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Jerusalem Filmfestival 2021
Where Is Anne Frank - Ari Folmans Film ist spektakulär trotz unhaltbarer, überflüssiger Vergleiche

Where is Anne Frank
© Purple Whale Films

Dem Eröffnungsfilm des Jerusalemer Filmfestival gelingt es, Anne Franks Geschichte, die schon unzählige Male adaptiert worden ist, auf wundersame Weise neu zu erzählen. Allerdings hinkt der Vergleich zwischen Shoah und heutiger Flüchtlingskrise.

Mit der filmischen Adaption von Anne Franks Tagebuch hat sich Ari Folman einer keineswegs leichten Aufgabe gestellt. Ein weltberühmtes und derart populäres literarisches Werk, das schon unzählige Male für Theater, Kino, Fernsehen und Reportagen, ja von fast allen nur erdenklichen Medien bearbeitet worden ist, filmisch neu, originell, eben anders zu erzählen, ist eine enorme Herausforderung. So hat Folman in Interviews auch eingeräumt, dass ihn diese Idee zunächst gar nicht begeistert hat. Eingewilligt habe er schließlich unter anderem, weil er Sohn von Holocaust-Überlebenden ist.


Zusammen mit einer Handvoll von Animateuren aus unterschiedlichen Ländern hat Folman sage und schreibe acht Jahre an Where is Anne Frank gearbeitet. Vor einem Monat hatte der Film seine internationale Premiere auf dem Filmfestival in Cannes. Die Uraufführung des Films vor israelischem Publikum war im Rahmen von Israels spektakulärstem, filmischem Event am Eröffnungsabend des Jerusalemer Filmfestivals. Im Jahr zuvor hatte das Jerusalemer Filmfestival aufgrund der Corona-Epedemie nur online stattgefunden. Nun wurde es wieder im altbekannten Format durchgeführt. Tausende Zuschauer hatten sich am Jerusalemer Sultans Pool versammelt. Auf einer riesigen Leinwand mit bombastischem, verbessertem Soundsystem lief dann Where Is Anne Frank.

Der Auftakt des Films war regelrecht hypnotisierend: Es ist ein grauer Schlechtwettertag. Trotz prasselndem Sturzregen wartet eine lange Besucherschlange vor dem Anne Frank Museum in Amsterdam auf Einlass. Die Menschen haben unter Regenschirmen Schutz gesucht, ihre Mäntel wehen im Wind, aber sie lassen sich nicht davon abbringen, auf das Öffnen der Museumstore zu warten. Kein Unwetter wird sie in die Knie zwingen. Dank des neuen Soundsystems war der Regen regelrecht zu riechen, die beißende Kälte und der peitschende Wind zu spüren. Das Zelt, das eine Flüchtlingsfamilie dem Museum gegenüber aufgeschlagen hat, wird von den Sturmböen mitgerissen, während im Museumsinnern der Glaswürfel, der das Originaltagebuch von Anne Frank schützen soll, auf mysteriöse Weise berstet. Tintenflecke tropfen auf die handbeschriebenen Seiten. Die Buchstaben verschwimmen, erheben sich schlängelnd, schweben über dem Tagebuch, bis ihre Bewegungen schließlich in der Figur eines zeichnenden spindeldürren Mädchens mit roten Haaren und Sommersprossen münden.

Kitty, die imaginäre Freundin, an die Anne Frank ihre Briefe richtet, blickt nach über sieben Jahrzehnten des Erstarrens verwundert auf die Gegenwart. Wo sind Anne und ihre Familie geblieben? Kitty ist sich nicht bewusst, dass Jahrzehnte verstrichen sind, dass der Krieg längst zu Ende ist, dass das Mädchen, von dem sie erfunden wurde, nicht mehr lebt, dass das Haus, in dem Anne einst wohnte, zu einer touristischen Attraktion geworden ist. Genauso wenig weiß Kitty, dass das Tagebuch ihrer Freundin zu einem ikonischen Dokument, zu einem berühmten und hoch geschätzten Werk über die Zeit der Shoah geworden ist. Kitty versteht nicht, weshalb Besuchermassen plötzlich in das Haus strömen, in dem Anne und ihre Familie sich während des Kriegs versteckt haben. Where Is Anne Frank begleitet Kitty auf ihrer Suche nach ihrer Jugendfreundin.

Eine schöne, aber falsche Antwort

In Waltz With Bashir offeriert Folman seinen Zuschauern ein faszinierendes Eintauchen in die Erinnerung. Mit Hilfe von Animation versetzt er seine Zuschauer mal in die Gegenwart, mal in die Vergangenheit, mal sehen sie sich einer geschichtstreuen Realität, dann wiederum einer mit Mängeln behafteten Realität gegenüber, die sich in den Bruchstücken der Erinnerung spiegelt, dann werden sie mit dem Ersten Libanonkrieg und dessen Traumata konfrontiert, die sich in die Seelen der Soldaten eingemeisselt haben, die mit dem Leben davon gekommen sind. In Where is Anne Frank befasst sich Folman wieder mit Erinnerung anhand von Animation und Zeitsprüngen. Allerdings spürt er diesmal einer kollektiven Erinnerung nach, die sich um das berühmte Tagebuch und der Shoah gebildet hat, die im Film mit Elementen von Verehrung, Verflachung und Kommerzialisierung behaftet sind. Kitty besucht eine Reihe von nach Anne Frank benannten Institutionen (Schulen, Krankenhäuser, Theater, Brücken und vieles mehr) und sieht, wie die Behörden auf ihren Fersen extrem besorgt um das gestohlene Buch sind (Kitty muss das Buch in ihrer Nähe wissen, weil sie sich sonst auflöst und verschwindet). Kitty ist von einer neuen globalen politischen Krise umgeben, die Millionen neue junge Mädchen und deren Familien obdachlos macht. Das lässt sie jedoch gleichgültig. 

