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Geschichten
Hannah Arendt – Was will uns die Geschichte sagen? (in zwölf Worten)

What’s the story with Hannah Arendt? (in ten words)
© Patrick Tomasso

Ken Krimstein, Autor von „Die drei Leben der Hannah Arendt”, erklärt, wie die Geschichten über Hannah Arendt uns dabei helfen, ihr Denken besser zu verstehen.
 

Von Ken Krimstein

Als ich mich an die Arbeit setzte, um eine grafische Biografie über Hannah Arendt zu verfassen, hatte ich zugegebenermaßen gewaltigen Respekt. Natürlich hatte ich meinem Verlag, als ich das Projekt vorschlug, gesagt, dass ich keine Bedenken hätte. Doch als ich am Zeichenbrett saß, das leere Blatt vor mir, war es wie ein böses Erwachen, mit der ernüchternden Erkenntnis, dass ich als Karikaturist für The New Yorker und mit meinem Bachelorabschluss in Geschichte vielleicht nicht das beste Handwerkszeug besaß, um die geistigen Höhen des „Berges Arendt“ zu erklimmen.

Doch dann geschah etwas Bemerkenswertes, wie noch so oft in den folgenden zweieinhalb Jahren, in denen ich für Die drei Leben der Hannah Arendt recherchierte, schrieb und zeichnete. Die Stimme von Hannah Arendt schien mich aus dem Jenseits an die Hand zu nehmen. Ich fand einen Spruch von ihr, den ich an die Wand vor meinem Zeichenbrett heftete:

Das Geschichtenerzählen enthüllt den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen.

Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten. Essays u. a. Texte 1955–1975 Hg. von Ursula Ludz, Piper, München 2001

Mit diesem Satz erteilte Arendt mir die Erlaubnis, ihr Leben und das, was sie erlebte und tat, zu erkunden; kleine und große Ereignisse aufzugreifen und mich durch ihre Geschichte zu ihrem Denken hinleiten zu lassen, und nicht andersherum.

Diese zwölf Worte eröffneten mir eine Welt, in der ich auf Entdeckungsreise gehen konnte, Prioritäten setzte und eine Sicht auf das Leben von Hannah Arendt gewann, an der ich die Welt unbedingt teilhaben lassen wollte. Ihr Denken nahm lebendige Form an. Ihre Probleme, Siege und Niederlagen wurden zu konkreten Hinweisen und Indizien, die ich in Wort und Bild mit Leben füllen konnte, zu einem Erlebnis formen konnte. Ihre Geschichte.

Auch auf die Gefahr des Klischeehaften hin (für Arendt eine schwere Sünde) möchte ich die nächsten rund 3200 Anschläge nutzen, um diese zwölf Worte durchzubuchstabieren und darzulegen, wie sie mir zur Orientierungshilfe wurden und mir praktisch alles erschlossen, was mir das Leben und Denken von Hannah Arendt heute bedeutet.

Erstes Wort: Geschichtenerzählen. Wir leben in der Dimension der Zeit. Wir existieren als Individuen, in vielerlei Weise isoliert voneinander, hinter unseren beiden Augen, die nach außen blicken, und sind Hörende. Wir lauschen so intensiv, als hinge unser Leben davon ab, und das tut es ja auch. Wir dürsten danach zu wissen, wer wir sind. Und die einzige Möglichkeit, das Ganze zu einem Bild zusammenzufügen, liegt laut Arendt darin, die Geschichten anzuhören, die andere über uns erzählen, um Stück für Stück eine Vorstellung davon zu gewinnen, wer wir sind. Diese Geschichten können von unserer Familie, von unserem Land, von Unseresgleichen handeln, und ganz gleich, worum es geht, hören wir ganz genau hin, weil sie uns Hinweise geben: Hinweise darauf, wie andere sich verhalten, wie sie uns sehen. Sie liefern uns Szenarien, Möglichkeiten und Fantasievorstellungen, die wir abspeichern können. Sie bieten uns Ressourcen und Orientierungshilfen für unser eigenes Verhalten – für den Fall der Fälle. So ist Geschichtenerzählen nicht nur etwas „Gemütliches“ und „Leichtes“, das „nur für Kinder“ ist, sondern ist ein ebenso wesentlicher Bestandteil unserer selbst wie Protonen, Neutronen, Elektronen, die Schwerkraft und was die Wissenschaft sonst noch für elementar erachten mag.

Kurz gesagt: Geschichten sind das, was uns ausmacht.

