Kurzgeschichte
Wir reißen unser Haus ein

In der Tat haben unsere Großeltern das Haus, das wir gerade einreißen, nicht gleich so mit den heute sichtbaren Wänden erbaut, sondern Stück für Stück
Den ganzen sengend heißen Mittag holten wir die Ziegeln vom Dach, nachdem wir bereits Fenster und Türen nebst Gittern aus den Wänden des Hauses entfernt hatten, das unsere Großeltern vor 90 Jahren erbaut hatten. Wir hatten beschlossen, dieses ererbte Haus einzureißen und es durch ein neues zu ersetzen. Wir werden es im spanischen Stil errichten, der gerade in unserer Gegend angesagt ist. Ein Haus mit einer Vordertür und schwarz getönten Scheiben ohne Jalousie auf der linken Seite. Auf der rechten Wand sollen glänzende Fliesen angebracht werden, und darüber versetzte Scheiben aus schwarzem Glas zur Lüftung. Auf der Terrasse werden wir zwei Säulen aus Beton errichten, die mit Holzschnitzereien verziert sind, wie man sie aus der Region Jepara kennt. Der Boden wird natürlich mit glänzenden Fliesen ausgelegt. Das Haus wird nicht breiter, aber nach hinten verlängert durch ein Wohnzimmer neben dem Gästezimmer und durch zwei Schlafzimmer neben der Stube.
Uns schwebt ein 21 Zoll-Fernseher und eine komplette Stereoanlage zum Musikhören vor. Im hinteren Teil soll eine topmoderne Küche mit hölzernen Hängeschränken gebaut werden, unter denen eine Bordüre mit handtellergroßen, weißen Fliesen angebracht wird. Neben der Küche – genauer: rechts daneben – wird durch eine Mauer eine Garage abgetrennt. Auf der anderen Seite wird ein Bad mit kleinen, blauen Fußbodenfliesen entstehen, ausgestattet mit einer 70 Watt Lampe. Und wir werden die geputzten Wände mit weißer Industriefarbe streichen, und nicht mit der aus Branntkalk. Das Dach soll mit roten Schindeln gedeckt werden, die bei Sonnenschein wie Blitze reflektieren und blenden. Vielleicht ist unser Haus dann wie ein neues Geschöpf, und jeder, der es von früher kannte, wird sicher sprachlos sein. Wenn er reingeht, wird er sich wie in einem Raumschiff fühlen, auf dem eine Fernsehantenne thront, als ob sie in den Himmel stoßen will.
Wir drei Geschwister stimmten darüber überein, dass wir das Haus nicht verändern wollen, um der neuesten Häusermode in unserem Viertel zu folgen, sondern weil mir mit voller Absicht alle Hinterlassenschaften unserer Großeltern verschwinden lassen wollen. Schon vor langer Zeit haben wir Holzfäller mit Motorsägen gerufen, um zehn Palmen zu fällen, die wahrscheinlich älter waren als wir selbst. Diese Bäume waren circa 75 Meter hoch, und wenn der Wind in sie fuhr, schwankten sie, als ob sie die Geschichten raunen wollten, die wir von unseren Eltern, den Geschwistern unserer Mutter und unseren Nachbarn gehört hatten. Und wir sahen uns das Haus auch im Familienalbum aus dem Jahre 1967 an. Nie haben wir uns wie im Jahre 2006 gefühlt, wenn wir uns in Erinnerungen verloren und das Familienalbum öffneten. Es gab einen schwarzen Schatten, der uns immer dazu brachte, das Haus mit dem dazugehörigen einem Hektar Land niederbrennen zu wollen. Es abzubrennen und auszuwechseln mit einem siebzigstöckigen Gebäude. Aber das ist unmöglich. Wir können es nur durch ein Haus im spanischen Stil ersetzen und alle Palmen auf dem Hof fällen und durch einen Garten austauschen, in dem zehn Fichten stehen. Diese Bäume mit den spitzen und langen Nadeln werden uns daran erinnern, dass wir 2006 haben und nicht im Jahre 1967 verblieben sind.
