Israel
Sami Michael

Sami Michael

Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?

In meinen Augen bedeutet der Begriff “Flüchtling“ die Notwendigkeit, dass du dringend von zu Hause weg, aus der Heimat flüchten und deine Lebensweise hinter dir lassen musst, da deine Freiheit und manchmal auch dein Leben in Gefahr ist. Du machst dich auf den Weg, meist mittellos und zu einem unbekannten Ziel, während dich die Ungewissheit über die Zukunft im Griff hält.

Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?

Die Flucht vor der Armut ist der Flucht vor Krieg oder Unterdrückung ähnlich, doch unterscheidet sie sich dadurch, dass sie nicht dringend ist, und dass sie nicht von Angst und Schrecken begleitet wird. Der Hunger ist ein frustrierender Feind, aber er lässt dir Zeit, deine Schritte zu planen und vorzubereiten. Die Armut ist weniger schlimm als Krieg und politische Unterdrückung, denn die Erde ist reich genug, um alle ihre Bewohner ausreichend zu ernähren. Ich betrachte eine Situation als ungerechtfertigt, in der es reiche Völker und arme Völker gibt. Dies ist ein Warnzeichen, das auf eine Gefahr hindeutet; es ist gefährlich, sehr gefährlich, reich und satt zu sein, während dein Nachbar arm ist und Hunger hat.

Und Flucht vor ökologischen Problemen?

Die Bezugnahme auf die Umweltprobleme muss global sein und nicht lokal. Wenn es in einer bestimmten Gegend in irgendeinem Land zu Erdbeben, Überschwemmungen oder zu jeglicher Naturkatastrophe kommt,  engagieren sich die Führungsspitze und das ganze Volk, um Hilfe zu leisten und Unterstützung zu gewähren. Es gibt keinen Grund, warum die gesamte Menschheit sich nicht so verhalten sollte, wenn eines der Völker unter umweltbedingter Not leidet, ebenso wie man sich für Bevölkerungen auf der Welt einsetzen muss, die unter Armut und Hunger leiden.

Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?

Das hängt vom Alter ab. Wenn du älter bist, wirst du dich bis ans Ende deines Lebens fremd fühlen. Der psychologische Aspekt hat großen Einfluss auf das Verhalten eines Flüchtlings, während man gleichzeitig das Gefühl der Fremdheit durch eine tolerante und humane Einstellung von Seiten der aufnehmenden Gesellschaft mildern kann.

Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?

Die Gewährung von Zuflucht ist kein natürliches Recht. Unsere Urväter waren Kannibalen. Dieses Recht entwickelte sich im Verlauf der Generationen, so ähnlich, wie sich die Demokratie entwickelte, ähnlich den Werten der Gleichheit, der Brüderlichkeit und der Menschen- und Bürgerrechte. Aus diesem Grund betrachte ich die Gewährung von Asyl als eines der Anzeichen für die Aufgeklärtheit und Reife einer Gesellschaft.

Wenn ja: ist es bedingungslos, oder kann man es verwirken?

Die Gewährung von Zuflucht gegenüber einem Menschen, der aufgrund internationaler Kriterien als Flüchtling definiert wurde, muss bedingungslos erfolgen. Ich befürworte eine Verantwortung aller Länder gegenüber Flüchtlingen. Gleichzeitig bin ich der Ansicht, dass, genauso, wie es nicht möglich ist, einem diktatorischen Regime die Demokratie aufzuzwingen, es unmöglich ist, einem Land die Gewährung von Asyl aufzuzwingen. Das Leben eines Flüchtlings in einem solchen Land ist wahrscheinlich die Hölle. Es versteht sich, und es ist wichtig, dass die Länder sich einsetzen und Flüchtlingen Zuflucht gewähren, aber allen Ländern die Verantwortung zu übertragen, ist ein langsamer und langwieriger Prozess.

Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann?

Die Flüchtlingsquote, die jedes Land aufzunehmen in der Lage ist, muss gut abgewogen werden. Wenn zwei Gesellschaften ins Elend gestürzt werden, lösen wir damit kein Problem.

Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?

Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine menschliche Pflicht, und in meinen Augen ähnelt sie der Pflicht von Menschen, die in einem Boot sitzen, einen jeglichen Überlebenden aus dem Meer zu retten. Wenn man jedoch das Fassungsvermögen eines Bootes überschreitet, kann das zum Ertrinken von Überlebenden und Rettern gleichermaßen führen.

Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?

Selbstverständlich. Es gibt in meinem Land sogar eine unerhörte Diskriminierung, was die Herkunft von Flüchtlingen anbelangt. Diskriminierung existiert sogar innerhalb der jüdischen Gesellschaft selbst. Im Verlauf der Geschichte der jüdischen Bewohner Israels wurden Juden aus den westlichen Ländern den Juden asiatischer oder (nord-) afrikanischer Herkunft vorgezogen. Als im Nachgang zur Gründung des Staates Israel die arabischen Staaten die Juden aus ihren Ländern vertrieben, brachten einige Führungspersönlichkeiten in Israel ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck. Ben Gurion, das damalige Staatsoberhaupt Israels, wies einen aus dem Irak stammenden Lobbyisten zurecht, er solle Israel nicht mit irakischen Juden überschwemmen. Über lange Jahre befleißigten sich die israelischen Gesandten einer scharfen Selektion bei der Auswahl derjenigen jüdischen Migranten, die nach Israel einreisten. Sie gaben auf deutliche Weise jungen und gesunden Menschen den Vorzug. Die frühe zionistische Vision für  Israel war es, im Nahen Osten einen jüdischen Staat zu etablieren, der eine Zweigstelle der europäischen Kultur sein sollte. Nach der Gründung des Staates erwarteten sie, dass Millionen Juden, Überlebende des Holocaust, nach Israel strömen würden. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Mehrheit zog es vor, in die Vereinigten Staaten auszuwandern oder in Europa zu bleiben. Nur, weil es keine andere Wahl gab, öffneten sich die Tore Israels den Juden, die aus den Ländern des Islam vertrieben wurden. Einer der hervorragenden zionistischen Lobbyisten schrieb: Wir haben den Staat für ein bestimmtes Volk gegründet, und ein anderes kam dorthin.

Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?

Obwohl Israel zu den Initiatoren und Verfassern der internationalen Konvention über den Status von Flüchtlingen des Jahres 1951 gehörte, und obwohl es diese Konvention unterzeichnete, hat Israel keine Migrationspolitik. Die Migrationspolitik Israels bezieht sich vornehmlich auf die Migration von Juden, hat jedoch keine Regelung für den Status anderer vorgesehen,  die sich im Land aufhalten. Aus diesem Grund hat der Innenminister die Befugnis, die Einreise von Migranten und Flüchtlingen abzulehnen und sie auf der Grundlage des Einreisegesetzes nach Israel und des Rückkehrgesetzes zwangsweise des Landes zu verweisen. Was die Flüchtlinge anbelangt, die keine  Juden sind und nach Israel vor allem aus Afrika eingereist sind, so treffen diese in Israel auf harte Bedingungen: Gewahrsam an entlegenen Orten und unter unerträglichen Umständen. Diejenigen, denen es gelingt, ins Zentrum des Landes zu gelangen, werden in Armen- und Elendsviertel gedrängt, und demzufolge wird die Not dort noch größer. Arbeitslosigkeit und  Not treiben  zahlreiche Flüchtlinge in  Prostitution und  Verbrechen getrieben, von der Polizei verfolgt. Israel zieht es vor, tausende  Arbeitskräften aus Indien, Nepal, den Philippinen, Russland und Rumänien ins Land zu bringen, um alte Menschen zu betreuen, sie für Arbeiten in der Landwirtschaft und im Baugewerbe einzusetzen, anstatt die Flüchtlinge aus Afrika, die sich bereits im Lande befinden, für diese  Arbeiten anzulernen.

Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Ich sehe für die Kürzung von Sozialleistungen keine Chance, um der Aufnahme von Flüchtlingen Ressourcen zuzuführen, hauptsächlich aus zwei  Gründen. Erstens nimmt die Sozialpolitik in Israel seit Jahren (ohnehin) zunehmend ab. Auf konsequente Weise entledigen sich die Regierungen Israels jeglicher Verantwortung, den Bürgern im Allgemeinen und den schwächeren Bevölkerungsgruppen im Besonderen Sozialleistungen zu gewähren. Israel befindet sich am unteren Niveau der OECD der westlichen Welt im Hinblick auf Unterstützung für Senioren, Kinder und Arbeitslose. Die Armutsquote liegt in Israel um 74% höher als der Durchschnitt der OECD. Zweitens ist die offizielle Politik der Regierung in Israel die   sofortige Abschiebung fremder Flüchtlinge oder die Anwendung einer strikten Regelung gegen sie, damit sie das Land freiwillig verlassen. Absichtlich setzt die e (politische) Führung Flüchtlinge und Asylsuchende, die im Einklang mit internationalem Recht geschützt sind, mit arbeitssuchenden Migranten gleich und verweigert damit Flüchtlingen ihre Rechte, die sie auf Grundlage der Flüchtlingskonvention haben, die Israel, wie gesagt, unterzeichnet hat.

Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen

- an die Ankommenden?
- an die Aufnehmenden?

Zu meinem Leidwesen ist die Chance auf eine erfolgreiche Integration unter den heute in Israel bestehenden Bedingungen gering. Israel ist ein reiches Land, doch durch die geltende wirtschaftliche Diskriminierung ist  eine arme Bevölkerung vieler zum Schlechten ausgenutzten Menschen im Land entstanden. Die gesellschaftliche Kluft ist sehr tief. Das Gehalt der Bankdirektoren zum Beispiel gehört zu den höchsten der Welt, während der Mindestlohn sehr niedrig ist. Es ist eine Atmosphäre entstanden, in der notleidende Arme, deren Lohn gering ist, die ersten sind, die auf die Abschiebung von Flüchtlingen drängen. Die Regierung ihrerseits reagiert mit übermäßiger Begeisterung und ermutigt mitunter sogar Demonstrationen gegen Flüchtlinge.

Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?

Ich habe einige Orte an denen Flüchtlinge konzentriert wurden besucht. Ich war von den dort herrschenden Lebensumständen erschüttert. Der Zustand ist beschämend und Besorgnis erregend. Es ist schwer, die Straßen gefüllt mit Männern und Frauen, wie du und ich, zu sehen,  ohne Tätigkeit und ohne Hoffnung sind.

Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?

Ich diene als Vorsitzender der „Organisation für Bürgerrechte in Israel“. Im Rahmen der Organisation bieten wir verfolgten Flüchtlingen, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben, Rechtshilfe. Wir arbeiten mit Freiwilligenorganisationen und humanitären Organisationen zusammen, um die Rechte der Flüchtlinge zu wahren. Wir appellieren an Mitglieder der Knesset aller  (politischer) Parteien in Israel mit der Bitte, Menschen – unsere Brüder - zu schützen, die gezwungen waren, aus  ihren Häusern und ihrer Heimat zu fliehen, um zu überleben. Es ist wichtig, dass wir, die Juden, die seit Generationen unter Vertreibungen litten und hilflose Flüchtlinge waren, gegenüber dem Leid der Flüchtlinge empfindsam sein sollten, die in unsere Häuser kommen. Es ist ein Artikel beigefügt, den ich in der Zeitung „HaAretz“ veröffentlicht habe – „Denn Flüchtlinge sind Menschen“

Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?

a) in den nächsten zwei Jahren?
b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?

Ich sehe keine Chance für eine wesentliche Verbesserung und Änderung im Verlauf der kommenden Jahre. Die soziale Kluft innerhalb der israelischen Gesellschaft wird immer tiefer. Die Reichen werden immer reicher, und die Armen zunehmend ärmer. Seit Jahren entfremdet sich die Führung Israels von den schwachen Bevölkerungsteilen der Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft wird sich angesichts des Leids anderer nicht großherzig erweisen.

Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?

Ja, ich glaube, dass ein Tag kommen wird, an dem die Menschheit eine Welt ohne Flüchtlinge bewohnen wird. Letzten Endes ist der Mensch ein kluges Geschöpf. Der Tag wird kommen, an dem der Mensch verstehen wird, dass Kriege, Konflikte und Rassismus uns alle zerstören werden, da die tödlichen und zerstörerischen Werkzeuge immer raffinierter werden. Ich glaube fest daran, dass der Tag kommen wird, an dem wir es schaffen werden, zu verstehen, dass wir alle einer Rasse und einem Volk angehören, das ein Heimatland bevölkert - die Erde. In einer dieser zukünftigen Welt wird es keine hungrigen Flüchtlinge geben, die völlig mittellos auf feindlichen Feldern umherwandern.

Wenn ja: was braucht es dazu?

Es fällt mir schwer zu glauben, dass ich,  meine Kinder, Enkelkinder oder sogar meine beiden Urenkel (die in diesem Jahr geboren wurden) es schaffen werden, diesem Garten Eden nahezukommen. Die menschliche Entwicklung verläuft nicht mit der Stoppuhr in der Hand. Entwicklungsprozesse brauchen  Zeit. Was mich aufmuntert, sind die Schritte, die bereits getan wurden. Wenn ein Deutscher in den Tagen des Zweiten Weltkrieges erklärt hätte, dass eines Tages ein Franzose, Russe oder Jude Berlin als Tourist besuchen werde oder dort in Ruhe und Frieden zu wohnen/leben wünsche, hätte man ihn erschossen. In Europa wurden (damals) die Grenzen nur mit einem Panzer oder Kampfflugzeug überquert. Heute braucht man nicht einmal mehr einen Pass, und das ist der Weg in eine bessere Zukunft.

Haben Sie oder Ihre Familie in der Vergangenheit Erfahrung mit Flucht gemacht?

Ja, ich habe selbst persönliche Erfahrungen als Flüchtling gemacht. Ich gelangte ganz allein nach Israel, nachdem ich im Irak aufgrund meiner Aktivitäten zum Wohle eines liberalen, gleichen und gerechten Iraks  verfolgt wurde. Später machte auch meine Familie Erfahrungen als Flüchtlinge. Nach fast 2500 Jahren der dauerhaften Ansiedlung wurden wir (die jüdische Gemeinde im Irak) gewaltsam und gänzlich mittellos vertrieben. Wir mussten umfangreichen Besitz zurücklassen, liebgewordene Erinnerungen und eine glorreiche Vergangenheit. In Israel mussten wir unser Leben von Null beginnen. Nach drei Stunden Flug fand sich meine Familie von einer prächtigen Villa in einem blühenden Viertel Bagdads,  in einem Zelt mit staubigem Boden auf einem verlassenen Feld in Israel wieder. Wir begannen alles von neuem in einem anderen Heimatland, mit einer anderen Tradition und mit einer anderen Sprache. Wir waren fleißig, und glücklicherweise haben wir überlebt und es geschafft.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?

Nein, ich werde nicht wieder zum Flüchtling. Ich bin schon 90 Jahre alt. Aus diesem Grund bereite ich mich auf gar keine Wanderung vor, und wenn ich an ein anderes Land denke, dann werde ich als Tourist dorthin reisen.

Wie viel Heimat brauchen Sie?*

Ich empfinde die ganze Welt als Heimatland, und in dieser Hinsicht brauche ich ein großes Haus, wirklich riesig. Ich bin ein ehrgeiziger Verrückter bei dem Gedanken, dass die ganze Welt meine Heimat ist. Wenn jemand eine Grenze vor mir verschließt, werde ich ihm in die Augen sehen und sagen: Du bist ein Fremder in dieser Heimat.

*Diese Frage ist Max Frischs Fragebogen zu „Heimat“ entnommen.