Yom HaShoah
erinnern und nicht vergessen

Bundesarchiv-London-Ankunft jüdischer Flüchtlinge
© Bundesarchiv, Wikipedia

Zum Yom HaShoah möchten auch wir mit einem Beitrag der Erinnerung Stimme verleihen und die mörderische Willkür des Nationalsozialismus, der mit der Waffen-SS und der Gestapo gezielt Menschen terrorisierte und Angst erzeugte, einmal mehr sichtbar machen. 
 

Dieser Bericht einer Zeitzeugin dokumentiert aus der Perspektive einer Jugendlichen den legalisierten Mord, den legalisierten Raub und eine bürokratische Schikane, die skrupellos über menschliche Schicksale entschied.
Wir möchten in diesem Rahmen auch einer Initiative gedenken, die dieser mörderischen Dynamik in einer Gemeinschaftsaktion von jüdischen Organisationen und Quäker*innen das Leben von über 10.000 Kindern abtrotzte. Es geht um die sogenannten Kindertransporte [1].

Wir möchten drei Frauen würdigen, die jede auf ihre Weise einen Bezug zu den Kindertransporten hatte: Die englische Quäkerin Berta Lilian Bracey (*1893-1989), die maßgeblich an der Planung und Umsetzung dieser Aktion mitgewirkt hat [2]. Die Mutter unserer Zeitzeugin, die mit Weitsicht, Präsenz und ungeheurer Stärke mutig und unermüdlich nach Wegen suchte, ihre Familie zu retten. Und es geht um die Zeitzeugin Eva, die als 12 jährige zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Schwester aus ihrem behüteten Leben gerissen und im Dezember 1938 mit dem ersten Kindertransport aus Wien nach Großbritannien gebracht wurde.

Eva ist heute 94 Jahre alt und lebt mit ihrer jüngeren Schwester in einem Seniorenheim in Tel Aviv. Um sie und die anderen Senioren*innen vor einer Ansteckung mit dem Covid-19-Virus zu schützen, ist es Besuchern, einschließlich Familienangehörigen, zur Zeit untersagt, das Seniorenheim zu besuchen. Für diesen Beitrag haben wir mit Eva telefoniert.
 

Eva erinnert sich

Als ich 1947 nach Palästina kam, begegnete ich auf den Straßen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln immer wieder Menschen mit blau tätowierten Nummern. Unfassbar das Grauen, das diese Menschen erlebt hatten. Wir gehörten zu denen, die Glück gehabt hatten.
Am 12.3.1938 marschierte Hitler mit seiner Armee in Österreich ein. In derselben Nacht kam die Gestapo und nahm unseren Vater mit. Das Bankkonto meines Vaters wurde gesperrt. Sein Geschäft in Wien geschlossen. Zwei Wochen hielt ihn die Gestapo in Wien in Haft. Danach wurde er mit 150 weiteren Juden nach Dachau geschickt.
Wir blieben mit der Mutter in der großen, schönen Wohnung in Wien. Ich war 12 Jahre alt, mein Bruder 13½ und meine Schwester 8. Da wir kein Geld hatten, vermietete unsere Mutter Zimmer an jüdische Junggesellen, die keine Bleibe hatten.
Bis zum Anschluss Österreichs 1938 besuchte ich in Wien eine sehr gute, weiterführende Schule. Meine Schwester ging noch in die Grundschule und mein Bruder lernte in einem Gymnasium mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung. Als die Nazis in Österreich die Macht übernahmen, wurden wir aus unseren Schulen rausgeworfen. Von da an gingen wir in eine Schule, die für jüdische Kinder eingerichtet worden war.
Meine Mutter beschloss, uns ins Ausland zu schicken. Es wurden Transporte für Kinder in die Niederlande und nach Großbritannien organisiert. Man benötigte Beziehungen, um in dem Transport aufgenommen zu werden. Doch weil mein Vater in Dachau inhaftiert und meine Mutter mit drei Kindern allein war, hat man uns akzeptiert. Ich weiß noch, wie meine Mutter das Anmeldeformular ausfüllte. Ganz oben stand die Frage: „Wohin möchten Sie Ihre Kinder schicken? Nach Holland oder nach Großbritannien?“ Und meine Mutter sagte: „So weit weg von Hitler wie möglich.“

Die Angst war das, was der SS am wichtigsten war. … Die Menschen durften auch nicht brüllen, nicht schreien, nicht weinen.

Christian Hübner, Vizepräsident des internationalen Komitees Auschwitz.


