Kurzgeschichte
João

Arme Mama! Sie musste es alleine mit mir aufnehmen! Meinen Vater habe ich nie gekannt. Dem Getuschel der Leute zufolge ist er im Wald verschwunden
Letztendlich, João, habe ich zugelassen, dass sie deinen Leichnam in dieses Grab hinab senkten – in ein Loch wie ein klaffendes Maul, das sie hastig und kopflos aushoben, weil sie es verabscheuten, einen so schönen Tribut zollen zu müssen. Ja. Auch ganz zum Schluss war deine Gestalt noch schön. Es stimmt wahrhaftig, was die Leute sagen: Geliebte Menschen, die von uns gehen, wirken oft so, als hätten sie bloß die Augen geschlossen und schliefen. Auch bei dir war das so, João. Isabella sagte einst in einem stillen Moment zu mir, dass Männer ungeachtet dessen, wie strikt und unerbittlich sie in ihrem täglichen Handeln über dich wachen und wie unnachgiebig ihre geistige Haltung auch sein mag, im Schlaf immer wie unschuldige himmlische Kinder aussehen. Und – so hatte Isabella hinzugefügt – wenn du versonnen auf die Gesichtszüge eines schlafenden Mannes blickst, für den du ein gewisses Maß an Zuneigung empfindest, so wirst du dich nicht dem Schicksal entziehen können, ihn zu lieben. Ich weiß nicht, ob dies für alle wohlbehüteten Frauen gilt oder für alle tief schlafenden Männer? Aber ich weiß, dass es bei mir so war … mit dir.
Damals war ich dreizehn und du, João, warst sechzehn. Dreizehn, das war mein rebellisches Alter! Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, empfinde ich Mitleid mit meiner Mutter. Ich war ein schwieriges frühreifes Mädchen. Da war so ein brodelndes Gefühl unter meiner Haut, als ob etwas Wichtiges in die Welt hinaus zu schreien wäre – aber ohne dass ich begriff, was denn so bedeutend sein sollte? Mir stand einzig und allein der Sinn nach Ungehorsam meiner Mutter gegenüber! Ich ließ mir nichts sagen und war nicht zu bewegen, irgendetwas mit Sorgfalt zu erledigen.
Arme Mama! Sie musste es alleine mit mir aufnehmen! Meinen Vater habe ich nie gekannt. Dem Getuschel der Leute zufolge ist er im Wald verschwunden. Selbst gegen kleine Aufgaben sperrte ich mich: Wenn Mutter mich beauftragte, einen Eimer Wasser von der nur eine halbe Stunde Fußmarsch entfernten Quelle zu holen, war ich erst nach zwei oder drei Stunden mit einem nur zu zwei Dritteln gefüllten Eimer zurück. Ich trieb Mutter fast zur Verzweiflung, aber das war mir egal. Trug sie mir nachdrücklich auf, nach dem Wasserschöpfen schnell nach Hause zu kommen, trödelte ich zwischen der Wasserquelle und unserem Haus erst recht auf den Feldwegen der hügeligen Savanne herum, in der die Landschaft zwischen Gras- und Pflanzengestrüpp sowie vereinzelten Bäumen mit klumpigem Kalkgestein übersät ist.