Für den Wechsel von Gegenwart und Zweitem Weltkrieg hat Folman eine wunderschöne visuelle Lösung gefunden. So wie sich Kitty aus Anne Franks Tagebuch heraus geschlängelt hat, verschmilzt und verschwindet sie auch wieder zwischen seinen Seiten und gerät in den Sog von Amsterdam in den frühen 40er Jahren. Der Sprung zurück in die Vergangenheit ermöglicht den Zuschauern die Begegnung mit Anne. Sie lernen ihre Persönlichkeit kennen und die Lebensrealität zu der Zeit, in der sie das Tagebuch  mit all ihren Ängsten und Hoffnungen geschrieben hat.

Folmans Entscheidung, Kitty statt Anne in den Mittelpunkt der Handlung zu rücken, macht die Adaption originell, da der Film nicht nur auf die Vergangenheit blickt, sondern seinen Blick auch auf die Gegenwart richtet. Er handelt von Anne Franks Leben und  ihrem Tagebuch, das zu einem wichtigen, ja ikonischen literarischen Dokument geworden ist. Wie in seinen anderen Filmen arbeitet Folman wieder mit erfolgreichen Künstlern zusammen, die den Film zu einem außergewöhnlichen Kinoerlebnis machen. Das elegante Design von Lena Guberman, die beeindruckende Animation von Yoni Goodman, die erschütternde Musik von Karen O und Ben Goldwasser haben die Vorführung in Cannes zu einem filmischen Erlebnis gemacht, das internationale Kritiker staunen ließ und die Vorführung zu einem viele Zuschauer zutiefst bewegenden Ereignis machte.

Die Animation befreit die Fantasie von den Fesseln der Realität und lässt mächtige visuelle Bilder wach werden. Sie lädt ein zu einer Reise durch Anne Franks potentielles Bewusstsein. Eine besonders spektakuläre Filmszene zeigt den Angriff der Alliierten auf die Nazis. Dabei werden die Alliierten als farbenfrohe, wild gemischte Reitertruppe gezeigt, in der Anne Frank, von ihr angehimmelte Filmstars wie Clark Gable neben Helden aus der von ihr geliebten griechischen Mythologie kämpfen. In einer anderen Szene sind die Juden als Opfer der Shoah zu sehen, wie sie auf riesigen Schiffen ins Totenreich der griechischen Mythologie transportiert werden - ein Reich, das finsterer, bedrohlicher und schrecklicher ist denn je. Gigantische Nazis mit schwarzen Umhängen und weißen Gesichtern nehmen den Platz von Hades, dem Herrscher über das Totenreich, ein und besiegeln das Schicksal der Häftlinge, die in die Lager geschickt werden – Tod oder Gnade.

Der Versuch mit Where is Anne Frank ein junges Publikum zu erreichen – der Film wurde von der Anne Frank Stiftung mit der Intention unterstützt, Kinder und Jugendliche anzusprechen – ist nur ansatzweise realisiert worden. Die Szenen zur NS-Besatzung und dem Kriegsverlauf brechen den Handlungsfluss und laden ihm eine überflüssige didaktische Last auf. In diesen Momenten wird das sensationelle Animationswerk zum kleinkarierten Geschichtsunterricht. Die kineastische Illusion kollabiert in Pädagogik.

Auch die Entscheidung, die Handlung mit einer aktuellen Moral zu versehen und einen Vergleich zwischen Shoah und Flüchtlingskrise anzustellen, funktioniert nicht. In Anlehnung an den Lieblingssatz meiner Mathematiklehrerin ist dies zwar eine schöne, wenngleich falsche Antwort. Trotz guter Intentionen bleibt die Umsetzung dieser Aussage problematisch. Selbst wenn die Flüchtlingskrise eines der größten Probleme der Jetztzeit darstellt, bei deren Bewältigung die internationale Gemeinschaft versagt, wird sie durch Folmans Entscheidung, sie als pädagogische Botschaft des Films zu präsentieren, geschwächt.
Als ich Where is Anne Frank auf dem Filmfestival in Cannes zum ersten Mal gesehen habe, war dieses Gefühl noch unterschwellig. Als ich den Film in Jerusalem am Sultans Pool zum zweiten Mal gesehen habe, trat es deutlicher hervor. Das mag auf die Vorführung des Films unter freiem Himmel zurück zu führen sein, vielleicht auch auf die Bemerkung eines Freundes, der auf unsere Flüchtlinge auf der anderen Seite der Sperranlage wies. Ein solcher Vergleich ist problematisch und überflüssig, weil er die Zuschauer aus der Geschichte eines feinfühligen Mädchens mit einer aufgewühlten Seele und seltene schriftstellerischer Begabung zerrt, deren schlimmes Schicksal die Tragödie der Shoah veranschaulicht. Das Gefühl, dass hier jemand erziehen und Moral predigen will, ist mit Anne Franks Freigeist nicht vereinbar.
 

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