In der Reichspogromnacht standen zwei SS-Männer vor der Tür. Bis heute erinnere ich mich an ihre Gesichter. Meine Mutter war sehr stark. Sie fragten, ob in der Wohnung Männer wohnen würden. Ich stand neben meiner Mutter und hatte furchtbare Angst. Vor lauter Angst war ich wild, weinte und machte in die Hosen. Meine Mutter drehte sich zu mir um und schrie: „Sei Still“!
Offenbar waren die SS-Männer durch mein Verhalten abgelenkt; sie verschwanden, ohne die Wohnung weiter zu durchsuchen. Wenn sie es getan hätten, hätten sie die drei Untermieter gefunden, die sich unter den Betten versteckt hatten.

Ich weiß noch, wie meine Mutter bis zu unserer Abreise tagsüber von einem Amt zum nächsten lief. Sie versuchte den Vater aus Dachau rauszuholen und bemühte sich gleichzeitig um Visa nach Lateinamerika, Shanghai oder die USA. Nachts stand sie Schlange vor den Botschaften. Ohne Erfolg.
Meine Mutter war fest entschlossen, uns außer Land zu bringen. Meine Großmutter versuchte es ihr auszureden, doch sie blieb dabei. Im Dezember 1938 war es soweit: Um zum Westbahnhof zu gelangen, fuhren wir mit der Tram. Die Leute starrten uns an. Wir hatten kleine Koffer dabei, die unsere Mutter für uns gepackt hatte. Kleine Koffer – selbst ein Spielzeug durfte man nicht mitnehmen.
Als wir zum Westbahnhof kamen, warteten dort bereits mehrere hundert Menschen. Man erlaubte es den Eltern nicht, auf den Bahnsteig zu gehen und sich am Zug von den Kindern zu verabschieden.
Wir stiegen ein. Ich freute mich, weil ich ins Ausland reisen würde. Wer reiste in diesen Zeiten schon ins Ausland? Meine Mutter, die seit der Verhaftung unseres Vaters keine Gefühle gezeigt hatte, stand jetzt an der Absperrung und weinte. In meiner kindlichen Dummheit konnte ich das nicht begreifen. Bis heute habe ich ihr tränennasses Gesicht vor Augen.

Mit der Bahn fuhren wir durch ganz Deutschland. An der holländisch-deutschen Grenze hielt der Zug. SS-Männer stiegen ein und brüllten: „Wo ist das Gold?“ Es war verboten, Geld oder Gold mit nach England zu nehmen. Die Tür zu unserem Abteil wurde aufgerissen. SS-Männer kamen herein und zerrten ein vierjähriges Mädchen mit ihrem Koffer hinaus. Nach etwa 10 Minuten kam das Mädchen zurück: ihr Koffer war halb geöffnet und durchwühlt. Sie sprach erst wieder, als der Zug schon weit hinter der Grenze war. Ich weiß nicht, was die SS-Männer mit ihr gemacht hatten.

In Holland wurden wir von den jüdischen Flüchtlingskomitees mit Blumen, Essen und Getränken empfangen. Der Zug fuhr dann weiter bis ans Meer. Hier stiegen wir auf eine Fähre. In England angekommen, brachte man uns in einem „Sommerlager“ unter. Am Wochenende besuchten englische Familien das Camp, um Kinder in Pflege zu nehmen. Eine Familie lud mich ein, mit ihnen nach Hause zu fahren. Sie sagten, sie hätten einen Bauernhof und Tiere und versprachen, dass es mir gut gehen würde. Doch meine Mutter hatte mir eingeschärft, auf meine kleine Schwester aufzupassen. Ich sagte, ich würde nicht ohne meine Schwester fahren.