An einem dieser phlegmatischen Tage fand ich dich unter einem dieser Bäume – schlafend. Zunächst hatte ich bloß die frei herum laufenden Ziegen deiner Eltern gesehen, auf die du aufpassen solltest. Die Tiere weideten träge im lau blasenden Wind. Kein Wunder, dass du eingeschlafen warst. Und als ich so in dein ruhendes Gesicht blickte, zerfloss urplötzlich irgendetwas tief in mir zu einem Wasserspiegel mit der verschwommenen Färbung von Amber, in dem ich mich selbst mit Kindern sah … und wie ich zusammen mit dir alt wurde. Stell´ dir vor, wie wunderlich und zugleich verwirrend eine sich so ungestüm entfaltende Leidenschaft war – für mich, als dreizehnjähriges Kind! Ich weiß, João, dass derartige Visionen vage und unbedeutend sind … aber genau so nahmen die Wirbelwinde in meinem Herzen ihren Anfang. Mit demselben Empfinden stand ich dort, wo sie trockene Erde in die Öffnung deines Grabes schaufelten und draußen nach wie vor peitschende Gewehrschüsse zu hören waren. Für mich warst du schön, seit ich dich zum ersten Mal sah – an jenem Tag vor vielen Jahren, als du als junger Bursche an einem Feld in der Savanne in tiefen Schlaf gesunken warst. Und in jenen Augenblicken warst du immer noch schön. Selbst im Tode. Auf deinem Antlitz ruhte stiller Frieden. Der hintere Teil deines Kopfes fehlte … doch trotzdem erwecktest du den Anschein, in tiefem Schlaf zu liegen. Und so verliebte ich mich ein weiteres Mal in dich. Oh, João! Warum war uns ein solches Ende beschieden?
Einige Jahre, nachdem ich dich schlafend am Feldrand fand, waren wir erwachsen geworden, denn so will es die Zeit. Und so geschah es, dass du mir endlich Aufmerksamkeit schenktest – einem Mädchen mit dicken Zöpfen, das tagtäglich auf dem Weg zur Morgenmesse in unbeholfener Weise am Haus deiner Eltern vorbeischlenderte. Dann verliebtest auch du dich in mich, und schon bald heirateten wir. Nur einen Monat später zogen wir in die Stadt, wo du Arbeit bei der zentralen Poststelle gefunden hattest. Wir waren glücklich, äußerst glücklich; und wir genossen jede Nuance unseres Beisammenseins an diesem neuen Ort; in jedem einzelnen Augenblick. Die Stadt war eine unversehrte, vollkommen intakte Welt, in der ich mit dem Mann zusammen war, den ich liebte. Im Volksmund heißt es, dass versonnene Wunderlichkeiten und leidenschaftliche Empfindungen unweigerlich ein Ende haben, sobald die süßen Tage der Flitterwochen vergangen sind. Bei mir haben sie niemals ein Ende gehabt, João. Nur dein Atmen hat ein Ende gefunden! Im Behagen unseres Glücks haben wir jene Turbulenzen, die unter der Oberfläche dieses Landes schwelten und bloß darauf warteten, ihr fratzenhaftes Gesicht zu zeigen, nicht so recht wahrgenommen. Das ist uns zum Verhängnis geworden, mein armer Schatz! Es war eine schlimme Fügung des Schicksals, dass du einfach zur unrechten Zeit am falschen Ort warst.
Nahe Dilis Friedhof Santa Cruz keimte eine Demonstration zum Protest gegen das mysteriöse Blutbad vom November auf, woraufhin die Uniformierten zu schießen begannen. In der Absicht, zu Mittag nach Hause zu gehen, wo bereits das Essen auf dich wartete, überquertest du die Straße, als du aus der Richtung des Friedhofs Schüsse fallen hörtest. Du ducktest dich und begannst zu rennen, weil du nicht in diesen unerwarteten Wahnsinn verstrickt werden wolltest. Doch dann traf eine verirrte Kugel deinen Hinterkopf und entriss deinem Körper, noch bevor er zu Boden stürzte, die Seele.
Zumindest wollte es der Zufall, dass du direkt vor dem Haus von Roberto und Maria getötet wurdest. Sie haben alles mit eigenen Augen angesehen. Ungeachtet des pfeifenden Kugelhagels, des chaotischen Gebrülls und Wehgeschreis, der panisch auseinander stiebenden Menge und des mörderischen Tötens rundum stürmte Roberto sofort, als du zusammenbrachst, zu dir hin, um deinen Leichnam in sein Haus zu schleppen. Und Maria schlüpfte durch versteckte schmale Gassen voller flüchtender Menschen mit vor Angst verzerrten Gesichtern und hektisch flackernden Augen, um so schnell wie möglich zu mir zu finden. Ich saß daheim und wartete auf dich, doch es war Maria, die hereinkam. Ohne viele Worte zu verlieren, forderte sie mich auf mitzukommen. Sie sagte bloß, dass etwas Schreckliches passiert sei. Erst als wir ihr Haus erreichten, wurde mir vollends klar, was geschehen war. Und als ich dich dort lang ausgestreckt mitten im Zimmer auf dem Boden liegen sah, da zerschmolzen und verschwanden, eines nach dem anderen, aus meinem Herzen die Kinder mit der verschwommenen Färbung von Amber, die uns doch noch geboren werden sollten.
