Marcelo Rezende
Das Museum heute: Eine Problemmaschine

Banu Cennetoğlu BEINGSAFEISSCARY,  2017, verschiedene Materialien, Friedrichsplatz, Kassel, documenta 14,  Foto: Roman März.
Banu Cennetoğlu BEINGSAFEISSCARY, 2017, verschiedene Materialien, Friedrichsplatz, Kassel, documenta 14, Foto: Roman März. | Foto: Roman März.

Der Wissenschaftler, Kritiker und Kurator Marcelo Rezende, Mitglied im Team der Musealen Episode, spricht über die Zukunft der Institution Museum, reflektiert Athen als gewählten Austragungsort von Debatten zum Thema und fragt: “Wie lässt sich Denken dekolonisieren und erst danach das Museum“?

Zu Beginn die Abschlussbegegnung und ihr Umfeld: Der Ort ist Athen im Juli, im europäischen Sommer. Die Stadt und der Moment ausgewählt für die letzte Begegnung der Arbeitsgruppe der Musealen Episode – Über die globale Zukunft der Museen, eine der Plattformen des vom Goethe-Institut in Brasilien geschaffenen und entwickelten Programms Episoden des Südens.

Zwei Jahre lang widmeten sich Experten aus unterschiedlichen Nationen, Perspektiven und Forschungsansätzen im Bereich Kunst Überlegungen zu Wegen der Institution Museum und einigen ihrer wichtigsten Arbeitsmittel: Sammlung, Ausstellung, Forschung, die Kraft ihrer Arbeit und ihr Publikum. Mehr noch als um eine Suche nach Lösungen ging es dabei um ein Verständnis der wichtigsten Probleme, ausgehend von einem Repertoire an Fragestellungen darüber, wie die Geschichte der Institutionen den Bereich des Politischen und Sozialen tangiert, was in der Folge und Konsequenz eine ganze Reihe an Ideen über das Museum, sein Scheitern und seine Möglichkeiten hinterließ.

Was macht ein Museum zum Museum?

Griechenland und Athen sind in diesem Zusammenhang nicht mehr einfach nur ein Ort, sondern werden zu einer Art Metapher für die Themen und Arbeitsprozesse der Gruppe, in der sich Fragen zuspitzen und materialisieren, die in Salvador (Brasilien), La Paz (Bolivien) und Johannesburg (Südafrika) gestellt wurden: Was ist ein Narrativ über die Vergangenheit? Wer bestimmt dieses Narrativ und aus welchem Grund? Was ist ein Bestand und inwieweit lassen sich Kräfte- und Hierarchieverhältnisse einer Institution demokratisieren? Und schließlich, was ist Demokratie und was stellt sie heute dar? Was macht ein Museum zum Museum?

Demokratie, also die Möglichkeit zur Diskordanz im öffentlichen Raum, wird wie von einem Schatten von all dem begleitet, was sie bedroht: Athen berührt diese Widersprüche, indem es auf uralte Marmorblöcke geschriebene Botschaften der Vergangenheit aussendet und vom in seinen Straßen präsente Drama der Zeit kündet - auf seiner documenta 14 (einem Museum der Zeit, nicht des Raums), in den Reaktionen gegenüber dem Treiben der Kulturtouristen in seinen Straßen. Was die Museale Episode und ihre Beteiligten an einige ihrer eigenen Paradoxien erinnert: ein kritisches Element gegenüber dem Museum und seiner Krise und zugleich unfreiwillig (oder freiwillig) genau Teil dieser Krise zu sein.

Aber was eigentlich ist diese Krise?

Hinter einer offiziellen Erzählung über das Museum, seine Präsenz in der Kultur während des 20. Jahrhunderts, verbirgt sich eine andere, die von seiner Erfindung handelt und in bestimmten Momenten von einem Kampf im Namen der Zerstörung des Museums als ein Reservoir nationaler Identitäten, unkritisch aufgenommener europäischer Konstruktion und Friedhof der Ideen und Bilder. In der Dokumentation als Fiktion Die Statuen sterben auch von Chris Marker und Alain Resnais aus dem Jahr 1953 sagt der Erzähler: „Wenn Menschen sterben, gehen sie in die Geschichte ein; wenn Statuen sterben, kommen sie ins Museum.“ Das Museum als Grabstätte der Repräsentationen.

Seine Krise: Konfrontiert mit einem von neu entstandenen Formen der Unterhaltungsindustrie eingenommenen kulturellen Raum - was nicht nur das Verhältnis von Kunst und Publikum betrifft, sondern vor allem die Kunst selbst -, unter Druck geraten durch den beschränkten Raum innerhalb des Markts der Objekte, bedroht durch die derzeitige Erfahrung von Zeit und angesichts der Grenzen seiner eigenen Version der Geschichte, mit wem soll es kommunizieren? Welche Sprache fehlt nun, die sich hinter der Stille versteckt?

