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Interview mit Regisseurin Yulia Mestechkin
The Book of Maria

Julia Mestechkin
Foto: Cedric Dorin © Goethe-Institut Israel

The Book of Maria” – geplant war ein Theater-Projekt, doch dann kam Corona. Im Interview erzählt Regisseurin Yulia Mestechkin, wie sie die Herausforderung dennoch annahm, die  Geschichten von “Maria” zu erzählen – in einer auch für sie neuen künstlerischen Form.
 

Von Cedric Dorin

Mit der Protaganistin Ihres neuen Projekts arbeiten Sie nicht zum ersten Mal zusammen.

Stimmt, Maria war bereits bei “Out of Mea Shearim” dabei, einem Dokumentar-Theater, das ich zusammen mit meinem Bruder Evgeni und mit der Unterstützung des Goethe-Instituts Israel und der Hamburger Behörde für Kultur und Medien vor sieben Jahren verwirklichen konnte. Acht Darsteller und Darstellerinnen haben damals ihre eigenen Geschichten über den Ausstieg aus der ultra-orthodoxen Lebenswelt aufgeschrieben, daraus entstand ein Stück, das wir dann in Jerusalem und in Hamburg aufgeführt haben.

Dieses Mal konzentrieren Sie sich auf nur eine Person.

Maria schrieb schon damals die besten Geschichten. Bei jedem, der sie liest, entstehen im Kopf sofort Bilder, wie in einem Film. Dieses Talent des bildhaften Beschreibens hat sich gewiss auch deshalb entwickelt, weil es in der ultra-orthodoxen Welt, in der Maria aufgewachsen ist, keine Filme und kein Internet gab. Es ist eine Kultur des Geschichten-Erzählens. Wir in der Gesellschaft von heute haben das vielfach verloren, mehr als zwei Sätze sind für manche ja schon zu viel. Aber natürlich ist es vor allem Marias Persönlichkeit, die dieses Projekt trägt.

Was macht sie aus?

Maria ist außergewöhnlich, ein sehr freier Geist, der sich aussdrücken will. In der Vorbereitung des Projekts haben wir Fotos gemacht. Als wir unterwegs waren, hatten wir plötzlich eine große Pfütze vor uns. Während ich noch darüber nachdachte, wie man visuell damit arbeiten könnte, lag Maria schon drin, im dreckigen Wasser. Für ein gutes Bild, als Mittel des Ausdrucks, macht sie das einfach. Sie hat auch keine Angst, über sehr Persönliches zu sprechen, ihr Herz zu öffnen und dann zu sagen: So ist es eben.

Wie bei “Out of Mea Shearim” wollten Sie eigentlich wieder ein Bühnenstück entwickeln.

Ja, mein Bruder war im Februar 2020 aus Hamburg mit einem Bühnen-Designer eingeflogen und wir begannen mit den Proben. Als ich ihn dann wieder zum Flughafen brachte, war dieser fast leer. Das war der Beginn von Corona, und es wurde uns allen immer deutlicher, dass es damit nicht so schnell vorbei sein würde. Durch die folgenden Lockdowns war dann allen klar: Traditionelles Theater, das wird für lange Zeit nicht möglich sein.

Was hatten Sie denn ursprünglich geplant?

Wir hatten unterschiedliche Ideen: Dass Maria Gastgeberin einer TV-Show ist, die in einem ungenutzten Theater der großen Busstation in Tel Aviv stattfinden könnte. Sie ist die Hauptperson, andere kommen hinzu. Eine andere Idee war, dass sie eine Tour durch eine Nachbarschaft nahe des Marktes in Jerusalem macht, an jeder Station eine Geschichte erzählt, die Zuschauer ihr folgen können. Wir wollten einfach viele Leute einbinden, die Lockdowns machten das aber unmöglich.

Sie wollten sich Corona aber auch nicht geschlagen geben.

Auf keinen Fall. Wir hatten die meisten Geschichten zusammen und wussten, dass wir mitten in etwas Gutem sind. Wir wollten aber auch keine großen Kompromisse machen, das war die Herausforderung. Es sollte weiterhin interessant sein, keine zweitbeste Lösung aufgrund der Umstände. Also haben wir uns entschieden, Marias Geschichten so zu erzählen, dass es eine Mischung wird aus Elementen von Theater, Film und Media-Art. Das hat uns wiederum die Möglichkeit eröffnet, dass man Maria in zwei Rollen sieht: Einmal als jene Person, die sie wahrscheinlich gewesen wäre, hätte sie ihre alte Welt nicht verlassen. Und wer sie heute ist. 
 

  • The Book of Maria 1 © Goethe-Institut Israel
  • Szenenbild The Book of Maria 2 © Goethe-Institut Israel
  • The Book of Maria 4n © Goethe-Institut Israel
  • The Book of Maria 4 © Goethe-Institut Israel
  • The Book of Maria 5 © Goethe-Institut Israel
  • The Book of Maria 10 © Goethe-Institut Israel
  • The Book of Maria 6 © Goethe-Institut Israel
  • The Book of Maria 7 © Goethe-Institut Israel
  • The Book of Maria 8 © Goethe-Institut Israel
Warum interessiert Sie das Thema des Ausstiegs aus der ultra-orthodoxen Welt eigentlich derart, dass Sie sich erneut damit auseinandersetzen? 

