Internationaler Holocaust-Gedenktag
Modernes Erinnern ist global, vernetzt und multiperspektivisch

Theater Neu GeDenken, Jaffa 2019
© Cedric Dorin Goethe-Institut Israel

​Der 27. Januar ist der Internationale Holocaust-Gedenktag. Seit Jahren schon setzt sich Hédi Bouden als Lehrer an einem Hamburger Gymnasium für eine moderne Gedenkkultur ein und verwirklicht Projekte mit Schülern – in seiner Heimatstadt aber auch mit Partnern in Israel.


Was haben Sie für diesen 27. Januar geplant?
 
Die Erfahrung hat gezeigt: Nicht jedem in Deutschland ist bewusst, dass dieser Gedenktag für die Opfer der Shoah an diesem Tag begangen wird. Also soll es in diesem Jahr vor allem darum gehen, wieder mehr Aufmerksamkeit zu schaffen. Geplant haben wir deshalb Flashmobs an mehreren Stellen im Zentrum von Hamburg. 60 bis 80 Schülerinnen und Schüler werden Texte vortragen, hinzu kommen Musikeinspielungen. Am folgenden Tag wird es noch ein Jugendforum geben, bei dem wir mit noch mehr Jugendlichen diskutieren wollen, was es an weiteren Projekten in der Zukunft geben kann und geben sollte und das ihnen gleichzeitig die Gelegenheit gibt, sich mit uns zu vernetzen. Und am 29. Januar ist dann die Premiere unseres Stückes “You should care about us!” in der Altonaer Kulturkirche, eine Zusammenarbeit von jeweils 30 Jugendlichen aus Wilhelmsburg und aus Israel.
 

Warum setzen Sie sich überhaupt derart intensiv für das Gedenken an den Holocaust ein?
 
Das hat sehr viel mit meiner eigenen Biografie zu tun. Wie die meisten meiner Schüler habe ich einen Migrationshintergrund. Meine Eltern stammen aus Tunesien, mein Vater kam einst als Gastarbeiter für Mercedes hierher. Geboren bin ich zwar in Deutschland, aufgewachsen aber immer mit dem Gefühl, anders zu sein, nicht gleichberechtigt dazugehören. Ich habe als Kind und Schüler mehrfach Zurückweisungen und Diskriminierungen erlebt, durch Mitschüler aber auch durch Lehrer, die meinten, ich solle erst gar nicht davon träumen, einmal zu studieren. Wenn man so aufwächst, setzt man sich früher oder später damit auseinander, was Deutschsein oder die Zugehörigkeit zu Deutschland überhaupt bedeutet. Und die deutsche Geschichte ist nun einmal geprägt vom Zweiten Weltkrieg und der Shoah.
 

Das allein motiviert Sie?
 
Natürlich nicht. Man muss ja zwei Tatsachen feststellen. Zum einen, dass die Gefahr und die Realität des Antisemitismus in Deutschland durchaus verharmlost wird. Das äußert sich dann in der Haltung: Die Antisemiten sind immer die anderen. Trotz geschichtlicher Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland ist der Antisemitismus in einigen Teilen der Bevölkerung aber nie vollkommen verschwunden. Das führt dann wiederum oft zum Zweiten: Dass beim Kampf gegen den Antisemitismus der Fokus vor allem auf Muslime, auf Flüchtlinge und Jugendliche mit Migrationshintergrund gelegt wird. Es existieren ja zweifellos diese Probleme und Mechanismen: Jugendliche mit Migrationshintergrund fühlen sich nicht angenommen oder ausgegrenzt. Die Folgen sind, dass sie sich abschotten, dass sie die Gesellschaft ablehnen, in der sie leben, und dass sie damit auch empfänglich werden für Gruppen, die sie in dieser Ablehnung bestärken und schließlich für eine radikale Weltsicht gewinnen, die sich letztendlich auch gegen Israel und gegen Juden richtet. Das kann politischer Antisemitismus sein wie er in Ländern vorkommt, die mit Israel regionale Konflikte austragen, und bei dem sich diese Ablehnung des Staates Israel oder israelischer Politik ausweitet zu einem Hass gegen Juden im Allgemeinen. Oder es ist religiöser Antisemitismus, wie es ihn schon seit dem Mittelalter gibt.

Alle Formen des Antisemitismus gehen mitunter so weit, dass sie die Shoah relativieren oder sogar leugnen. So einer Entwicklung kann man nur mit fundierter Aufklärung, Kommunikation und Projekten des Dialogs begegnen.


 
Vor welche Herausforderungen im Unterricht stellt Sie als Lehrer heute das Erinnern an den Holocaust, insbesondere in einem Umfeld wie Wilhelmsburg, einem Hamburger Stadtteil, der geprägt ist durch einen hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund? 
 