Roberto mühte sich nach Kräften, mich davon zu überzeugen, dass wir dich schleunigst begraben mussten – am besten umgehend, bevor jene Mörder, die dich so fahrlässig umbrachten, deinen Leichnam entdeckten. Roberto war sich nämlich sicher, dass sie deinen toten Leib konfiszieren und abtransportieren würden, um ihn zusammen mit anderen Leichen irgendwo in einer großen Grube zu verscharren. Zu diesem Gemetzel hätte es nämlich nicht kommen dürfen; und deshalb durfte auch nicht das geringste Beweisstück auf diesem Flecken Erde zurückbleiben; sie würden alles Nötige unternehmen, um sämtliche Spuren dieses Vorfalls zu verwischen! Maria bekräftigte die Worte ihres Mannes und empfahl, dich am besten so rasch wie möglich im Hinterhof ihres Hauses beizusetzen, der zu allen Seiten hin von einer hohen Backsteinmauer umgeben ist – und zwar ohne einen Grabstein zu setzen oder irgendein anderes Merkmal anzubringen. Ja, sagte sie, diese Maßnahme sei gewiss sehr schwer für mich – aber immer noch besser, als deine sterblichen Überreste für immer und ewig in einem anonymen Massengrab verschwinden zu lassen.
„Du kannst dich immer an der Gewissheit trösten, dass er hier ist, Elisabeth,“ sagte Maria sanft. Ich konnte nicht sofort antworten. Immer noch schrien Menschen draußen auf den Straßen. Und auch andere Geräusche waren zu hören: gelegentliche Schüsse, rennende Schritte, stampfende Lederstiefel, mit schwerem Brummen vorbeifahrende Kraftfahrzeuge. Womöglich würden sie schon alsbald damit beginnen, die Häuser zu durchsuchen. Mein Blick hing an deinem Antlitz, João. Ich konnte mich noch nicht mit der Tatsache abfinden, dich verloren zu haben und deinen Leichnam nun ohne Sarg und Zeremonie begraben zu müssen. Schließlich aber fügte ich mich ins Unausweichliche und willigte ein. Weinen konnte ich nicht, denn der Schock saß noch zu tief. Meine Hände zitterten, ohne dass ich sie kontrollieren konnte. Ich badete in kaltem Schweiß und fühlte mich elendiglich schwach und hinfällig. Kraftlos sah ich zu, wie Roberto und Maria unter dem alten Tamarindenbaum in ihrem Hinterhof eine Grube aushoben. Unter dem zwingenden Druck der äußeren Umstände erledigten sie diese Arbeit mit außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit. Ich aber konnte nicht die geringste Unterstützung beitragen. Und dann – nachdem sie deinen toten Leib mit zwei schmutzigen Tüchern umhüllt hatten – ließen sie dich in die geschaufelte Grube hinab. Hastig murmelten wir letzte Gebete – und ruhe in Frieden, amen –, und dann füllten die beiden dein Grab mit Erde auf.