Alles beginnt immer mit einem Treffen. Vor zehn Jahren begegnete ich jemandem, der ultra-orthodox war und eine so faszinierende Geschichte hatte, dass ich ihn auch meinem Bruder vorgestellt habe. Und gerade, wenn man wie ich in Jerusalem lebt, sieht man diese Menschen die ganze Zeit. Im Bus, in der Bahn, überall. Sie sind faszinierend, aber man sieht eben nur das Äußerliche, du weißt nicht, wer sie sind, und wie jeder von ihnen hinter der vermeintlichen Uniformität anders ist. Gewiss ist das Interesse an dem Thema aber auch deshalb so groß, weil ich mich mit vielem, was sie erleben, identifizieren kann. 

Inwiefern?

Wir beide, mein Bruder und ich, sind Emigranten. Ich bin nach Israel, er ist nach Deutschland ausgewandert. Auch wir kennen die Herausforderung des Hineinfindens in eine neue Welt. Man zieht in diese neue Welt, aber ein Teil von dir bleibt in der alten. Auch Maria hat diesen Doppelgänger der Vergangenheit, der immer bei ihr ist, mit dem sie im Dialog ist.  Für mich ist der Ausstieg aus der ultra-orthodoxen Welt immer auch eine Geschichte von Emigration, und das in einer Zeit wie dieser, in der die halbe Welt emigriert.

Mittlerweile hat selbst “Netflix” das Thema mit der Serie “Unorthodox” aufgegriffen.

Wenn wir über diese ultra-orthodoxe Welt und den Ausstieg daraus reden, ist das nur auf den ersten Blick exotisch. Denn der Grund, warum sich auch in Deutschland so viele auf diesen Geschichten einlassen konnten, ist, dass es um Gefühle geht, die jeder hat. Jeder hat Familie, jeder fühlt sich einsam, jeder möchte dazugehören, herausfinden, was Freiheit ist, und wie sich Einschränkungen anfühlen. Durch die vielen persönlichen Begegnungen weiß ich, dass dieser Übergang in die neue säkulare Welt in den meisten Fällen alles andere als schmerzfrei ist, oft stecken die Aussteiger fest, auf der Hälfte der Strecke. Es gibt viel Einsamkeit. Wonach sie suchen, wonach sie sich sehnen, hängt natürlich von der jeweiligen Person ab, aber jeder sucht einen Anschluss. Sie kommen aus einer sehr engen Gemeinschaft, in der du nie für dich bist. Das ist manchmal gut, manchmal schlecht. Wenn sich die Aussteiger an Shabbat treffen, kann man erleben, wie sie nach wie vor traditionelle Gerichte essen und chassidische Lieder singen, das ist wie comfort food, Essen für die Seele. Ihr Zuhause ist noch immer in dieser chassidischen Kultur.

Welche persönlichen Geschichten von Maria sind nun Teil Ihres neuen Projekts geworden?

Wir wollen erzählen, wie bewegt ihr Leben bis heute schon gewesen ist: Maria hat sehr jung geheiratet, ließ sich wieder scheiden, sie schrieb für ein anarchistisches Magazin, stand sogar einmal unter polizeilichem Hausarrest, für eine Weile war sie sogar Siedlerin. Dieses Projekt dreht sich aber mehr um Maria als Person als um das Phänomen, die religiöse Welt zu verlassen. Auch die Tatsache, dass Mitglieder ihrer Familie während des Holocaust in Konzentrationslagern inhaftiert waren, kommt vor.

Im Rückblick: Haben sich die Einschränkungen durch Covid nur negativ auf das Projekt ausgewirkt?

Nein, im Gegenteil. Es war zwar keine einfache, teils auch eine sehr einsame Erfahrung, trotz der Möglichkeiten der Kommunikation durch Zoom. Aber durch die Einschränkungen waren wir alle gezwungen, noch viel mehr zu experimentieren und zu improvisieren und haben damit die Erfahrung gemacht, dass sich für jede kleine Krise eine Lösung findet. Was mich selbst als kreative Person betrifft: Ich habe erkannt, zu was ich alles, zu meiner eigenen Überraschung, auch noch imstande bin. Mit der Herausforderung bin ich tatsächlich gewachsen, und das gilt sicher auch für Maria. Auch die Theater-Welt wird nicht mehr die gleiche sein. Theater wird es weiterhin geben, aber die Menschen haben sich durch diese Pandemie verändert. Unsere Wahrnehmung der Welt, unser Denken, ist anders, deswegen müssen wir uns auch künstlerisch auf andere Weise ausdrücken, viel digitaler. Unser kleines Projekt ist schon ein Teil dieses globalen Prozesses, auf das ich sehr stolz bin.
 
Yulia Mestechkin, geboren in Moskau, lebt seit 1994 in Israel. Sie ist Dokumentarfilmerin und Fotografin. Sie hat in verschiedenen Funktionen – als Rechercheurin, Regie-Assistentin, Interviewerin und Produzentin – für das israelische Fernsehen und an mehreren nationalen und internationalen Filmproduktionen mitgearbeitet. Ihre fotografischen Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenaustellungen gezeigt. 2015 verwirklichte sie zusammen mit ihrem Bruder Evgeni Mestechkin ihr erstes israelisch-deutsches Theater-Projekt „Out of Mea Shearim“, an dem acht ehemals ultra-orthodoxe Frauen und Männer teilnahmen und ihre Geschichte erzählten.

 

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