Flucht und Migration
Über das Recht, Hoffnung zu haben

Felix Heidenreich
privat

Die Rede von einem Recht, Hoffnung zu haben mag zunächst befremdlich klingen. Von Hannah Arendt stammt die berühmte These, es gäbe nur ein wirkliches Menschenrecht, nämlich das Recht, Rechte zu haben. Mit dieser These wollte Arendt auf einen blinden Fleck in der universalistischen Menschenrechtsdiskussion hinweisen.

Die Menschenrechte, so Arendts These, bleiben nämlich so lange ein leeres Versprechen, so lange sie nicht durch eine faktische Macht geschützt werden. Es sind in der Regel die Nationalstaaten, die ihre Bürgerinnen und Bürger schützen und als Garanten von Menschenrechten auftreten können. Daher besteht das fundamentale Menschenrecht nach Arendt in einem Anspruch auf Staatsangehörigkeit; die fundamentale Zugehörigkeit erlaubt dann das Einklagen weiterer Rechte. Diese Analyse des komplexen Verhältnisses von Staatsangehörigkeit und Menschenrechten findet bei Arendt natürlich zugleich vor dem Hintergrund der Erfahrung statt, dass es gerade Nationalstaaten sein können, die Menschenrechte auf fundamentale Weise verletzen.

Nun ist Hannah Arendt aus verschiedenen, sehr verständlichen Gründen in Israel – viel weniger als in Deutschland – umstritten. Dennoch lässt sich ihr Gedanke einer politischen Interpretation von Grundrechten weiterverfolgen. Der Versuch, so etwas wie ein Recht auf Hoffnung zu denken, soll in diesem Sinne eine Grundintuition Arendts weiterentwickeln.
Dass uns diese Formulierung merkwürdig vorkommt, lässt sich historisch erklären. Wir kennen ja sehr viele, auch international kodifizierte Grundrechte: Ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Privatbesitz, auf freie Meinungsäußerung, auf Gleichbehandlung der Geschlechter. Selbst so vermeintlich sekundäre Grundrechte wie das Recht auf freie Berufswahl können – beispielsweise im Kontext der Europäischen Menschenrechtskonvention – ganz konkrete Folgen haben. Im Gegensatz zu diesen ganz konkreten Abwehrrechten, die uns vor staatlicher Bevormundung oder Ungleichbehandlung schützen sollen, scheint ein Recht auf Hoffnung zunächst ganz abwegig. Zwar wird der Topos der Hoffnung in der politischen Rhetorik immer wieder aufgerufen; paradigmatisch hierfür waren die Wahlkämpfe Barack Obamas. Doch nach liberalem Verständnis sind unsere Hoffnungen inhaltlich unsere private Angelegenheit. Ich mag ja auf Gesundheit und ein langes Leben hoffen, auf sportliche Erfolge, spirituelle Erleuchtung oder das Beste für meine Kinder. Aber ein strukturell liberaler Rechtstaat kann oder sollte nach landläufiger Meinung für unsere Hoffnungen nur insofern zuständig sein, als er uns keine Schranken bei deren Verfolgung auferlegt. Was wir hoffen und ob das Hoffen gelingt – das ist Privatsache. Woran liegt das eigentlich?

Seit wann sind unsere Hoffnungen Privatsache?

Wenn wir heute von Hoffnung sprechen – zumindest ist das im Deutschen Sprachgebrauch so – dann bewegen wir uns meist in der Sphäre der Religion. Als Kant die Frage formulierte „Was darf ich hoffen?“, grenzte er damit das Themenfeld der Gottesfrage und der Frage des ewigen Lebens ein. Gemeint war: Darf ich hoffen, dass es einen Gott gibt? Darf ich auf ein Leben nach dem Tod hoffen? Darf ich auf so etwas wie eine ultimative, göttliche Gerechtigkeit hoffen, die die innerweltliche Ungerechtigkeiten aufhebt und zurechtrückt?

Heute stehen uns die Vorstellungen von jenseitiger Gerechtigkeit, von Strafgerichten und jenseitigen Heilsversprechen vor allem durch ihre katastrophalen diesseitigen Konsequenzen vor Augen. Oft werden nämlich Ungerechtigkeit und Terror im Namen göttlicher Gerechtigkeit in die Welt getragen. Die Privatisierung, ja Entpolitisierung dieser Fragen scheint da eine sinnvolle Antwort zu sein.

Diese Privatisierung metaphysischer Hoffnung geht einher mit der Pluralisierung diesseitiger Hoffnungen: In pluralistischen Gesellschaften darf jeder das Seine, das Private, das ganz Persönliche, ja selbst das Ausgefallene und Schrullige hoffen. Gerade die Divergenz unserer Aspirationen macht aus dieser Sicht das Leben auf engem Raum erträglich. Nur weil wir uns als Bürgerinnen und Bürger mit verschiedenen Hoffnungen aus dem Weg gehen, können wir nebeneinander leben, ohne zusammen leben zu müssen. Eine eskalierende Konkurrenz um knappe Güter kann nur dadurch vermieden werden, dass wir gemeinsame Hoffnungen gerade vermeiden. Und mehr noch: Waren die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts nicht gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie kollektive Hoffnungen versprachen und eine Kollektivierung der Hoffnungen praktizierten?