Zum Schluss ebneten Maria und Roberto den Boden über dir, damit kein Erdhügel blieb, der Argwohn hätte wecken können, und anschließend verteilten sie noch rasch einen Sack voller Kieselsteine auf deiner Grabstätte. Eigentlich hatten sie die Kieselsteine dazu verwenden wollen, genau an dieser Stelle einen kleinen Fischteich anzulegen, doch jetzt hängten sie an einem kräftigen Ast des ehrwürdigen Tamarindenbaumes einen alten Autoreifen auf, der nun genau über dir pendelt, João. Dort, wo unsere Kinder hätten spielen sollen, bilden die Kieselsteine jetzt einen festen Untersatz für eine Reifenschaukel, auf der nun vielleicht später einmal Marias und Robertos Kinder abwechselnd schaukeln und einander anschieben können. Ja, wir alle haben uns gewünscht, dass unsere Kinder zusammen mit den portugiesischen Namen, die wir ihnen mit der Taufe hätten geben müssen, die Namen unserer Vorfahren tragen und sie auf diese Weise weiterführen sollten. Doch wir leben in einer viel zu gefährlichen Zeit, als dass wir von einer eigenen Schwangerschaft auch bloß träumen dürften. Ohne mit Maria und Roberto auch nur ein einziges Wort zu wechseln, konnte ich dieselben Gedanken in ihren Augen ablesen.
Stumm standen wir zu dritt beieinander und schauten aufmerksam zu, wie der alte Autoreifen langsam über dem Kieselbett auspendelte. Niemand von uns hatte ein Kind in diese wirre Welt gesetzt. Wir beide konnten es uns noch nicht leisten. Für Maria und Roberto hingegen ist bloß der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen. Aber für mich und dich, João, kann es diesen Zeitpunkt nun niemals mehr geben. Oh, João! Haben wir nicht alles daran gesetzt, miteinander glücklich zu sein?
Ich bin nun wieder zurück bei Mutter. Noch am selben Abend habe ich die Flucht ergriffen und bin in unser Dorf zurückgekehrt, da man womöglich nach mir gesucht hätte. Im Augenblick bietet mir das Haus meiner Mutter größere Sicherheit als diese Stadt, in der sie dich umgebracht haben. Vielleicht. Morgens lasse ich den Blick über die hügelige Savanne streifen, wo ich dich zum ersten Male unschuldig schlafen sah … damals, vor vielen Jahren. Ich atme in tiefen Zügen und genieße den Duft des trockenen Grases. Meine alte Mutter macht sich Sorgen um mich, weil ich auch nach vier Tagen noch keine Tränen vergießen kann. Vielleicht morgen … vielleicht weine ich morgen um dich, João. Vielleicht.
Letztendlich, João, habe ich zugelassen, dass sie deinen Leichnam in dieses Grab hinab senkten – in ein Loch wie ein klaffendes Maul, das sie hastig und kopflos aushoben, weil sie es verabscheuten, einen so schönen Tribut zollen zu müssen. Ja. Auch ganz zum Schluss war deine Gestalt noch schön. Es stimmt wahrhaftig, was die Leute sagen: Geliebte Menschen, die von uns gehen, wirken oft so, als hätten sie bloß die Augen geschlossen und schliefen. Auch bei dir war das so, João. Isabella sagte einst in einem stillen Moment zu mir, dass Männer ungeachtet dessen, wie strikt und unerbittlich sie in ihrem täglichen Handeln über dich wachen und wie unnachgiebig ihre geistige Haltung auch sein mag, im Schlaf immer wie unschuldige himmlische Kinder aussehen. Und – so hatte Isabella hinzugefügt – wenn du versonnen auf die Gesichtszüge eines schlafenden Mannes blickst, für den du ein gewisses Maß an Zuneigung empfindest, so wirst du dich nicht dem Schicksal entziehen können, ihn zu lieben. Ich weiß nicht, ob dies für alle wohlbehüteten Frauen gilt oder für alle tief schlafenden Männer? Aber ich weiß, dass es bei mir so war … mit dir.
