Finnland
Sirpa Kähkönen

Sirpa Kähkönen
Foto: lizenzfrei

Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?

Ein Flüchtling ist ein Mensch, der gegen den eigenen Willen seine Heimat verlassen musste.

Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?

Vor Armut zu flüchten ist genauso legitim wie Flucht vor Krieg oder politischer Verfolgung. Der Mensch hat das Recht, eine Existenzgrundlage und ein menschenwürdiges Leben sowie Bildung und Arbeit außerhalb seiner Heimat zu suchen.

Und Flucht vor ökologischen Problemen?

Migration wegen ökologischer Krisen und Problemen ist legitim. Man kann nicht erwarten, dass jemand in Gebieten weiterlebt, in denen das Wohnen wegen einer Naturkatastrophe oder Verschmutzung unmöglich geworden ist.

Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?

Eine Person ist kein Flüchtling mehr, wenn sie entweder die Staatsbürgerschaft des neuen Landes annimmt, oder den Beschluss fasst, in einem neuen Land sesshaft zu werden.

Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?

Ja.

Wenn ja: ist es bedingungslos, oder kann man es verwirken?

Der Prozess der Asylbewilligung müsste flexibel und schnell sein. Wenn man die Hintergründe einer Person recherchiert, könnte man ein ähnliches Verfahren anwenden, wie es die Organisation Icorn benutzt, wenn sie verfolgten Autoren Asyl vermittelt.

Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann?

In einer normalen Situation begrenzt, aber großzügig. Im Falle eines Krieges oder einer Katastrophe sollte man Flüchtlinge ohne Einschränkungen aufnehmen. Gleichzeitig sollte man versuchen, den Konflikt oder die Katastrophe, die der Migration zugrunde liegen, schnell zu lösen oder zu lindern.

Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?

Entscheidend ist die Belastbarkeit des aufnehmenden Landes. Bedauerlicherweise müssen manchmal sehr arme Länder große Flüchtlingsströme aufnehmen; viele der wohlhabenderen Länder könnten sich um eine größere Zahl von Flüchtlingen kümmern.

Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?

In der Vergangenheit war Finnland offen dafür, Flüchtlinge aufzunehmen, die bereit waren, schnell einer Arbeit nachzugehen und sich äußerlich den Anforderungen der Kultur anzupassen, d.h. ihre eigenen Kulturmerkmale möglichst wenig sichtbar zu halten und ihre eigene Religion und eigenen Sitten innerhalb der eigenen vier Wände auszuüben. Ein gutes Beispiel dafür sind die so genannten Bootsflüchtlinge aus Vietnam. Wahrscheinlich würde man Flüchtlinge aus europäischen Ländern eher aufnehmen wollen.

Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?

Nein. Vor allem die gestiegenen Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 haben die Finnen überrascht und haben viele Probleme hinsichtlich des Integrationswillens und der Stimmung im Land verursacht. Selten landen die Flüchtlinge in Finnland auf der Straße; wir können sie unterbringen, aber man will nichts von ihnen wissen. Besonders problematisch war im Sommer 2016 die Abschiebung der Flüchtlinge in Länder, in denen eine große Gefahr besteht, verfolgt oder getötet zu werden.

Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Nach christlichem Denken sollten wir andere an unserem Überfluss teilhaben lassen. Aber wenn wir auf dem sozialen Sektor Einschnitte machen, dann würde das bedeuten, dass die einkommensschwachen Finnen weniger Unterstützung bekämen. Auch in reichen Ländern gibt es arme Leute. Ein Anstieg der Armut in Finnland kann keine gelungene Flüchtlingspolitik sein, aber den Flüchtlingen nicht zu helfen, ist auch keine Alternative.

Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen

- an die Ankommenden?

Der Wille, am Leben des aufnehmenden Landes teilnehmen und ihre Kultur kennenlernen zu wollen. Die Bereitschaft, die zentralen Werte des Landes zu akzeptieren und zu respektieren.

- an die Aufnehmenden?

Die Bereitschaft und Fähigkeit, den Hintergrund und die Kultur der Aufgenommenen zu akzeptieren. Die Fähigkeit, einen Dialog zu führen, bei dem man einerseits darstellt, welche die Grundsätze sind, an denen man festhält und andererseits bereit ist, in allen anderen Fragen, die nicht zentral oder unbedingt notwendig sind, flexibel zu sein.

Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?

Ja.

Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?

Ja.

Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?

a) in den nächsten zwei Jahren?

Negatives Szenario: geschlossenere Grenzen, immer mehr Rücksendungen in unsichere Herkunftsländer, Menschen, die Ängste hervorrufen, Populismus. Positives Szenario: man findet noch guten Willen und die Fähigkeit, sich an neue Verhältnisse anzupassen, politische Weitsicht, um auf der europäischen Ebene die Probleme der Flüchtlinge zu lösen. Vieles hängt von der Entwicklung der Situation in Syrien und in der Türkei ab.

b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?

Die Hoffnung liegt in den jüngeren Generationen, die in einem multikulturellen Finnland aufgewachsen sind. Ihre Ansichten, was die Migration von Menschen, deren Kultur ganz anders als die unsere ist, betrifft, werden vielleicht positiver.

Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?

Ich kann es mir vorstellen, aber das ist Teil meiner utopischen Gedankenstruktur über eine Welt, in der es keinen Krieg, keine Umweltzerstörung und -verschmutzung, keinen Hass oder keine Unterdrückung gibt. Es ist vielleicht nur ein Traum, aber ihn aufzugeben würde bedeuten, dass man zugibt, dass Mensch zu sein nur ein Kampf gegen die Umwelt und andere Menschen ist.

Wenn ja: was braucht es dazu?

Die Antwort darauf habe ich schon gegeben. Am wichtigsten wäre es, Krieg und Gewalt zu stoppen.

Haben Sie oder Ihre Familie in der Vergangenheit Erfahrung mit Flucht gemacht?

In meiner Familie gab es einige, die in die Sowjetunion geflüchtet und dann durch die Verfolgungen Stalins umgekommen sind.

Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?

- Wenn ja: warum?

Ich halte es für möglich, denn die Welt ist ein unstabiler Ort und niemand kann den ganzen Verlauf seines Lebens voraussehen.

- Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Ich lese und schreibe und denke, um einen unsichtbaren Koffer bereit zu halten für den Fall, dass ich abreisen muss. Für diesen Moment baue ich mir eine Identität auf, die man mir nicht wegnehmen kann, wenn ich flüchten muss oder gefangen werde.

- In welches Land würden Sie fliehen?

In ein Land, das mich aufnimmt.

Wie viel Heimat brauchen Sie?*

Meine Erinnerung ist meine Heimat.

*Diese Frage ist Max Frischs Fragebogen zu „Heimat“ entnommen.

Top