Eine Frage nach der anderen jedenfalls. Was nutzt eine Gruppe von Professionellen unterwegs auf drei Kontinenten, auf der Suche nach Gründen und diskutierend, über das Museum und über eine neue Idee für das Museum? Vor allem dazu, dort, wo es sie vorher nicht gab, eine Frage zu formulieren, mit dem Ziel, die Idee einer Methode zu bekommen, eines Systems oder strategischer Veränderungen der Organisation einer Institution, und daraus die Möglichkeit wenigstens einer weiteren Chance, einer neue Gelegenheit.

Wenn auch in einer anderen Erzählung über das Museum ebenfalls eine Krise steckt, so transportiert diese Erzählung doch Lösungsversuche ausgehend von anderen Formen der Konstruktion und Dekonstruktion des Museums. Andere Erfahrungen anstelle des Krisenmuseums: Anti-Museum, Schul-Museum, Museum als Forum, Museum mit und für die Gemeinschaft, das Museum als Museumskritik. Auch das ist eine andere und mögliche Version der Fakten über das Museum und seinen Weg in der Kultur.

Die „andere“ Geschichte

Aus diesem Blickwinkel kann die Museale Episode als ein Organismus für das Ausloten nicht konformistischer Erfahrungen (und nicht selten auch deren Niederlage) des Museums, der Kunst und der Ausstellung verstanden werden. Und in diesem Prozess als ein Mittel, das Museum mit seiner „anderen“ Geschichte wieder zu verbinden und nach neuen, unbekannten Kapiteln dieser alternativen Version der Fakten zu suchen.

 

Ein Beispiel: Was kann ein ethnografisches Museum heute bedeuten, in einer europäischen Nation mit kolonialer Vergangenheit? Ließe sich die Antwort in einem Museum für Kunst finden, das zugleich ethnografisch, moderne Kunst und zeitgenössische Produktion wäre - in einem Raum? Wie sähe eine brasilianische Antwort auf das Dilemma des Verhältnisses von Museum und Community aus? Auf welche Weise formiert sich eine Institution mit dem Ziel, die Konfrontation mit der auferlegten Agenda der großen wirtschaftlichen Zentren zu gewinnen? Einer Agenda, die in keinem Fall ihre ist?

Kulturkriege

Es sind Fragen von äußerster Dringlichkeit. Auch der historische Moment ist von dieser Dringlichkeit angefüllt. Lokale Zentren, globale Zentren - der Prozess der Einflussnahme und Beherrschung (Kolonisierung?) nimmt eine andere Eigenschaft an, die sich nicht auf geografische Positionen beschränkt. Kulturkriege spielen sich überall ab, oft auf demselben Territorium, werden in einer gemeinsamen Sprache erzählt, mit der gesamten Beute des des Siegers in Sichtweite - im Format einer Ausstellung.

Was also spiegelt sich im Museum wider? Was wäre in einer möglichen „Musealen Episode: Buch der Fragestellungen“ zu finden? Wie könnte das Museum mehr zuhören, als zu diktieren (der Beginn einer anderen Kunst und Bildung)? Was bedeuten eine Sammlung und ein Bestand für ein Museum, jenseits des Dinglichen? Was trennt die Ethnografie von der Kunst? Wie lässt sich die Geschichte der Kunst in kommunistischen Nationen nach deren Verschwinden erzählen? Mit welchen Strategien lässt sich in die von der Institution produzierten Hierarchien eingreifen? Wie lässt sich das Denken dekolonisieren und erst danach das Museum? Wenn überhaupt lehren, dann was, wie und für wen? Und in dieser Maschine der Produktion von Problemen: Was lernen, wie lernen und mit wem?

 
Marcelo Rezende (Brasilien, 1968) ist Wissenschaftler, Kritiker und Kurator. Er war unter anderem Direktor des Museums für Moderne Kunst von Bahia (2012-2015), künstlerischer Leiter der 3. Biennale von Bahia (2014) und Mitglied der Kuratorengruppe der 28. Biennale von São Paulo (2008). Er ist Autor des Romans <i>Arno Schmidt</i> (2008), assoziierter Kurator des Museu do Mato in Bahia und bereitet derzeit für das Johann Jacobs Museum Zürich die Ausstellung <i>Kaffee aus Helvécia</i> (2017) vor. Er ist Direktor des Archivs der Avantgarden (ADA) in Dresden und beteiligte sich am Programm der Musealen Episode (2015-2017) im Rahmen der Episoden des Südens.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich im Magazin des Projekts Episoden des Südens veröffentlicht.