Irland / USA
Colum McCann

Colum McCann
Foto: Kudosmaker (Seamus Kearney) - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?

Er bedeutet den Traum, anderswo Erinnerung zu finden. Den Traum, zu einem legitimen Anderswo zu gehören.

Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?

Krieg ist Armut. Das gilt auch für politische Unterdrückung. Und die Armut der Emotion im Hinblick auf Krieg und Politik ist genau das, was uns Sorgen machen sollte. Also ja, die Flucht vor der Armut ist absolut legitim.

Und Flucht vor ökologischen Problemen?

Ja, umweltbedingte Probleme sind eine Form des Krieges und der politischen Unterdrückung. Aber wir sollten vielleicht bleiben und Umweltprobleme bekämpfen, wenn möglich. Wie Ossip Mandelstam sagt: “Wir müssen diese arme Erde lieben, denn wir haben nie eine andere gekannt.“

Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?

Wenn man ein Zuhause findet, das man als natürlich empfindet. Wenn einem erlaubt wird, sich an Verlorenes zu erinnern.

Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?

Ja, das ist ein Menschenrecht.

Wenn ja: ist es bedingungslos, oder kann man es verwirken?

Es kann verwirkt werden, wenn man beginnt, andere zu unterdrücken.

Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann?

Leider ja. Die Zahl ist begrenzt, weil unsere Fähigkeit zur Empathie so oft eingeschränkt ist. Und vor Ort gibt es technische Dinge, die die Sicherheit eines jeden Flüchtlings gewährleisten müssen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Zahl unbegrenzt ist, aber in praktischer Hinsicht funktioniert das nicht. Ein Fluss funktioniert so viel besser als eine Flut.

Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?

Man zieht die Grenze, indem man  die Lunge des Ortes untersucht, an dem die Flüchtlinge eintreffen: atmet sie ordentlich oder ist sie bis zum Bersten gefüllt? Ein Wort, das es nie geben sollte, ist “Lager”. Ein Flüchtlingslager ist der falsche Gedanke, wenn wir unserer Welt das Atmen erlauben wollen. Niemand sollte für immer im Lager leben.

Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?

Ich stamme aus Irland und lebe in New York. In Irland ist man ziemlich tolerant. Das gilt auch für New York. Die Vereinigten Staaten sind im Allgemeinen ein recht toleranter Ort, trotz aller Berichte. Aber dann wiederum gibt es Leute in beiden Ländern, die einer Gehirnwäsche unterzogen wurden und meinen, das Wort Flüchtling müsse im Format des 19. Jahrhunderts buchstabiert werden. Rassismus gibt es zur Genüge. Gut, ja, es gibt ein paar privilegierte Flüchtlinge. Aber jeder Flüchtling weiß, dass man sich anpassen und die Grenze zwischen Privileg und Zugehörigkeit aufbrechen muss.

Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?

Ist die Behandlung fair im eigentlichen Sinne des Wortes? Ich bezweifle das.

Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Natürlich, ja. Aber Sie sollten diejenigen fragen, die sich innerhalb des Sozialversicherungssystems befinden, wie sie darüber denken.

Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen

- an die Ankommenden?
- an die Aufnehmenden?

Erfolgreiche Integration bedeutet Zuhören. Wir müssen fähig sein, Geschichten zu erzählen, vor allem jedoch müssen wir in der Lage sein, den Geschichten anderer zuzuhören.

Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?

Ich habe das Gefühl, dass ich das tue. Und das Gefühl, ich sollte. Und auch wenn ich einige kenne, gibt es viel mehr, die ich kennen sollte.

Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?

Ja, ich spende an verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen.

Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?

a) in den nächsten zwei Jahren?

In zwei Jahren wird es mehr geben.

b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?

In zehn Jahren wird es noch viel mehr geben. Das ist unsere neue Realität.

Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?

Nicht wirklich, nein. Ich wünschte, ich könnte, aber der zynische Teil von mir kann es nicht.

Wenn ja: was braucht es dazu?

Es würde eine universelle Revolution des menschlichen Geistes erforderlich machen. Das wird nicht geschehen.

Haben Sie oder Ihre Familie in der Vergangenheit Erfahrung mit Flucht gemacht?

Ich bin ausgewandert, war aber nie im Exil oder Flüchtling. Ein Flüchtling zu sein bedeutet, dass man zu fliehen gezwungen ist. Ich war niemals gezwungen. Ich wurde zugelassen. Flüchtling zu sein, ist eine Tragödie, die zu potentieller Hoffnung führt.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?

- Wenn ja: warum?

Ich bin ziemlich sicher, dass ich gerne Flüchtling aus der Realität einer Welt wäre, die mit Flüchtlingen bevölkert ist. Also ja.

- Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Ich bereite mich vor, indem ich hoffe.

- In welches Land würden Sie fliehen?

Ich würde Zuflucht an einem Ort suchen, der wirklich von Flüchtlingen aufgebaut wurde.

Wie viel Heimat brauchen Sie?*

Eine Heimat. Die dann natürlich alle anderen Heimaten umfasst. Ein einziger Ort, der überall umarmt.

*Diese Frage ist Max Frischs Fragebogen zu „Heimat“ entnommen.

Top