Zunächst ist das Gedenken an die Shoah generell eine Herausforderung, je weiter sie zurückliegt. Deswegen habe ich mich unter anderem in Yad Vashem speziell dazu weiterbilden lassen. Nicht nur Jugendliche mit muslimischem Hintergrund oder mit einer Familie, deren Eltern oder Großeltern erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gekommen sind, stellen sich heutzutage die Frage: Was hat das überhaupt noch mit mir zu tun, wir selbst waren daran ja nicht beteiligt? Das ist auch im aktuellen politischen Diskurs die große Gefahr, wenn das Erinnern an die Shoah nicht begriffen wird als eine gemeinsame historische Verantwortung für die Zukunft, sondern als eine Schuldkultur denunziert wird. So, wie es manche Spitzenvertreter der AfD in Deutschland offen tun, indem sie die Nationalsozialisten und ihren Völkermord als einen “Fliegenschiss in der deutschen Geschichte” bezeichnen oder das zentrale Mahnmal für die Opfer des Holocaust in Berlin als ein “Mahnmal der Schande” für die Deutschen herabsetzen. Aber zurück zu Ihrer Frage: Natürlich muss man in einem Stadtteil mit hohem Migrationshintergrund etwas anders arbeiten.
 
 

Inwiefern?
 
Wir müssen für die Jugendlichen andere Angebote der Identifikation schaffen, einen Bezug zu ihrer kulturellen Lebenswelt. Das kann über historische Biografien gelingen, zum Beispiel mit der Geschichte einer indischen, muslimischen Prinzessin, die als Spionin für England in Frankreich gegen die Nazis gekämpft hat und später im Konzentrationslager Dachau hingerichtet wurde. Oder mit der Geschichte eines muslimischen Arztes in Berlin, der viele Juden versteckt und versorgt hat. Andere Wege der Identifikation sind die Geschichten der eigenen Familien. Es gibt Schüler und Schülerinnen, die Verwandte durch die Völkermorde im afrikanischen Ruanda oder im bosnischen Srebenica verloren haben. Diesen Ansatz haben wir für die szenische Lesung gewählt, die wir im vergangenen März auch in Jaffa aufgeführt haben: Die Jugendlichen präsentierten anhand von Zeitzeugenberichten und Original-Dokumenten, wie Briefen, die Geschichten ermordeter Familienmitglieder und die von Ermordeten im Holocaust. Dabei geht es überhaupt nicht darum, die Singularität des Holocaust infrage zu stellen, im Gegenteil. Gerade der Vergleich zeigt das Ausmaß der Shoah, macht aber gleichzeitig das Leid für diese Jugendlichen persönlich nachvollziehbarer. Gerade der Zuspruch für diesen Ansatz, ausgedrückt von Überlebenden der Shoah oder deren Nachkommen aus dem Publikum, hat uns viel bedeutet und bestärkt.
 

Was treibt Sie an, derartige Projekte auch in Zukunft anzugehen?
 
Das Engagement meiner Schüler. Das beflügelt mich geradezu. Zu den Projekten, an denen sie in den vergangenen Jahren beteiligt waren, zählen ja nicht nur jene für den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Auch zur Erinnerung an die Reichspogromnacht haben sie am 9. November eine öffentliche Performance in Wilhelmsburg konzipiert, zweisprachig in Deutsch und Türkisch. Die Tatsache, dass die Schüler und Schülerinnen in all diesen Projekten zur Erinnerung an die Shoah derart aufgegangen sind, macht sie zudem zu potentiellen Multiplikatoren. Durch ihr Wissen über das Ausmaß der Shoah und durch ihre gewonnenen Fähigkeiten, dieses Wissen anderen auch zu vermitteln, können sie all jenen etwas erzählen, die kaum etwas darüber wissen und sogar jenen etwas entgegnen, die versuchen, sie zu relativieren oder zu verdrängen.
 
 
Ihre Projekte gehen mittlerweile ja auch über Wilhelmsburg hinaus.
 
Zu einer modernen Erinnerungskultur gehört für mich, dass sie Horizonte erweitert, dass sie das Leben und die Geschichten anderer kennt. Es ist die Bereitschaft, zuzuhören. Deswegen ist es auch wichtig, dass sich Jugendliche aus Deutschland und Israel gegenseitig in ihren Ländern besuchen. Dass sie sich mit ihren Identitäten auseinandersetzen. Dass sie erzählen von ihren Träumen und Ängsten, wie sie sich von anderen zu Unrecht oder stereotypisch wahrgenommen sehen. Und dass sie schließlich auch an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, das ihnen hilft, selbst zu erkennen, wie wichtig es ist, mehr voneinander zu wissen. Die Jugendlichen aus Wilhelmsburg begegnen oft erstmals Menschen jüdischen Glaubens, sie lernen die Lebenswirklichkeit von Israelis nahe der Grenze zu Gaza kennen, erfahren vor Ort mehr über den Konflikt. Und die Jugendlichen aus Israel begegnen Deutschen, von denen viele muslimischen Glaubens sind. Auch das gehört zu einer modernen Gedenk- und Erinnerungskultur: Man muss sie global, multiperspektivisch und vernetzt begreifen.
 
 
Hédi Boden
© Cedric Dorin, Goethe-Institut Israel


Hédi Bouden, 36, ist Lehrer am Helmut-Schmidt-Gymnasium in Hamburg-Wilhelmsburg. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Politik, Geschichte, Kunst und Theater und setzt sich mit seinen Schülerprojekten für interkulturelle und interreligiöse Verständigung und moderne Formen des historischen Erinnerns ein.