Aus Wochen wurden Monate und aus Monaten Jahre

Meine Schwester und ich wurden dann nach Nordengland geschickt und in zwei Familien untergebracht. Da wir in derselben Stadt wohnten, konnten wir uns in Abständen sehen. Meinem Bruder fiel es schwer, sich an die neue Situation in England zu gewöhnen. Er hatte viele Probleme und wechselte häufig die Pflegefamilien. Schließlich wurde er in einem Heim untergebracht.
Wir gingen alle davon aus, dass ich nur ein paar Wochen oder Monate bei dieser Pflegefamilie leben würde. Eben so lange, bis meine Eltern ein Visum für die Ausreise organisiert hatte. Doch aus Wochen wurden Monate und aus Monaten Jahre.
Meine Pflegeeltern waren freundlich. Sie hatten ältere Jungs und ich glaube, meine Pflegemutter hatte mich gern. Doch mein Herz war irgendwie verschlossen. Ich konnte mich ihrer Zuneigung nicht öffnen. Meine Pflegeeltern und meine Umgebung waren mir sehr fremd. Es war ein Kulturschock und ich fühlte die ganze Zeit, dass man von mir Dankbarkeit erwartete.
Als ich sechzehn war, begann ich in einem Büro zu arbeiten. Mit 18 meldete ich mich freiwillig zur Armee. Ich fuhr nach London und fühlte mich zum ersten Mal frei. Bei der Armee lernte ich jüdische Soldaten aus dem damaligen Mandatsgebiet Palästina kennen, die sich im Kampf gegen Hitler freiwillig gemeldet hatten. Ich war während des Blitz-Krieges in London.

Nach Kriegsende hoffte ich auf Informationen über den Verbleib meiner Eltern. Jedes Wochenende veröffentlichte das Rote Kreuz Listen, die ich nach einem Hinweis absuchte. Die Ungewissheit war schrecklich und es dauerte Jahre, bis ich von dem Schicksal meiner Eltern erfuhr.
Zwei Monate nach unserer Abreise wurde mein Vater aus dem KZ Dachau entlassen. Meine Eltern bemühten sich nun um eine Ausreisegenehmigung. Das war 1939. Als sie dann tatsächlich ein Visum für Palästina ergattert hatten, herrschte große Erleichterung. Sie wollten schon Fahrkarten kaufen, als das Steueramt ihnen die Ausreise aus Österreich aufgrund einer Steuerschuld verweigerte. Es handelte sich dabei um keine große Summe. Aber wo sollten sie das Geld auftreiben? Ein Verwandter in den USA überwies schließlich das Geld. Meine Eltern erhielten die Erlaubnis, Österreich über Italien zu verlassen.

Mein Vater in Buchenwald

Doch war inzwischen wertvolle Zeit verstrichen: Am 1. September brach der 2. Weltkrieg aus und das Schiff, mit dem sie nach Palästina fahren sollte, wurde storniert. Meinen Vater deportierten sie nach Buchenwald. Meine Mutter blieb vorerst in Wien, musste aber die Wohnung verlassen. Sie zog zu einer Tante.
Ein Shoah-Überlebender, der mit meinem Vater zusammen in Buchenwald gewesen war, hatte mich viele Jahre später ausfindig gemacht und mir in einem Brief vom Schicksal meines Vaters berichtet. Demnach hat mein Vater drei Jahre lang Leichen in Buchenwald gewaschen und so präparieren müssen, dass sie an die medizinischen Fakultäten in Deutschland zu Studienzwecken geschickt werden konnte. Nach drei Jahren wurde mein Vater ermordet: Die Nazis wollten keine Zeugen am Leben lassen.

Als in Wien 1942 die Säuberungsaktionen begannen, wurde meine Mutter nach Theresienstadt deportiert. In Theresienstadt organisierten und inszenierten die Nazis 1944/55 einen Dokumentarfilm, um dem Roten Kreuz und der Welt Theresienstadt als Idylle zu verkaufen.[3]

Meine Mutter in Auschwitz

Als das Rote Kreuz dann auch Auschwitz inspizieren wollte, organisierten die Nazis Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz mit Juden und Jüdinnen, die noch einigermaßen präsentabel aussahen. Meine Mutter war dabei.
Um die Zustände in Auschwitz zu vertuschen, errichteten die Nazis in der Nähe des Hauptlagers ein sogenanntes „Familiencamp“. Die Inhaftierten wurden weder tätowiert, noch mussten sie die sonst übliche gestreifte Häftlingskleidung tragen. Dann sagte das Rote Kreuz die Inspektion ab - das Ende des Krieges war ja bereits absehbar – und meine Mutter wurde mit den anderen Häftlingen des Familiencamps in die Gaskammern geschickt und vergast.
 
 
Wir bedanken uns bei Eva für ihre große Bereitschaft, ihre Erinnerungen für uns aufleben zu lassen.

 
 

[1] Barry Turner: Kindertransport. Eine beispiellose Rettungsaktion. Bleicher, Gerlingen 2002 ISBN 3-88350-033-X.
[2] 2010 wurde sie von der britischen Regierung posthum für ihr Engagement geehrt und als „British Hero oft he Holocaust“ ausgezeichnet.
[3] Spiegel-Geschichte, ​SS-Propagandafilm "Theresienstadt"