Zweites Wort: Enthüllt. Ein großes Wort. Nichts wird gefälscht und nichts wird erfunden. Der „Stoff“ und die „Handlung“ einer Geschichte sind nichts Vorgegaukeltes und keine Kosmetik. Ganz im Gegenteil. Geschichten dringen bis auf den Grund vor (in meinem Buch ist von den „Bodendielen“ die Rede) und filtern eine tiefere Wahrheit heraus, die so zur ‚Offenbarung‘ wird. Das ist das Besondere daran, wie Geschichten jeden von uns in Berührung mit fundamentalen Erfahrungen bringen, die wir mit anderen Menschen teilen. Diese wertvollen „Zwischenräume“ oder „Schwellenräume“ machen unsere menschliche Welt aus.

Drittes Wort: Sinn. Noch ein schwergewichtiges Wort. Arendt hat es nicht leichtfertig dahingeschrieben. Es spricht von einem tiefen Verständnis, das die Grenzen der Sprache sprengt, die fundamentale Kraftquelle, aus der wir für unser Handeln und Verhalten schöpfen. Auch wenn das, wozu der Sinn uns anstiften möchte, rational nicht hundertprozentig zu rechtfertigen sein mag. Zum Beispiel der Impuls, in ein brennendes Gebäude hineinzulaufen, um jemanden zu retten. Oder sich in einen bestimmten Menschen zu verlieben. Oder einen neuen Tennisschläger zu kaufen. Wie der Werbefilmregisseur und Philanthrop Bill Bernbach Mitte des 20. Jahrhunderts sagte: „Fakten sind nicht alles“. Weil der tiefere Sinn im Reich des Poeten zu finden ist, nicht im Reich des Erbsenzählers. Während der Arbeit an meinem Buch erkannte ich immer wieder, dass am Handeln Arendts ersichtlich wurde, dass sie zwar oft nüchtern auf die Welt blickte, in der sie lebte, die Wirklichkeit aber auch bewusst durch den Filter des Poeten betrachtete.

Die nächsten fünf Worte: Ohne den Fehler zu begehen. Hier wird der Finger gehoben: Ja, es gibt Grundsätze, und es gibt falsche und richtige Urteile. Arendt ermutigt uns „ohne Geländer zu denken“ und zeigt uns immer wieder durch ihr Handeln, dass es „keine gefährlichen Gedanken gibt; das Denken an sich ist gefährlich“.

Diese Gefahr nimmt uns nicht aus der Pflicht, die Dinge, wie sie es nennt, „zu durchdenken“.

Durchdenken – bis wohin? Mit „durchdenken“ meint sie, keinen Fehler zu begehen. Nicht zu irren. Und je mehr ich von Hannah Arendts „Leben in dunklen Zeiten“ las, desto besser verstand ich, dass dieses Denken (das gleichzeitig Handeln ist, obwohl es nur „zwischen unseren Ohren“ stattfindet) Konsequenzen hat. Und wo die Stolperfalle, das Warnschild, das „oder sonst“ liegt, an dem das fehlerhafte Denken erkennbar wird, das dem Geschichtenerzählen im Wege steht…

Die letzten drei Worte: Ihn zu benennen. Arendt setzt den perfekten Schlusspunkt. Das Leben zwischen, unter und inmitten von Menschen, in einer gemeinsamen Welt, bietet nicht nur eine „WAHRHEIT“, die sich durch ein Beispiel belegen und in Stein meißeln lässt. Vielmehr erwachsen aus dem Miteinander mit anderen Menschen in unserer gemeinsamen Welt unendlich viele „WAHRHEITEN“, die im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, sich balgen und raufen, und den Sinn in einem fortwährenden Prozess offenbaren, den wir unter uns ausmachen müssen – gemeinsam, gemeinschaftlich und immer wieder neu. So mag 2 + 2 = 4 zweifelsohne eine spannende „Geschichte“ sein, in ihrem Sinngehalt verblasst sie jedoch neben der „Geschichte“ Aschenputtel plus Stiefschwestern plus Bäumchen, ein Paar gläserne Schuhe und Prinz, die mir Einblick in meine Gefühle über Familie und Liebe und Verrat und dergleichen gibt...

Letztlich kommt es immer auf die Aussagekraft und Spannung der Geschichte an, und wie wir sie erzählen.

Und jetzt, da ich am nächsten Buch arbeite und ein drittes in Planung ist, hängt der Zettel mit den zwölf Worten von Hannah Arendt immer noch an Ort und Stelle über meinem Zeichenbrett.

Glücklicherweise.

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