Die konsequente Privatisierung der Hoffnung war also eine vernünftige Antwort auf reale Gefahren. Ihre Folgen begegnen uns heute überall dort, wo eine ganze Industrie von Motivations-Coaches die Steigerung privater Hoffnung verspricht. Die Schattenseite dieser Tendenz ist jedoch die Tatsache, dass die Hoffnungslosen ihre Situation als individuelles, ganz persönliches und vollständig privates Problem betrachten müssen.

Aber ist diese Privatisierung von Hoffnung ein plausibles Konzept?

Gerade Europa scheint, von Ausnahmen wie Norwegen oder Dänemark abgesehen, durch einen umfassenden Mangel an Hoffnung ausgezeichnet. Vor allem Deutschland und Frankreich ragen als Länder heraus, deren Bevölkerung besonders pessimistisch ist. Nicht nur die Umfragen zeigen, dass beispielsweise in Deutschland 55 Prozent der Menschen mit einer negativen Zukunft rechnen. Es gibt auch so etwas wie eine Stimmung, die sich in Bestsellern äußert, die den Niedergang beschreiben und analysieren. In Frankreich ist bekanntlich ein eigenes Buch-Genre entstanden, der sogenannte déclinisme.

Natürlich gibt es gute Gründe für solche finsteren Szenarien. Die Erfahrung des Terrors ist – anders als in Israel – in Deutschland und Frankreich neu. Die europäischen Gesellschaften sind sich völlig darüber im Unklaren, wie sie angemessen reagieren sollen, und schwanken zwischen Hysterie und Beschwichtigung. Dann aber gibt es noch die großen globalen Trends, die die europäische Mittelschicht verunsichern: Globalisierung, Migration, Digitalisierung. Und als eine sich immer weiter konkretisierende Drohung zeichnet sich längst der Klimawandel ab. Während Dänemark mit Zuversicht und Ehrgeiz reagiert (Kopenhagen ist zum globalen Vorbild geworden), gibt es weder in Frankreich noch in Deutschland einen kohärenten Plan für eine post-karbone Gesellschaft. Dass sich aus dieser Konstellation eine tiefe Verunsicherung ergibt, lässt sich sehr gut im intergenerationellen Vergleich zeigen. Für die Jüngeren ist das eigene Haus unerreichbar geworden, weil die Immobilienpreise explodiert sind und der Arbeitsmarkt von Prekarisierung geprägt ist.

Vielleicht spiegelt sich der Abstieg der Mittelschichten nicht so deutlich in Zahlen, worauf Kritiker der Abstiegsthese immer wieder hinweisen: Statistisch scheint es den Deutschen durchschnittlich vergleichsweise gut zu gehen. Aber die Hoffnungen sind eben ganz ungleich verteilt. Während sehr wenige allen Grund haben, optimistisch in die Zukunft zu blicken, weil sie gemütlich beobachten können, wie ihre Vermögen von alleine wachsen, sind alle anderen dazu verdammt, ihre Hoffnungen systematisch erodieren zu sehen. Für wenige gilt: Time is on my side, wie die Rolling Stones sagen würden. Sehr viele aber fühlen sich strukturell überfordert, „im Hamsterrad“ wie man auf Deutsch sagt; sie haben das Gefühl zu kämpfen, ohne Boden unter die Füße zu bekommen. Der Soziologe Hartmut Rosa hat diese Situation eindringlich beschrieben.

Die extrem niedrige Geburtenrate in Deutschland mag viele Gründe haben; ein Grund ist sicher auch die Tatsache, dass man für Kinder Zuversicht braucht. Zumindest atmosphärisch besteht kein Zweifel, dass die heute 20 bis 40jährigen aus gutem Grund skeptisch sind, was ihre Zukunft angeht. Bei vielen beschränkt sich die Hoffnung darauf, die Wohlstandsverluste und Unwägbarkeiten mögen ihre Kinder nicht ganz so hart treffen, wie man befürchten kann. Kinderlosigkeit hat zudem eine tiefe Wirkung auf Gesellschaften; nicht selten ist in Deutschland inzwischen der Anblick von vier Großeltern, die ein einzelnes Enkelkind begleiten. Alle die genannten Herausforderungen aber, so die These, sind kollektive Herausforderungen. Es ist daher abwegig, Hoffnung, Optimismus oder auch nur eine ganz nüchterne Zuversicht zu einem rein privaten Projekt zu erklären, für das Jede und Jeder alleine zuständig sein soll.

Es muss darum gehen, Hoffnung wieder politisch zu verstehen – trotz der Erfahrung einer totalitären Kollektivierung von Hoffnung im 20. Jahrhundert.


