Kurzgeschichte
La Rangku - Drachenflug

„Ich bin ein Mädchen. Ich darf nicht mit Drachen spielen“ sagst du plötzlich die Dunkelheit der Nacht zerbrechend
Der Drachen, den Wadi fortwährend höher und höher steigen ließ, erschien kleiner und kleiner bis nur noch ein winziger, viereckiger Fleck unter dem klaren, blauen Himmel zu sehen war – sich drehend und wendend zwischen den nordwärts ziehenden Wolkenansammlungen. Der flatternde Schwanz und die sich auf und nieder bewegenden Seitenbänder waren mit bloßem Auge schon nicht mehr zu erkennen. Nur die Schnur, von der ein Ende an einer gebrauchten Milchbüchse angebunden war, blieb noch sichtbar, wie sie in einem Bogen nach unten reichte; während das andere Ende der Schnur einfach so in die Luft stach und dabei die Wolken teilte. Aber das Kind Wadi rollte die Schnur bis zum Ende ab – wissend, dass das Ende der Schnur noch am Schwanz des Drachen befestigt war, der jetzt dem Wind ausgesetzt hin und her wogte.
Aus dem Gesichtsausdruck des Jungen war abzulesen, wie begeistert und stolz er war, dass er es geschafft hatte, seinen Drachen so hoch fliegen zu lassen. Manchmal tanzte er auf der Böschung, seine schmalen Arme ausbreitend wie ein Flugzeug gleitend, welches einige Male schon über sein Dorf geflogen war. Gelegentlich wurde er langsamer, sein Körper schien das Gleichgewicht zu verlieren, er geriet ins Schwanken, stürzte aber nicht. Oder vielleicht stellte er sich auch vor, ein Zirkusakrobat zu sein, der auf einem Seil balancierte. Von Zeit zu Zeit hörte er auf zu tanzen, blickte nach hoch oben zu seinem Drachen, der fast einen Sturzflug gemacht hätte und vom Himmel gefallen wäre. Seine linke Hand hielt die Milchbüchse fest, um die Schnur aufzurollen, während die rechte Hand abwechselnd an der Schnur zog und wieder nachgab, damit der Drachen nicht zu schnell an Höhe verlor.
„Mama“, schrie Wadi plötzlich. „Komm wieder herunter auf die Erde. Steig auf meinen Drachen, Mama! Komm doch herab…! Komm herab…!“ schrie er schrill, die Wolken zerteilend, den Nachmittagshimmel zerschneidend – aber es reichte nicht, um den Himmel, wo seine Mutter in der Falle saß, in Bewegung zu setzen. Wenn immer er seinen Vater fragte, wo seine Mutter sei, oder wenn er im Fieber fantasierte, antwortete der Vater mit einem etwas gequälten Lächeln, wahrscheinlich um den eigenen Schmerz besser aushalten zu können, dass Wadis Mutter jetzt in einem Haus im Himmel wohne. „Warum hat Mama ein Haus im Himmel? Warum wohnt sie nicht einfach mit uns zusammen?“ fragte er eines Abends mit nasaler Stimme. Daraufhin begann der Vater über den Himmel zu erzählen, über die Blumengärten, über die prächtigen Häuser oberhalb von Flüssen von Honig, Milch und Mineralwasser, über all die Dinge, die das Leben einfach machen, durch die man das Leben genießen kann, über all die Einrichtungen, die kostenlos zur Verfügung standen, soviel Zauberhaftes wie man sich nur wünschen kann. „Warum hat Mama uns nicht dorthin mitgenommen?“ fragte Wadi mit weinerlicher Stimme. „Mama wird uns nicht auffordern zu ihr zu kommen, Kind.“ erwiderte der Vater. „Aber wir werden dort hingehen, um ihr Gesellschaft zu leisten, um ihrer Einladung zu folgen…..“ „Aber wo ist der Himmel eigentlich, Papa?“ – „ Dort oben, noch über den Wolken, sogar über den Sternen.“, sagte der Vater nach oben blickend und zeigte auf die Sterne, die zu funkeln schienen auf der anderen Seite der Glasziegel.
