Norwegen
Jørgen Lorentzen

Jørgen Lorentzen
Foto: Jørgen Lorentzen

Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?

Ich sehe, wie Menschen gezwungen werden, von daheim wegzuziehen wegen Krieg, Konflikt oder Armut. Keiner will Flüchtling sein, und man kann unmöglich sagen, wer zum Flüchtling werden wird, bevor der Konflikt oder die Krise plötzlich da ist. Ich kann an einem Tag Mitleid für die Flüchtlinge empfinden und sie unterstützen, und am nächsten Tag kann ich schon selbst zum Flüchtling werden.

Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?

Armut hängt fast immer mit Krieg, Konflikt oder politischer Unterdrückung zusammen. Autoritäre Regimes überall auf der Welt nähren sich von der Armut und Not, und aus diesem Grund ist die Schaffung von Demokratien, die ihre Minderheiten respektieren, der imperative Weg zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Wahldemokratien reichen nicht länger aus, sie müssen echte funktionierende Demokratien sein, die die Menschenrechte und die Redefreiheit respektieren.

Und Flucht vor ökologischen Problemen?

Wir haben nicht einmal begonnen, den Anfang der Flüchtlinge vor Umweltkatastrophen zu sehen, aber das wird früh genug geschehen. Wie werden wir Menschen auf Millionen von Leuten reagieren, die vor Dürren, Wassermangel und Hunger fliehen, und wie werden wir mit ihnen zusammentreffen? Ich glaube, das wird die größte ethische Frage der nahen Zukunft sein.

Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?

Wenn man ein neues Zuhause aufgebaut hat, wobei es sich um den Wiederaufbau des ursprünglichen Zuhauses oder eines neuen Zuhauses weit weg vom ursprünglichen handeln kann.

Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?

Ja.

Wenn ja: ist es bedingungslos, oder kann man es verwirken?

Bedingungslos.

Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann?

Die Leute setzen Grenzen. Einige Menschen sind extrem beschränkt und wollen keinerlei Flüchtlinge akzeptieren, andere wiederum haben ganz andere Vorstellungen darüber, was eine Grenze ist. Eine Gesellschaft kann viel mehr überwinden und handhaben, als die meisten Leute zu können glauben. In einer Anzahl von Ländern ist der Bevölkerungszuwachs stärker und vielleicht belastender als die Anzahl der Flüchtlinge, aber das können wir handhaben und akzeptieren. Was ist hier der Unterschied?

Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?

Es kann keine Grenze geben. Grenzen im Sand zu ziehen war das Schlimmste, das die imperialistischen Nationen getan haben.

Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?

Ja, die privilegierten sind diejenigen, die die Anforderungen des Einwanderungsgesetzes erfüllen und einen guten Grund haben, eine Verfolgung aufgrund ihrer Ethnie, Herkunft, Religion oder Nationalität befürchten zu müssen. Wenn sie nur vor der Armut fliehen, dann werden sie sehr wahrscheinlich wieder nach Hause geschickt.

Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?

Ja, ich glaube schon. Eine Menge Ressourcen und menschliche Energie werden in die Aufnahme und die Entwicklung einer fairen Behandlung aller Flüchtlinge investiert.

Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Es ist meiner Ansicht nach die falsche Frage und Diskussion, das Sozialsystem mit der Absorption von Flüchtlingen in Verbindung zu bringen, und es handelt sich um eine Debatte, die auf der ganz Rechten ins Leben gerufen wurde. Es gibt größere Bedrohungen für das Sozialsystem in Norwegen als die Flüchtlinge.

Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen

- an die Ankommenden?
- an die Aufnehmenden?

Für beide: die Sprache lernen, Ausbildung, Arbeit und Respekt für einander.

Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?

Ja.

Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?

Ja.

Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?

a) in den nächsten zwei Jahren?
b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?

Ich glaube nicht, dass es in den nächsten paar Jahren riesige Veränderungen geben wird, doch im Verlauf der nächsten Jahrzehnte werden wird große Veränderungen erleben, auch hier in Norwegen.

Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?

Ich kann sie mir vorstellen, aber daran ist schwer zu glauben, wenn wir uns die Zunahme autoritärer Regimes auf der Welt, den unfairen Zuwachs von Reichtum in den Händen weniger und ein zunehmend inhumanes und ungleiches kapitalistisches System ansehen.

Wenn ja: was braucht es dazu?

Ein kompetenter Wohlfahrtsstaat, Demokratie und Gleichheit müssen die Grundlage aller Nationen sein.

Haben Sie oder Ihre Familie in der Vergangenheit Erfahrung mit Flucht gemacht?

Nein.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?

Nein, das glaube ich nicht, und wenn ich zum Flüchtling würde, würde ich Zuflucht auf Island suchen.

Wie viel Heimat brauchen Sie?*

Das ist eine sehr wichtige Frage, weil wir alle ein Zuhause brauchen, in dem wir uns sicher fühlen und entspannen und wir selbst sein können. Doch Zuhause kann ein Konvent sein, in dem man in der Nähe zu anderen lebt, mit nur wenigen Besitztümern, es kann ein Zelt sein oder ein Haus. Ghandis Zuhause war ein Zimmer im Hause seines Freundes, in dem er sein Bett hatte, einige Bücher und ein paar Sachen. Seine Arbeit war mit den Leuten überall, und er brauchte nur ab und zu ein Zuhause, in das er zurückkehren konnte.

*Diese Frage ist Max Frischs Fragebogen zu „Heimat“ entnommen.