In der Tat haben unsere Großeltern das Haus, das wir gerade einreißen, nicht gleich so mit den heute sichtbaren Wänden erbaut, sondern Stück für Stück. Zunächst wurden die Eckbalken auf den Boden gestellt, deren Holz in irgendeinem Wald geschlagen worden ist. Diese wurden mit geflochtenen Bambusmatten als Wand bedeckt. Hinzu kamen eine Tür aus Teakholz und Fenster, die anstatt mit Glas nur mit gedrechselten Holzstäben versehen worden waren. Das Dach bestand aus Schindeln, die bei den Dorfnachbarn zusammengekauft worden waren. Jeder Holzpfahl bekam ein Fundament aus Steinen, die aus dem östlich vom Haus gelegenen Fluss Ewuh stammten. Der Bau des Hauses wurde in den 1930er Jahren begonnen, bevor die Japaner mit ihren Gewehren mit Bajonetten kamen, den Reis raubten und die Leute zwangen, nur von Maniokknollen und Palmherzen zu leben. Wir wissen nicht, wie solches Essen schmeckt, aber nach Vater war es damals eine köstliche Mahlzeit.
Die zweite Bauphase begann 1957. Mutter hat mal erzählt, dass dieser Umbau auf Vorschlag von unserem Großvater erfolgte, zwei Jahre bevor er dann an Atemnot verstarb. In der Mitte wurde das Haus durchgeschnitten und die Fundamente mit Flusssteinen und einem Betongemisch bestehend aus Flusssand, Sand aus rotem Gestein und weißem Branntkalk verstärkt. Darauf wurden dann die Ziegelsteine ganzsteinig gemauert, und nicht halbsteinig, wie es heute üblich ist. Die Mauern des Hauses unserer Großeltern waren dick und sahen sehr stabil aus. Die Tür und die Fensterrahmen waren aus uraltem, 5 cm dickem Teakholz gemacht. Der vordere Abschnitt des Hauses wurde dagegen mit Bambusflechtwerk als Wand belassen, die Vorderwand versehen mit Leisten aus Teakholz. Das Haus unserer Großmutter war nicht einfach gerade nach hinten ausgerichtet, sondern war geformt wie ein „L“, mit dem vorderen Teil als dessen Fuß.
Das Haus war groß, und wie man heute sehen kann, das größte Haus im Viertel. Ein Haus mit Branntkalk geweißten Mauern, die jedes Jahr kurz vor dem Fest des Fastenbrechens getüncht wurden. Jedes Mal, wenn das Weißen frisch erledigt war, sah das Haus aus, als ob es gerade aus einem langen Schlaf erwachte, neu eingekleidet und bereit, wen auch immer zu empfangen. Als ob unser Haus nur an Festtagen fröhlich war und allem mit einer eigenen Glückseligkeit trotzte, die sonst nie anzutreffen war – außer an Feiertagen. Manchmal wurden vorn junge Palmwedel angebracht, die wippten, wie Hände, die jeden Vorbeigehenden grüßten und dabei vielleicht sagten: „Hey, komm her. Ich bin froh, dass du vorbeikommst. Ich habe heute keinerlei Probleme.“ So ging es auch mit den Bewohnern.
An Feiertagen waren wir und die Eltern wie neu geboren. Wir sahen einander an, als ob wir neue Menschen waren und uns nicht erinnern konnten, was gestern, vorgestern oder auch vorvorgestern geschehen war. Wir hatten neue Sachen an, auch wenn es nicht die allerbesten waren, die es in unserem Viertel zu kaufen gab. Neue Sandalen. Neue Hosen. Und neue Speisen in den verschiedensten Farben. Oft, wenn kein Feiertag war, wachten wir auf und hofften, dass eine neue Speise wartete, oder ein Lächeln und kein Treffen mit jenen verfluchten Menschen, die immer mit einem mürrischen Gesicht einherkamen und so aussahen, als ob sie uns auch gleich verschlingen wollten. Ja, als wir ungefähr zwölf Jahre alt waren, kamen oft Leute, um uns zu terrorisieren, auch wenn sie eigentlich aus Mutters Familie stammten. Sie kamen einfach so vorbei und forderten alles Mögliche von Mutter, was natürlich auch noch am gleichen Tag erfolgen musste. Wenn nicht, wurde unsere Mutter von ihnen angeschrien. Erhielten sie nicht, was sie verlangten, wurde unsere Mutter geohrfeigt, als ob sie kein Mensch wäre. Wir wussten nicht, was in diesen Menschen vorging. Einen von ihnen sprachen wir mit Pak Min an, wenn wir ihn unfreiwilligerweise vor dem Haus oder auf der Straße getroffen haben. Dies, um den Schein der Höflichkeit vor den anderen Leuten unseres Viertels zu wahren, um zu zeigen, dass wir Mutters Bruder noch ehren. Oder, weil wir in Wirklichkeit fürchteten, auch geohrfeigt zu werden?
