Georgien
Temur Butikashvili

Temur Butikashvili
Foto: Temur Butikashvili

Bevor ich anfange, die Fragen zu beantworten, möchte ich als Motto das leicht abgeänderte Zitat des Romanfangs von „Anna Karenina“ voranschicken:
„Alle glücklichen Länder gleichen einander,
alle unglücklichen Länder sind auf ihre eigene Art unglücklich“


Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?

Ein Mensch, der einfach Frieden für sich und seine Familie sucht. Zu unserer Schande muss man feststellen, dass die Menschheit diesen Begriff auch im 21. Jahrhundert noch nicht aus der Welt schaffen konnte.

Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?

Auf keinen Fall, das ist ein- und dasselbe.

Und Flucht vor ökologischen Problemen?

Ebenso, da die Menschheit diese Probleme selbst verursacht hat.

Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?

Wenn ein Mensch nach der Flucht aus seinem Land nicht gezwungen wird, erneut zu fliehen, um sich zu retten und wie der biblische Ahasver umherzuirren auf der Suche nach einem Ort, an dem er nicht hungrig umherziehen muss, wo er ein Dach über dem Kopf hat, wo er arbeiten und an Wahlen teilnehmen kann und weiß, dass man seine Stimme nicht unterschlagen und nicht erneut Bomben auf ihn werfen wird.

Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?

Selbstverständlich.

Wenn ja: ist es bedingungslos, oder kann man es verwirken?

Man muss die Gesetze und Regeln des Landes einhalten und respektieren. Wir haben ein wunderbares Sprichwort: „Wenn du in einem fremden Land bist, dann musst du die Mütze der dortigen Menschen tragen.“

Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann?

Natürlich gibt es Grenzen, ansonsten platzt das Land wie ein Luftballon.

Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?

Sie betreffen vor allem die finanzielle und wirtschaftliche Seite und natürlich Fragen in puncto Sicherheit und Rechtsordnung. Auf dieser Welt gibt es so viele Länder mit repressiven Regierungen, dass ich leider glaube, dass es in Zukunft noch mehr Flüchtlinge geben wird. Es gibt auf der Erde aber kein Land, das so reich wäre, eine so große Menge an Flüchtlingen aufzunehmen. Das ist das Prärogativ der Vereinten Nationen (oder vielleicht der EU, aber wohl eher nicht), man muss jedoch schnell handeln und ohne die für diese Organisation typischen bürokratischen Verzögerungen.

Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?

Nach dem Krieg mit Abchasien befanden sich unter den Flüchtlingen ehemalige Parteifunktionäre, Georgier, die noch zu Sowjetzeiten hohe Posten in den staatlichen Strukturen Abchasiens innehatten und die in der über Beziehungen in die georgische Regierung verfügten, dank derer sie in komfortablen Hotels und staatlichen Datschen untergebracht wurden. Ich habe keine Informationen über privilegierte Flüchtlinge nach dem russisch-georgischen Krieg im Jahre 2008 und hoffe, es gibt sie nicht, obwohl mir bekannt ist, dass viele Flüchtlinge bereits seit den Zeiten des Krieges mit Abchasien unter furchtbaren Bedingungen leben, während es anderen im Gegenteil gut geht.

Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?

Das ist für die offizielle Regierung wie für die Bürger des Landes das größte Problem. Georgien ist ein kleines Land mit einer sehr schwach entwickelten Wirtschaft. Natürlich kann es eine solche Last nicht tragen, umso mehr, als dass nach dem Zerfall der Sowjetunion sofort viele vom Kreml geschürte ethnische Konflikte auf den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion ausbrachen. Es gab Hilfe von humanitären Organisationen, der Großteil dieser Güter erreichte die Flüchtlinge aber nicht, sondern wurde einfach gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Mit der Zeit konnte man diese Probleme mehr oder weniger in den Griff bekommen, doch dann kam der Krieg von 2008, und alles begann von vorn. Man muss allerdings sagen, dass die Korruption unter der Präsidentschaft von Saakaschwili nicht ein so großes Ausmaß annahm wie früher. Die Hilfeleistung der westlichen Staaten wurde transparenter und organisierter durchgeführt (Gott sei Dank ist das auch nach dem Regierungswechsel 2012 so geblieben), obwohl die Arbeitslosigkeit unter den Flüchtlingen auch heute noch hoch ist und die staatlichen Unterstützungen kümmerlich.

Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Wie ich bereits erwähnte, sollte die Lösung des Flüchtlingsproblems auf internationaler Ebene erfolgen, das ist kein Problem eines einzelnen Landes.

Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen

- an die Ankommenden?

Die Immigranten müssen die Gesetze und Regeln des Landes respektieren, in dem sie sich aufhalten. Sie sollten im Hinblick auf die Probleme, die während der Vergabe von Unterkunft und Unterstützung, der Ausfertigung der Dokumente usw. natürlicherweise entstehen, mehr Geduld haben.

- an die Aufnehmenden?

Es kommt oft vor, dass zwischen den Flüchtlingen und der aufnehmenden Seite interkulturelle Probleme entstehen. Daher sollte die aufnehmende Seite toleranter sein und besser informiert über die für die Flüchtlinge typischen Besonderheiten. In diesem Zusammenhang ist die Auswahl des Personals sehr wichtig.

Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?

Ja. Beispielsweise wurde mein Studienkollege aus der Stadt Gori, mit dem ich noch zu Sowjetzeiten an der dortigen Theaterhochschule studiert hatte, 2008 zum Flüchtling. Nachdem russische Truppen die Stadt eingenommen hatten, floh er mit seiner Familie nach Tbilisi, und als ich davon hörte, bot ich ihm Unterkunft in meiner Wohnung an. Seine Familie wohnte anderthalb Monate bei uns, und nachdem die Truppen aus ihrer Stadt abgezogen waren, kehrten sie wieder zurück. Außerdem unterrichte ich an der Universität und hatte schon früher und auch heute Studenten, deren Eltern Flüchtlinge aus Abchasien sind.

Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?

Leider nicht aktiv. Manchmal, wenn die Möglichkeit besteht, helfe ich mit Lebensmitteln und Kleidung, die man in einer Einrichtung für Flüchtlinge abgeben kann.

Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?

a) in den nächsten zwei Jahren?
b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?

Ich hoffe, dass sie sich verbessern wird, aber alles hängt von politischen Veränderungen in Russland ab, und solange dort das putinsche Regime existiert, wird sich nichts ändern. Ich denke, dass Abchasien begreift, dass sie den Hals in die Schlinge gesteckt haben, dass Abchasen und Georgier sich untereinander einig werden könnten, aber...

Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?

Dafür müssten die Völker der Regime sämtliche ihrer Despoten loswerden. Und man müsste beispielsweise die großen Konzerne, die die globale Verschmutzung verursachen, besser und strenger kontrollieren.

Haben Sie oder Ihre Familie in der Vergangenheit Erfahrung mit Flucht gemacht?

Meine Cousine ist bis heute Flüchtling aus Samatschablo (Südossetien), sie wohnt mit ihrer Familie in einer Siedlung in der Nähe von Tbilisi, die man kurz nach dem russisch-georgischen Krieg für die Flüchtlinge eingerichtet hat.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?

- Wenn ja: warum?

Gott bewahre! Aber wer weiß, alles ist möglich, besonders wenn man einen so unkontrollierbaren Nachbarn wie Russland hat.

- Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Ernsthaft, ich weiß es nicht. Moment, ich weiß es doch! Ich bereite meine Kamera vor um zu filmen!

- In welches Land würden Sie fliehen?

Ich würde nirgendwohin gehen, ich bliebe zu Hause. Vielleicht würde ich meine Familie irgendwohin schicken, aber konkret...

Wie viel Heimat brauchen Sie?*

Eine. Eine, wo du geboren wurdest, wo deine Eltern und Verwandten leben, wo deine Vorfahren begraben sind und wo das Haus steht, in dem du geboren wurdest.

*Diese Frage ist Max Frischs Fragebogen zu „Heimat“ entnommen.