Damals war ich dreizehn und du, João, warst sechzehn. Dreizehn, das war mein rebellisches Alter! Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, empfinde ich Mitleid mit meiner Mutter. Ich war ein schwieriges frühreifes Mädchen. Da war so ein brodelndes Gefühl unter meiner Haut, als ob etwas Wichtiges in die Welt hinaus zu schreien wäre – aber ohne dass ich begriff, was denn so bedeutend sein sollte? Mir stand einzig und allein der Sinn nach Ungehorsam meiner Mutter gegenüber! Ich ließ mir nichts sagen und war nicht zu bewegen, irgendetwas mit Sorgfalt zu erledigen. Arme Mama! Sie musste es alleine mit mir aufnehmen! Meinen Vater habe ich nie gekannt. Dem Getuschel der Leute zufolge ist er im Wald verschwunden. Selbst gegen kleine Aufgaben sperrte ich mich: Wenn Mutter mich beauftragte, einen Eimer Wasser von der nur eine halbe Stunde Fußmarsch entfernten Quelle zu holen, war ich erst nach zwei oder drei Stunden mit einem nur zu zwei Dritteln gefüllten Eimer zurück. Ich trieb Mutter fast zur Verzweiflung, aber das war mir egal. Trug sie mir nachdrücklich auf, nach dem Wasserschöpfen schnell nach Hause zu kommen, trödelte ich zwischen der Wasserquelle und unserem Haus erst recht auf den Feldwegen der hügeligen Savanne herum, in der die Landschaft zwischen Gras- und Pflanzengestrüpp sowie vereinzelten Bäumen mit klumpigem Kalkgestein übersät ist.
An einem dieser phlegmatischen Tage fand ich dich unter einem dieser Bäume – schlafend. Zunächst hatte ich bloß die frei herum laufenden Ziegen deiner Eltern gesehen, auf die du aufpassen solltest. Die Tiere weideten träge im lau blasenden Wind. Kein Wunder, dass du eingeschlafen warst. Und als ich so in dein ruhendes Gesicht blickte, zerfloss urplötzlich irgendetwas tief in mir zu einem Wasserspiegel mit der verschwommenen Färbung von Amber, in dem ich mich selbst mit Kindern sah … und wie ich zusammen mit dir alt wurde. Stell´ dir vor, wie wunderlich und zugleich verwirrend eine sich so ungestüm entfaltende Leidenschaft war – für mich, als dreizehnjähriges Kind! Ich weiß, João, dass derartige Visionen vage und unbedeutend sind … aber genau so nahmen die Wirbelwinde in meinem Herzen ihren Anfang. Mit demselben Empfinden stand ich dort, wo sie trockene Erde in die Öffnung deines Grabes schaufelten und draußen nach wie vor peitschende Gewehrschüsse zu hören waren. Für mich warst du schön, seit ich dich zum ersten Mal sah – an jenem Tag vor vielen Jahren, als du als junger Bursche an einem Feld in der Savanne in tiefen Schlaf gesunken warst. Und in jenen Augenblicken warst du immer noch schön. Selbst im Tode. Auf deinem Antlitz ruhte stiller Frieden. Der hintere Teil deines Kopfes fehlte … doch trotzdem erwecktest du den Anschein, in tiefem Schlaf zu liegen. Und so verliebte ich mich ein weiteres Mal in dich. Oh, João! Warum war uns ein solches Ende beschieden?
Einige Jahre, nachdem ich dich schlafend am Feldrand fand, waren wir erwachsen geworden, denn so will es die Zeit. Und so geschah es, dass du mir endlich Aufmerksamkeit schenktest – einem Mädchen mit dicken Zöpfen, das tagtäglich auf dem Weg zur Morgenmesse in unbeholfener Weise am Haus deiner Eltern vorbeischlenderte. Dann verliebtest auch du dich in mich, und schon bald heirateten wir. Nur einen Monat später zogen wir in die Stadt, wo du Arbeit bei der zentralen Poststelle gefunden hattest. Wir waren glücklich, äußerst glücklich; und wir genossen jede Nuance unseres Beisammenseins an diesem neuen Ort; in jedem einzelnen Augenblick. Die Stadt war eine unversehrte, vollkommen intakte Welt, in der ich mit dem Mann zusammen war, den ich liebte. Im Volksmund heißt es, dass versonnene Wunderlichkeiten und leidenschaftliche Empfindungen unweigerlich ein Ende haben, sobald die süßen Tage der Flitterwochen vergangen sind. Bei mir haben sie niemals ein Ende gehabt, João. Nur dein Atmen hat ein Ende gefunden! Im Behagen unseres Glücks haben wir jene Turbulenzen, die unter der Oberfläche dieses Landes schwelten und bloß darauf warteten, ihr fratzenhaftes Gesicht zu zeigen, nicht so recht wahrgenommen. Das ist uns zum Verhängnis geworden, mein armer Schatz! Es war eine schlimme Fügung des Schicksals, dass du einfach zur unrechten Zeit am falschen Ort warst.