Bevor unsere Großmutter verstarb, war sie zum Ziel geworden. Oft wurde Großmutter von Pak Min angeschrien, und wahrscheinlich weil sie fürchtete, ständig von ihrem Sohn so behandelt zu werden oder aus irgend einem anderen Grund, holte sie normalerweise ihre Ersparnisse oder ihren Schmuck und gab sie ihm – einfach so. Danach sprang er ohne ein Wort zu sagen vom Stuhl auf, ging sofort zum Fahrrad auf dem Hof und fuhr damit irgendwohin. Wir sahen Großmutter seufzen und wie sie versuchte, uns zuzulächeln, während sie mit uns aus dem Haus ging, um das Gras zu jäten, das auf dem ganzen Hof zu sprießen begann. Während Großmutter dann das Gras ausriss, gab sie keinen Ton von sich und nur ihre Hand riss flink und kräftig an den Wurzeln der Grasbüschel auf dem Hof. Danach wurde das Gras westlich des Hauses gehäufelt und zusammen mit getrockneten Bananen- und Rambutanblättern verbrannt. In unseren Augen war Großmutter beim Verbrennen des Grases immer sehr ernst, als ob sie ihren eigenen Ärger über das Verhalten ihres Sohnes mitverbrennen würde.
Aber in unseren Herzen nannten wir ihn nicht Pak Min, sondern nur den Schlächter. Den Schlächter, da er im Sturm von 1965 der Anführer der Meute in unserer Gegend wurde. Laut Mutters anderem Bruder kamen eines Abends Leute zum Schlächter, die schwarze Masken trugen, durch die jeweils nur die zwei Augen sichtbar waren, und auch deren ganze Körper mit schwarzer Kleidung bedeckt waren. Keine Ahnung, was er sich dabei dachte, aber der Schlächter ging gern mit ihnen. Er verließ das Haus und spaziert in das Dunkel der Nacht auf der Straße nach Norden. Seine Mutter, unsere Großmutter, weinte, als sie ihn mitgehen sah, obwohl sie es zu verhindern versucht hatte. Sie wälzte sich auf dem Boden, beobachtet von ihren vier kleinen Töchtern, die zitternd in der Ecke des Hauses standen. Zu dieser Zeit war unser Großvater bereits verstorben, und Großmutter wurde zur Zielscheibe ihrer Söhne, vor allem des Schlächters.
Und so war es auch in jenen Monaten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, als der Schlächter herrschte. Viele Menschen wurden vom Schlächter ermordet. Wenn unsere Großmutter von den Untaten ihres Sohnes hörte, wurde sie nachdenklich und nur sehr schwer ansprechbar. Unsere Großmutter war immer seltener zu Hause und ging abends ständig weg, wer weiß wohin. Manchmal blieb sie zwei Tage weg und wenn sie dann zurückkam, sah ihre Kleidung schäbig aus und ihr Körper verströmte einen unangenehmen Geruch. Jedes Mal, wenn unsere Mutter oder eine ihrer Schwestern klagte, dass die Lebensmittel alle wären, schwieg Großmutter oder schrie: „Wenn ihr essen wollt, sucht euch selber was! Wenn nicht, sterbt halt alle!“ Und so kümmerte sich unsere Mutter, die noch klein war, zusammen mit ihren Schwestern um den Lebensunterhalt, indem sie am Ufer des Flusses Ewuh nach Chilis und Gemüse suchten, das wild wuchs, da die Felder nicht bewirtschaftet wurden. Wenn es einmal nicht reichte, da sie den ganzen Tag nicht das bekommen hatten, was sie brauchten, erbettelten sie es sich von den nächsten Nachbarn. Die beiden Brüder hingegen kamen immer seltener nach Hause, und wenn sie kamen, dann nur für einen Augenblick und auch nur, um all das wegzutragen was verpfändet oder verkauft werden konnte. Mit Großmutter dagegen konnte man sich fast nicht mehr normal unterhalten, ohne dass sie vor Wut explodierte. Letztendlich musste unsere Mutter die Mittelschule abbrechen, da das Fahrrad, mit dem sie den zweistündigen Schulweg sonst hinter sich brachte, plötzlich weg war und nie wieder auftauchte. Unsere Mutter konnte nur noch weinen.