Ein Recht auf Hoffnung könnte dazu beitragen, nicht nur die skandalöse Ungleichverteilung von Vermögen, sondern auch die Ungleichverteilung von Hoffnung überhaupt thematisierbar zu machen. Deutlich wird dann auch, dass es Handlungsspielräume gibt, dass wir eine Wahl haben, wie wir Optimismus verteilen wollen. Würden die Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen, dass sie ein Recht auf Hoffnung haben, würde diese vielleicht auch ihren Blick auf Institutionen und Verfahren schärfen, die Optimismus verteilen oder verknappen.

Ein mögliches Beispiel hierfür ist die Europäische Zentralbank und ihre Zinspolitik. Die aktuelle Nullzinspolitik zerstört den Optimismus jener Sparer, die kleine Summen vor der Inflation schützen wollen; und zugleich bietet sie Vermögenden die Möglichkeit, sich quasi kostenlos zu verschulden, um große Investitionen zu tätigen. Selbst eine so trivial anmutende Entscheidung wie der Leitzins kann folglich zur Ungleichverteilung von Optimismus beitragen.

In Frankreich wäre als ein anderes Beispiel das Schulsystem zu nennen, das den Optimismus bereits sehr früh ungleich verteilt: Das richtige Lycée im 5. Arrondissement ebnet den Weg zu SciencesPo, der ENS, vielleicht irgendwann der ENA. Müsste dieses System nicht auch daraufhin befragt werden, ob und inwiefern es Frustration und Pessimismus bei jenen produziert, denen schon früh vermittelt wird, dass für sie das Rennen gelaufen ist?
Dabei muss man sich klar machen, dass es bei der Verteilung von Hoffnung und Zuversicht nicht nur und nicht einmal primär um die Verteilung von Ressourcen geht. Ein bloß paternalistischer Wohlfahrtstaat kann sehr wohl zugleich Geld und Hoffnungslosigkeit verteilen. Und umgekehrt kann man auch mit wenig Ressourcen Hoffnung haben, beispielsweise als Studentin oder Student.

Als im Herbst 2015 Hunderttausende nach Deutschland strömten, ließ sich diese Differenz anschaulich beobachten. Die Flüchtlinge und Migranten kamen in den meisten Fällen ohne Ressourcen. Sie hatten quasi nichts – aber eben doch die Zuversicht, dass es von nun an bergauf gehen würde. Könnte nicht zumindest ein gewisser Anteil des Ressentiments der deutschen gegenüber den Ankommenden aus einem Neid auf diesen Optimismus gespeist sein? Viele Deutsche schienen ihnen das Gefühl zu neiden, dass die Zeit auf ihrer Seite ist, während sie selbst sich auf dem absteigenden Ast sahen. Diese Perspektive macht die Xenophobie nicht weniger abstoßend. Sie verändert aber die Sicht auf die Frage, was zu ihrer Bekämpfung nötig ist.Was würde es also bedeuten, von einem Recht auf Hoffnung auszugehen?

Zunächst einmal würde diese Perspektive die These beinhalten, dass Grundrechte nie bloß formaler Art sein dürfen, sondern mit Inhalten gefüllt werden müssen. Es geht, so könnte man verkürzen, nicht nur um liberale Abwehrrechte gegenüber dem Staat, sondern auch um die republikanischen Partizipationsrechte. Das Recht auf Hoffnung ist nicht ein Recht, dass wir wie Kinder gegenüber einem paternalistischen Staat wie einen Anspruch einfordern, sondern selbst eine Verpflichtung: Die Verpflichtung sich an der Entwicklung kollektiver Hoffnungen und realistischer positiver Szenarien zu beteiligen. Das Recht auf Hoffnung ist nicht etwas, dass von politischen Eliten für andere stellvertretend bedient werden muss, sondern ein Recht, dass wir uns als Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger gegenseitig schulden. Es verpflichtet uns, explizit zu machen, wie und in welcher Zukunft wir leben wollen – und was wir dafür zu tun bereit sind. Mit dem Wahlrecht kaufen wir die moralische Verpflichtung, zu wählen.

Mit einem Recht auf Hoffnung würden wir uns als citoyens, als Bürgerinnen und Bürger in einem starken Sinne, nicht nur für die private Zuversicht verantwortlich fühlen. An die Stelle einer populistisch instrumentalisierbaren Furcht könnte dann so etwas treten wie eine – in Zeiten der Fortschrittsskepsis naiv klingende – positive Vision der Zukunft.
Es stimmt: Einklagbar wie das Recht auf freie Berufswahl kann ein Recht auf Hoffnung nicht sein. Aber dennoch könnte der Gedanke seine Wirkungen entfalten.
 
„Das Recht auf Hoffnung“ geht auf einen Vortrag des Philosophen Felix Heidenreich im Rahmen der deutsch-französischen Nacht der Philosophie zurück, die im Mai stattfand. Auch im nächsten Jahr werden wir wieder die Möglichkeit haben, eine Nacht lang über die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu sprechen. Der Termin steht schon jetzt fest - am 25.5.2017 wird die Neuauflage der Nacht der Philosophie stattfinden!