Mexiko
Antonio Ortuño

Antonio Ortuño
Foto: Alvaro Moreno

Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?

Der Begriff bezeichnet einen Menschen, der außerhalb seines Landes ein Heiligtum und Schutz vor seinen eigenen Landsleuten sucht.

Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?

Nein, keinesfalls. Kein Verhalten ist so tiefgreifend menschlich wie die Migration.

Und Flucht vor ökologischen Problemen?

Auch nachzuvollziehen. Wir sind dem Klima, den Naturkatastrophen, der Knappheit und dem Verschwinden der Ressourcen ausgesetzt.

Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?

Wenn er sich in die Gesellschaft, die ihn aufnimmt, integriert oder wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.

Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?

Meiner Ansicht nach ja, und es ist unwiderruflich.

Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann?

Ich bin der Überzeugung, dass eine gesunde Gesellschaft alle Anstrengungen unternimmt, um die größtmögliche Anzahl an bedürftigen Personen aufzunehmen.

Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?

Ich würde keine Grenzen festlegen, und insbesondere keine Grenzen basierend auf egoistischen Haushaltsplanungen.

Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?

Mexiko hat aus vielen Ländern Einwanderer und Flüchtlinge empfangen. Ich fürchte, dass die Mexikaner nach denselben, eigenen rassistischen und klassizistischen Vorurteilen beurteilt werden, nach denen sie sich selbst beurteilen. Das heißt, die Einwanderer aus europäischen Ländern oder den Vereinigten Staaten werden mehr respektiert als jene aus Mittel- und Südamerika.

Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?

Das war früher der Fall. Allerdings ist das Leben in Mexiko in den vergangenen Jahren in eine Situation geraten, in der die Gewalt vorherrscht, und die Einwanderer, insbesondere die Mittelamerikaner, leiden darunter. Mexiko befindet sich hinsichtlich der mittelamerikanischen Auswanderer in einer komplexen Situation. Das Ziel der illegalen lateinamerikanischen Migration (im Wesentlichen aus Mexiko, Guatemala, El Salvador und Honduras) ist es, in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Viele Einwanderer flüchten vor Armut und Gewalt (einschließlich konkreter Lebensgefahr) und noch viel mehr suchen bessere wirtschaftliche Bedingungen. Ein großer Teil der Familie bleibt in ihren Heimatländern zurück und erhält, mit etwas Glück, Überweisungen aus den USA. Von wenigen Ausnahmen abgesehen betrachten die Migranten sich selbst nicht als Flüchtlinge, sie sind Teil einer seit Jahren aus wirtschaftlichen Gründen stattfindenden Wanderungsbewegung, die dazu geführt hat, dass sich die Geldsendungen zu den Hauptquellen zur Erlangung von Devisen in den betroffenen Ländern entwickelt haben (in Mexiko beispielsweise übertreffen die Geldsendungen der Migranten seit Jahren das Rohöl als Hauptdevisenquelle in unserem Land)...

Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Absolut. Obwohl klarzustellen ist, dass Mexiko für den Großteil der Einwanderer ein Durchgangsland ist, mit dem Ziel der Vereinigten Staaten.

Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen

- an die Ankommenden?

Ein Flüchtling befindet sich, so scheint mir, in der schlechtesten Lage. Er muss sich normalerweise mit dem zufriedengeben, was ihm gegeben wird.

- an die Aufnehmenden?

Vor allem Empathie. Einwanderer sind Menschen, keine Schmetterlinge und keine Enten, sie sind nicht nur Teil eines „Phänomens“, es sind Individuen.

Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?

Ja.

Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?

Meine Familie unterstützt das örtliche Wohnheim für Einwanderer.

Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?

a) in den nächsten zwei Jahren?

Ich sehe keine kurzfristige Lösung für die schreckliche Gewaltsituation, der die mittelamerikanischen Einwanderer in Mexiko ausgesetzt sind.

b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?

Aufgrund der verschärften Besessenheit in punkto Grenzsicherheit der Vereinigten Staaten und deren Bestreben, dass sich Mexiko zu ihrer ersten Verteidigungslinie entwickele, wird die Situation eher verschlechtern, fürchte ich.

Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?

Das wäre wie eine Welt ohne Gewalt. Eine Utopie, eine Idealvorstellung.

Wenn ja: was braucht es dazu?

Ich wollte ich hätte darauf eine Antwort.

Haben Sie oder Ihre Familie in der Vergangenheit Erfahrung mit Flucht gemacht?

Meine Mutter und meine Familie wanderten nach dem Bürgerkrieg 1936-39 aus Spanien aus.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?

Ich hoffe nicht.

Wie viel Heimat brauchen Sie?*

Mein Familie ist mein Heim und meine Vorstellung einer Kommune umfaßt Menschen aus den verschiedensten Ländern. Ich könnte außerhalb meines Landes leben, aber ich bevorzuge den Gedanken, hier bleiben zu können.

*Diese Frage ist Max Frischs Fragebogen zu „Heimat“ entnommen.