Da blickte Wadi auch nach oben. Seine vom Weinen geschwollenen, glänzenden Augen folgten dem nach oben in den Nachthimmel zeigenden Finger seines Vaters. Und in der Tiefe des Himmels zwischen den funkelnden Sternen entdeckte er etwas, was die Form eines Drachen hatte…Wadi versuchte sich das Gesicht seiner Mutter vorzustellen: eine anmutige junge Frau mit vollem lockigen Haar, das lose auf ihren Rücken herabhing, wie er es einmal auf einem Foto gesehen hatte. Wadi sah seine Mutter lächeln. Süß wie Milch. Ihre Wangen orange gefärbt wie eine überreife Mango. Aber diese Vorstellung veränderte sich fortwährend und begann den jungen Frauen in seinem Dorf zu ähneln, die ihn oft zu Besuch einluden oder den Nachbarinnen, von denen einige Witwen waren und wahrscheinlich ein Auge auf seinen Vater geworfen hatten.
Wenn Wadi schlief träumte er davon, Flügel zu haben, dann mit seinem Vater, der ebenfalls Flügel besaß, loszufliegen zum Haus seiner Mutter, zum Himmel hinauf. Glücklich im Himmel zu leben, all die wunderbaren und kostenlosen Angebote zu nutzen. Als Wadi am nächsten Morgen aufwachte, begann er wie ein Vogeljunges, seine Arme auf und ab zu bewegen. So rannte und glitt er umher, schaffte es allerdings nicht, tatsächlich zu fliegen. Sein Vater erklärte ihm, dass Arme keine Flügel seien. Wadi nickte zustimmend, aber ohne zu begreifen, und bewahrte sich seinen Traum, dass seine Arme eines Tages zu Flügeln werden könnten und ihn zum Haus seiner Mutter bringen könnten.
Aber dann wurde dieser Traum zerstört, durch den Astbruch eines Rosenapfel- (jambu air-) Baumes, auf dem Mamad, ein Spielkamerad Wadis gehockt hatte. Wadi, der sich auf demselben Baum befand, konnte nur vor Schreck erzittern, als er sah, wie sein Freund durch die Äste krachte und hart auf den mit Schotter übersäten Boden aufschlug. Die Folge von diesem Ereignis war nicht nur, dass Mamads linker Arm so schlimm zersplittert war, dass er amputiert werden musste, sondern auch Wadis Traum wurde zersplittert und amputiert.
„Papa, erzähl mir alles über Drachen“ bat Wadi nach der Erntezeit des letzten Jahres. Gewöhnlich wurde jedes Jahr nach der Ernte ein Drachenfestival unter den Bewohnern in diesem Dorf abgehalten. Es war kein riesiges Festival zwischen den Provinzen oder sogar auf internationaler Ebene mit vielen Teilnehmern, sondern nur ein kleines bescheidenes Festival als Dank für die nicht mal sehr reichliche Ernte. Das Drachenfestival hier wurde nur unter den Dorfbewohnern ausgetragen, unter sehr einfachen Bedingungen. Es gab keine Jury, die die Schönheit der Form der Drachen, deren Ausdauer in der Luft oder die Lautstärke der erzeugten Geräusche beurteilte. Sondern es würde der Drachen gewinnen, der sich am längsten in der Luft hielt und weder auseinanderfiel noch plötzlich im Sturzflug herabsank. Wadi jedoch nörgelte nicht wie die meisten Kinder im Dorf, dass sein Vater ihm einen Drachen bauen sollte. Sondern er bat seinen Vater lediglich darum, ihm alles über Drachen zu erzählen.