Nahe Dilis Friedhof Santa Cruz keimte eine Demonstration zum Protest gegen das mysteriöse Blutbad vom November auf, woraufhin die Uniformierten zu schießen begannen. In der Absicht, zu Mittag nach Hause zu gehen, wo bereits das Essen auf dich wartete, überquertest du die Straße, als du aus der Richtung des Friedhofs Schüsse fallen hörtest. Du ducktest dich und begannst zu rennen, weil du nicht in diesen unerwarteten Wahnsinn verstrickt werden wolltest. Doch dann traf eine verirrte Kugel deinen Hinterkopf und entriss deinem Körper, noch bevor er zu Boden stürzte, die Seele. Zumindest wollte es der Zufall, dass du direkt vor dem Haus von Roberto und Maria getötet wurdest. Sie haben alles mit eigenen Augen angesehen. Ungeachtet des pfeifenden Kugelhagels, des chaotischen Gebrülls und Wehgeschreis, der panisch auseinander stiebenden Menge und des mörderischen Tötens rundum stürmte Roberto sofort, als du zusammenbrachst, zu dir hin, um deinen Leichnam in sein Haus zu schleppen. Und Maria schlüpfte durch versteckte schmale Gassen voller flüchtender Menschen mit vor Angst verzerrten Gesichtern und hektisch flackernden Augen, um so schnell wie möglich zu mir zu finden. Ich saß daheim und wartete auf dich, doch es war Maria, die hereinkam. Ohne viele Worte zu verlieren, forderte sie mich auf mitzukommen. Sie sagte bloß, dass etwas Schreckliches passiert sei. Erst als wir ihr Haus erreichten, wurde mir vollends klar, was geschehen war. Und als ich dich dort lang ausgestreckt mitten im Zimmer auf dem Boden liegen sah, da zerschmolzen und verschwanden, eines nach dem anderen, aus meinem Herzen die Kinder mit der verschwommenen Färbung von Amber, die uns doch noch geboren werden sollten.
Roberto mühte sich nach Kräften, mich davon zu überzeugen, dass wir dich schleunigst begraben mussten – am besten umgehend, bevor jene Mörder, die dich so fahrlässig umbrachten, deinen Leichnam entdeckten. Roberto war sich nämlich sicher, dass sie deinen toten Leib konfiszieren und abtransportieren würden, um ihn zusammen mit anderen Leichen irgendwo in einer großen Grube zu verscharren. Zu diesem Gemetzel hätte es nämlich nicht kommen dürfen; und deshalb durfte auch nicht das geringste Beweisstück auf diesem Flecken Erde zurückbleiben; sie würden alles Nötige unternehmen, um sämtliche Spuren dieses Vorfalls zu verwischen! Maria bekräftigte die Worte ihres Mannes und empfahl, dich am besten so rasch wie möglich im Hinterhof ihres Hauses beizusetzen, der zu allen Seiten hin von einer hohen Backsteinmauer umgeben ist – und zwar ohne einen Grabstein zu setzen oder irgendein anderes Merkmal anzubringen.
