. Jede Terrortat kann ein Nadelstich gegen das verhasste System sein: Es muss nicht mehr auf einen bestimmten Zeitpunkt gewartet werden, auch besondere logistische Fähigkeiten sind nicht notwendig. Das Ziel ist, einen "Rassenkrieg" zu entfachen, der den vermeintlichen "Genozid an den Weißen" verhindern soll. Diese Vorstellung kursiert in unterschiedlichen Variationen bis heute in der radikalen Rechten.

Obwohl den Geheimdiensten die Konzeptpapiere bekannt sind, werden die Taten des NSU nicht als Terrorismus erkannt. Insgesamt 13 Untersuchungsausschüsse in deutschen Parlamenten versuchen später herauszufinden, wie es zu dieser Blindheit kommen konnte. Eine Erklärung ist, dass die deutschen Ermittlungsbehörden "Terrorismus" lange Zeit vor allem mit der RAF verbinden. Vom 11. September 2001 an – die NSU-Mordserie ist da längst im Gange – rücken dann militante Dschihadisten in den Fokus der Ermittler.

Dabei hat der Rechtsterrorismus in Deutschland eine lange Tradition, die bis zu den Attentaten und Fememorden in der Weimarer Republik zurückreicht. Auch die NS-Propaganda vom "Werwolf", der hinter feindlichen Linien aus dem Untergrund kämpft, wirkt bis heute nach und ist ein Fixpunkt in den Männerfantasien rechtsterroristischer Täter. Es ist gefährlicher Kitsch: Wer sich im Widerstand wähnt, für den sind alle Mittel legitim.

In der Bundesrepublik entstehen schon früh rechtsterroristische Strukturen. 1952 fliegt der paramilitärische "Technische Dienst" des Bundes Deutscher Jugend auf, einer antikommunistischen Gruppierung, die aus den USA finanziell unterstützt wird. Der "Technische Dienst" hatte sich auf einen Einmarsch der Sowjetunion vorbereitet, Waffen gehortet und Listen unliebsamer Politiker angelegt.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren bilden sich im Dunstkreis der neu gegründeten NPD und der später verbotenen Wiking-Jugend terroristische Gruppen wie die "Europäische Befreiungsfront", die "Nationale Deutsche Befreiungsbewegung" oder die "Nationalsozialistische Kampfgruppe Großdeutschland". Zu jener Zeit entstehen auch "Wehrsportgruppen", die junge Männer an der Waffe ausbilden, die Terrorideologie tradieren und Netzwerke knüpfen, aus denen heraus immer wieder tödliche Taten begangen werden. Die bekannteste Truppe schart seinerzeit der schnurrbärtige Karl-Heinz Hoffmann um sich, der heute noch auf YouTube agitiert.

Brandstiftung, Sprengstoffanschläge, Überfälle, Morde und Attentate wie das auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 in Berlin gehören zur Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik. Nicht nur politische Gegner geraten ins Fadenkreuz, auch Einrichtungen der US-Armee oder sowjetische Soldaten. Die Täter sind von Antisemitismus getrieben, wenden sich gegen das zunächst zaghafte Gedenken an die NS-Verbrechen und die zunehmende Liberalisierung der Gesellschaft.

Besonders das Jahr 1980 sticht im Rückblick heraus: 18 Tote und mehr als 220 Verletzte lautet die blutige Bilanz. Am 21. August fliegen kurz vor Mitternacht in Hamburg Brandflaschen durch das Fenster einer Unterkunft für Geflüchtete. In Zimmer Nummer 34 haben sich Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu bereits hingelegt. Die jungen Männer sind aus Vietnam geflohen. Đỗ Anh Lân ist erst 18 Jahre alt und hat es mit einer Hilfsaktion der ZEIT nach Deutschland geschafft. Die beiden überleben den Anschlag der "Deutschen Aktionsgruppen" nicht. Die Tat gilt als erster rassistischer Anschlag mit Todesopfern in der Bundesrepublik.

Rund einen Monat später, am Abend des 26. September 1980, detoniert ein Sprengsatz auf der Münchner Theresienwiese. Zwölf Besucher des Oktoberfestes und den Täter selbst reißt die Bombe in den Tod, mehr als 220 Menschen werden verletzt. Bis heute ist es der schwerste Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Behörden machen damals einen vermeintlichen suizidalen Eigenbrötler als Täter aus. Seine Verbindungen zur rechtsextremen Szene, etwa zur Wehrsportgruppe Hoffmann, werden nicht aufgeklärt.

Für den Journalisten Ulrich Chaussy, der seit 40 Jahren in dem Fall recherchiert, beginnt hier die steile Karriere der "Einzeltätertheorie". Erst viele Jahre später erkennt der Generalbundesanwalt ein rechtsextremes Motiv an. Die wieder aufgenommenen Ermittlungen werden jedoch im Sommer 2020 erneut eingestellt, Mittäter oder Hintermänner wurden keine mehr gefunden.

Aufgeklärt wird auch nicht, ob es Verbindungen zu einer weiteren Tat von 1980 gibt: Am 19. Dezember werden der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Nürnberg, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen. Der Täter gehört ebenfalls zur Hoffmann-Gruppe und kann sich absetzen, denn zunächst wird – wie später beim NSU – im Umfeld der Opfer ermittelt. Nur Tage darauf, an Heiligabend, erschießt ein Neonazi beim Versuch, Waffen nach Deutschland zu schmuggeln, einen Schweizer Grenzer und einen Polizisten.

Im Rückblick wird deutlich, wie wichtig diese Vorläufer für den NSU sind. 1996, als der Anführer der "Deutschen Aktionsgruppen" viele Jahre nach dem tödlichen Anschlag auf Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu in Hamburg erneut vor Gericht steht, kommen auch zwei junge Männer in Bomberjacken, um ihn zu unterstützen: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Zwei Jahre später tauchen sie selbst ab und gründen den NSU.
 

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