So erzählte ihm der Vater über den ersten Drachen, über Kaghati aus Muna; über einen König namens La Pasindaedaeno, der seinen Sohn La Rangku opferte und auf dessen Grab dann wilder Yams wuchs; über den aus jenen wilden Yamsblättern gebauten Drachen Kaghati an einer Schnur aus Ananasblattfasern, der 7 Tage und 7 Nächte in der Luft war, nur in der letzten Nacht riss seine Schnur; über den Glauben des Volkes der Muna an Kaghati, dass er bis zur Sonne fliegen würde und sie dadurch gesegnet würden.
Und Wadi hatte wieder Träume, darin war er La Rangku, war er der Drachen, der zur Sonne flog. Aber Wadi wünschte sich nicht zur Sonne zu fliegen, sondern in den Himmel zum Wohnort seiner Mutter. Er wünschte sich mit seinem Vater zusammen zu seiner Mutter zu fliegen, ihrer Einladung zu folgen. Glücklich zu leben, in einem prächtigen Haus wo unterhalb ein Fluss mit Honig, einer mit Milch und einer mit Mineralwasser floss. Sind nicht Sonne und Himmel zusammen beide höher als die Wolken und die Sterne, fragte er sich. Schließlich bat Wadi dann doch darum, einen Drachen gebaut zu bekommen.
*
Heute Nacht habe ich die Einsamkeit getroffen, die sich häufig traurig an deinen Rücken klammert. Wahrscheinlich ähnelt die Kälte dieser Einsamkeit der Kälte der Nacht, die vom Regen gewaschen wurde. So wie diese Nacht, ein dichter Regen, der schon die Steine rutschig gemacht hat, die Erde matschig, das Zelt durchgeweicht und leck, das Lagerfeuer sofort erloschen – all das steigert die Sorge in meinem Herzen. Meine Unruhe wächst, vergeblich suchen wir Unterschlupf. Denn der Regen und der kalte pfeifende Wind durchdringen immer noch meine Kleidung, wahrscheinlich auch deine Kleidung. Blätter werden von den Bäumen gerissen. Einige Waldhütten sind zusammengebrochen. Derweil ist der Donner vom nahen Wasserfall immer lauter zu hören. Meine Kleidung ist feucht, die Kälte durchdringt mich bis auf die Rippen. Und um den Körper aufzuwärmen, nachdem der Regen nachgelassen hat, willst Du in dem undichten Zelt, in dem das Wasser steht, Fertignudeln kochen. Die Flamme des Gaskochers brennt zwar blau, aber ihre Wärme erreicht meine Haut nicht, mein Herz nicht. Ich zittere noch, bin noch unruhig. Aber du kümmerst dich nicht darum.
Nachdem du ohne zu sprechen Wasser aus der Dusche geholt hast, bringst du einfach das Wasser schnell zum Kochen und bereitest ein paar Packungen Fertignudeln zu. Jedoch wer weiß warum, aber ich genieße solche Szenen einfach. Ich nehme jede deiner Bewegungen auf, genieße es zu frösteln, beobachte die Einsamkeit, die auf deinem Rücken gefriert. Gelegentlich genieße ich ein Stück von deiner Wange, deinen Augenwinkel, wenn du dich umdrehst. „Dreh dich um und lass mich die Perfektion deines Augenwinkels sehen. Und leise werde ich in deine Welt hineingehen.“ (1) Wie mein Drachen, der in der Stille zum Himmel fliegt.
Und auch in der Stille, um drei Uhr morgens des selben Tages, treffe ich dich in der Nähe des Wasserfalls, der ich weiß nicht wie viele Liter Wasser jede Minute ausschüttet, aus einer Höhe von ungefähr 20 m. Das Wasservolumen ist wahrscheinlich vergleichbar mit meinem Tränenwasser, das aus meinen Augen kam, jedes Mal, wenn ich Sehnsucht nach meiner Mutter hatte. Wer weiß das wohl? Nur die Luft und die Atmosphäre hier sind genauso wie vorher. Still. Feucht. Frösteln. Ruhelos. Nur das Zirpen der Grillen widerspricht dem Platschen des Wasserfalls Curug Gumawang, das sich durch die Nacht ausbreitet.