Ja, sagte sie, diese Maßnahme sei gewiss sehr schwer für mich – aber immer noch besser, als deine sterblichen Überreste für immer und ewig in einem anonymen Massengrab verschwinden zu lassen. „Du kannst dich immer an der Gewissheit trösten, dass er hier ist, Elisabeth,“ sagte Maria sanft. Ich konnte nicht sofort antworten. Immer noch schrien Menschen draußen auf den Straßen. Und auch andere Geräusche waren zu hören: gelegentliche Schüsse, rennende Schritte, stampfende Lederstiefel, mit schwerem Brummen vorbeifahrende Kraftfahrzeuge. Womöglich würden sie schon alsbald damit beginnen, die Häuser zu durchsuchen. Mein Blick hing an deinem Antlitz, João. Ich konnte mich noch nicht mit der Tatsache abfinden, dich verloren zu haben und deinen Leichnam nun ohne Sarg und Zeremonie begraben zu müssen. Schließlich aber fügte ich mich ins Unausweichliche und willigte ein. Weinen konnte ich nicht, denn der Schock saß noch zu tief. Meine Hände zitterten, ohne dass ich sie kontrollieren konnte. Ich badete in kaltem Schweiß und fühlte mich elendiglich schwach und hinfällig. Kraftlos sah ich zu, wie Roberto und Maria unter dem alten Tamarindenbaum in ihrem Hinterhof eine Grube aushoben. Unter dem zwingenden Druck der äußeren Umstände erledigten sie diese Arbeit mit außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit. Ich aber konnte nicht die geringste Unterstützung beitragen. Und dann – nachdem sie deinen toten Leib mit zwei schmutzigen Tüchern umhüllt hatten – ließen sie dich in die geschaufelte Grube hinab. Hastig murmelten wir letzte Gebete – und ruhe in Frieden, amen –, und dann füllten die beiden dein Grab mit Erde auf. Zum Schluss ebneten Maria und Roberto den Boden über dir, damit kein Erdhügel blieb, der Argwohn hätte wecken können, und anschließend verteilten sie noch rasch einen Sack voller Kieselsteine auf deiner Grabstätte.
Eigentlich hatten sie die Kieselsteine dazu verwenden wollen, genau an dieser Stelle einen kleinen Fischteich anzulegen, doch jetzt hängten sie an einem kräftigen Ast des ehrwürdigen Tamarindenbaumes einen alten Autoreifen auf, der nun genau über dir pendelt, João. Dort, wo unsere Kinder hätten spielen sollen, bilden die Kieselsteine jetzt einen festen Untersatz für eine Reifenschaukel, auf der nun vielleicht später einmal Marias und Robertos Kinder abwechselnd schaukeln und einander anschieben können. Ja, wir alle haben uns gewünscht, dass unsere Kinder zusammen mit den portugiesischen Namen, die wir ihnen mit der Taufe hätten geben müssen, die Namen unserer Vorfahren tragen und sie auf diese Weise weiterführen sollten. Doch wir leben in einer viel zu gefährlichen Zeit, als dass wir von einer eigenen Schwangerschaft auch bloß träumen dürften. Ohne mit Maria und Roberto auch nur ein einziges Wort zu wechseln, konnte ich dieselben Gedanken in ihren Augen ablesen.
Stumm standen wir zu dritt beieinander und schauten aufmerksam zu, wie der alte Autoreifen langsam über dem Kieselbett auspendelte. Niemand von uns hatte ein Kind in diese wirre Welt gesetzt. Wir beide konnten es uns noch nicht leisten. Für Maria und Roberto hingegen ist bloß der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen. Aber für mich und dich, João, kann es diesen Zeitpunkt nun niemals mehr geben. Oh, João! Haben wir nicht alles daran gesetzt, miteinander glücklich zu sein?
Ich bin nun wieder zurück bei Mutter. Noch am selben Abend habe ich die Flucht ergriffen und bin in unser Dorf zurückgekehrt, da man womöglich nach mir gesucht hätte. Im Augenblick bietet mir das Haus meiner Mutter größere Sicherheit als diese Stadt, in der sie dich umgebracht haben. Vielleicht. Morgens lasse ich den Blick über die hügelige Savanne streifen, wo ich dich zum ersten Male unschuldig schlafen sah … damals, vor vielen Jahren. Ich atme in tiefen Zügen und genieße den Duft des trockenen Grases. Meine alte Mutter macht sich Sorgen um mich, weil ich auch nach vier Tagen noch keine Tränen vergießen kann. Vielleicht morgen … vielleicht weine ich morgen um dich, João. Vielleicht.