Ja, Mutter konnte nur noch weinen. Weinen, wie unter den Schlägen vom Schlächter. Wir schiegen nur, und auch wenn wir auch noch klein waren, so wuchs doch unser Hass auf den Schlächter. Der Schlächter, der in Wirklichkeit nicht mehr zum Schlachten kam; der Schlächter, der es jedoch nicht lange aushielt, nicht das Hackgeräusch der Machete zu hören, so wie er es immerzu im Sturm der 1965er Jahre gehört hatte. Das hackende Geräusch seiner Machete war in seine Seele gesickert und hatte sich dort festgesetzt und hatte dort sogar ein Zuhause gefunden. Noch in den 1980er Jahren, wenn sich der Schlächter an das in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre permanent hörbare, hackende Geräusch seiner Machete erinnerte, wurde der Schlächter wie verstört. Er schlug auf alles ein, bis dieser Krach das in seinem Innersten lodernde Hacken der Klingen übertönte. Wenn das Zerschlagen nicht gegen diese Hackgeräusche ankam, ging er zu seiner Frau oder zu seinen Kindern. Und wenn sie nicht da waren, so ging er zu seinen Geschwistern, vor allem zu seinen Schwestern. Und der Schlächter liebte es, sie vor Schmerzen stöhnen zu hören.
Ach, unsere Brust wollte schier zerspringen. Aber Mutter verbot uns irgendwas zu unternehmen, egal was der Schlächter auch immer ihr angetan hatte. Mutter sagte nur, dass wir den Kreislauf der Rache stoppen und beenden müssen. Es wäre gut wenn wir es unterbrechen könnten. Wir wussten nicht, was sich Mutter in Wirklichkeit dabei gedacht hatte, als sie so zu uns sprach, der Länge nach ausgestreckt mitten im Haus und mit dem Gesicht nach oben in die Ferne gerichtet. Der Sonnenuntergang ergoss sich über den Himmel. Die Vögel flogen am Himmel. Die Palmenblätter glühten golden an ihren Spitzen. Kurz stockte Mutters Atem, um dann für immer zu schweigen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Mutter bereits all ihre Geschwister überlebt. Mutter hinterließ uns nichts als die Hoffnung, unser Leben in Frieden leben zu können. Ja, auf dass wir der Familie des Schlächters verziehen, die unsere Mutter zeitlebens nur gequält hat. Wir konnten es nur nicht aushalten, wenn die Erinnerungen durch das Haus wieder hochkamen, sich in unsere Träume schlichen und sich dann wie ein Funke in der Trockenzeit in unserem Denken ausbreiteten. Wir fürchteten diese Schatten nicht, aber wir hatten Angst davor, dass wir es nicht in den Griff bekommen, wenn in unseren Köpfen der Schatten des Schlächters auftauchte. Vielleicht würden wir einfach still sein, oder aber wir schnappen uns irgendwas und schleudern es auf irgendwen in unserer Nähe.
Wir möchten nicht, dass diese Schatten wieder auftauchen, und so haben wir Geschwister einstimmig beschlossen, unser fast hundertjähriges Haus einzureißen und es durch ein neues im spanischen Stil zu ersetzen. Wir wissen nicht, was in unseren Köpfen geschehen wird, wenn das neue Haus einmal fertig gebaut sein wird. Vielleicht haben wir dann all unsere Vergangenheit verloren, da kein noch so kleines Einrichtungsteil des neuen Hauses aus dem Erbe unserer Großeltern und Eltern stammt. Wir werden die ganze Einrichtung neu kaufen und werden sie so herrichten, dass eine für uns noch nie gefühlte Atmosphäre entsteht, wie sie sich auch sonst bisher noch niemand vorstellen konnte. Wir werden an einem neuen Ort sein und wir werden neue Vergangenheiten schaffen.
Imam Muhtarom wurde 1977 in Blitar auf Ost Java geboren. Er studierte an der Fakultät für Philologie der Universität Airlangga in Surabaya und machte seinen Abschluss im Jahre 2001. Seitdem schreibt er Belletristik, Buchbesprechungen, Übersetzungen, Literatur-, Kunst- und Theaterkritiken. Außerdem arbeitet er als Kunstkurator und ist ein Gründungsmitglied und Kurator des Borobudur Schriftsteller und Kulturfestivals. Seine Kurzgeschichten werden oft in nationalen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlich, darunter in den zehn besten Kurzgeschichten der Bali Post und in den zehn besten Kurzgeschichten der Universität von Padang und Deakin. Auch den S Gonjong 1 und Potret, hat er Geschichten beigesteuert. Darüber hinaus hat er zwei Bücher veröffentlicht: Rumah Yang Tampak Biru Oleh Cahaya Bulan (2007) und Kulminasi; Teks, Konteks, dan Kota (2013).