In dieser Stille, kalt, unter dem dunstigen Schein des Vollmonds liegt immer noch ein Abstand von der Länge einer Lanze zwischen uns. Immer noch stumm wie Statuen, aber nicht komplett bewegungslos, weil wir von Zeit zu Zeit frösteln und zittern. Das ist wahrscheinlich meine Art Szene für Szene zu genießen, die wir heute Nacht spielen, ohne viel Sprechen, ohne viel Gestik, still genießend, ganz leise. Wahrscheinlich gibt es auch noch Liebe, aber die dichte Sprache kann das nicht angemessen einfangen und ich vertraue ihr nicht mehr. So ist die Stille die sicherste Lösung. Obwohl ich schon seit einiger Zeit misstrauisch bin, nicht dass die Liebe nur ein Korken mit leuchtender Farbe ist, um Aufmerksamkeit zu erregen: auf dem dunklen Wasser treibend in einem Gefäß, das ich Herz nenne. Ein Korken ist unsere Liebe – vielleicht meine, vielleicht die meiner Mutter, vielleicht deine – zu einem Menschen oder einer Sache.
Währenddessen schwimmt und tanzt der Korken auf dem Wasser, wie es ihm gefällt. Seine Farbe wird leuchtender mit der Frequenz unserer Treffen und der andauernden Intensität unseres Zusammenseins. Wie der Korken immer leuchtender wird, er spuckt fluoreszierendes Licht in alle Richtungen aus und tanzt die schönsten Tänze der Geschichte. Aber wer hätte das vermutet, ein sichtlich heftiger Regenschauer peitscht auf das Gefäß ein. Dadurch entsteht ein Plätschern, das sich zu größeren kreisförmigen Wellen auswächst. Das ursprünglich trübe, dunkle Wasser ist nun in Aufruhr. Ein Teil der Spritzer aus dem Gefäß ist schon wer weiß wohin verdunstet, oder vielleicht in der unfruchtbaren Erde versickert. Ich betrachte die Landschaft, entblöße meine Worte. Du betrachtest die Landschaft und entblößt deine Worte. Aber vielleicht bist du ja auch ganz still dabei, ohne dass ich es weiß, aus einem Spinnennetz einen Traum zu stricken. So wie den Traum, den ich aus der Faser der Ananasblätter stricke.
Ach, eigentlich sehne ich mich danach, mit dir zu sprechen, mit dir auf Zehenspitzen zu gehen, Drachen steigen zu lassen, zu schwimmen und fliegen zu lernen. Doch dieser Regen hat an meinen Nerven gezerrt, mich unruhig gemacht, mich wieder an die vielen Drachen erinnert, die ich vor 14 Jahren habe steigen lassen und wieder zum Absturz gebracht habe. Ist dies die Nacht, in der meine Mutter mich treffen wird? Oder wird mein Drachen dieses Mal dem Wetter unterlegen sein? Zu Boden gehen, zerbrochen, zerrissen. Oh… sicher bin ich La Rangku, der von der Sonne geröstet wird, wenn immer es sehr stark regnet. „Ich bin ein Mädchen. Ich darf nicht mit Drachen spielen“ sagst du plötzlich die Dunkelheit der Nacht zerbrechend. Aber deine Worte scheinen an niemanden gerichtet zu sein, sondern nur an dich selbst. Ich möchte dir anbieten: „Willst du mit mir einen Drachen steigen lassen? Und wir warten zusammen auf den Segen meiner Mutter…“ Aber der Satz bleibt mir im Halse stecken.
(1) zitiert nach dem Gedicht „Die Sicht auf Dich hinter dem Spielzeug“ von Herwan FR, mit leichter Anpassung