Interview mit Yotam Gotal
„Fatzer hat mich umgehauen“
Bis vor zwei Jahren hatte Yotam Gotal, 27, noch nicht davon gehört: „Fatzer”, ein Stück von Bertolt Brecht, das er nie vollendet hat. Je mehr Gotal las, desto mehr war er fasziniert von diesem Fragment und schuf schließlich eine Fassung, durch die der Text jetzt erstmals in hebräischer Sprache auf die Bühne kommt. Im Interview verrät der Regisseur, was ihn an diesem Werk derart begeistert hat und wie herausfordernd die Proben in Zeiten der Pandemie gewesen sind.
Von Cedric Dorin
Nach Monaten der Schließung sind die Theater in Israel wieder geöffnet. Wie ist es für Sie wieder zurück zu sein?
Extrem aufregend! Die zurückliegenden Monate allerdings waren wirklich alles andere als leicht.
Wie haben sich die Lockdowns auf diese Produktion ausgewirkt?
Es kam vor, dass wir Proben wegen neuer Auflagen plötzlich zwei Stunden vor Beginn wieder absagen mussten. Für vier Wochen fielen sie komplett aus. Über acht Monate hat sich die Arbeit mit den Schauspielern schließlich erstreckt. Bei einem derart zerstückelten Ablauf ist die größte Sorge für einen Regisseur natürlich, wie man die Spannung und Leidenschaft innerhalb des Ensembles aufrecht erhält. Oder ob wir diese Inszenierung überhaupt vor Publikum spielen können. Dabei wollen wir sie ja unbedingt auch in Deutschland zeigen. Unser Bühnenbildner Tristan Jaspersen und unser Dramaturg Professor Nikolaus Müller-Schöll kommen schließlich von dort.
Warum haben Sie sich eigentlich gerade dieses Stück von Brecht vorgenommen?
Im Sommer 2019 war ich Teil einer Delegation der Tel Aviv-Universität bei der Ruhr-Triennale, einem großen Theater-Festival in Deutschland. Dort sprach Professor Müller-Schöll von der Frankfurter Goethe-Universität über „Fatzer”, rühmte es als Brechts interessantestes Stück. Das war für mich sehr überraschend, kenne ich doch viele seiner Werke, aber davon hatte ich noch nicht gehört. Als ich es dann selbst zum ersten Mal las, war ich ganz hin und weg, es hat mich umgehauen. Es ist einzigartig.
Was macht es so einzigartig?
Wie es geschrieben ist: eine Mischung von vulgärer Sprache unter Soldaten und einer ästhetischen Poesie, die beinahe einem Haiku ähnlich ist, der strengen japanischen Gedichtform. Fünf Jahre hat Brecht an “Fatzer” gearbeitet, doch es blieb unvollendet. Deshalb ist im Brecht-Archiv lediglich ein Konglomerat an Texten zu finden, es sind hunderte Seiten mit Szenen, Liedern, philosophischen Texten. Die Grundidee ist die Geschichte von vier Soldaten, die im Ersten Weltkrieg desertieren, sich in einem Keller verstecken und auf die Revolution warten. Bei uns in Israel liegt der Fokus im Geschichtsunterricht verständlicherweise vor allem auf dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg, daher mussten auch wir uns zunächst einlesen, um ein Gefühl für diese Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts zu bekommen – angefangen vom Alltagsleben bis hin zu den Schilderungen all der Gräuel dieses Weltkrieges, in dem Millionen Menschen umgekommen sind, aus dem sich aus der vermeintlichen Ritterlichkeit von Soldaten etwas so Grausames entwickeln konnte, ein Tiefpunkt an Menschlichkeit.
Als Ihre „Fatzer”-Fassung fertig war: Mit welchem Ansatz sind Sie in die Proben gegangen?
Aus meiner persönlichen Erfahrung ist Brecht einer der Stückeschreiber, der am meisten missverstanden wird, an dem Etiketten wie „Verfremdungseffekt” kleben, dessen Konzepte und Ideen aber kaum umgesetzt werden. Er wollte Theater neu und anders denken. Aber auch in Israel wird das kaum umgesetzt, inszeniert werden seine Stücke hingegen manchmal sogar wie Musicals. Ein sehr bekannter israelischer Bühnenautor bemerkte einmal: 'Das Repertoire-Theater bei uns ist wie ein Fleischwolf. Egal, ob Molière oder Brecht, am Ende sieht alles gleich aus.' Und es stimmt doch: Sich für einen „Verfremdungseffekt” das Gesicht weiß zu schminken, macht noch keinen Brecht. Erst recht nicht angesichts all seiner philosophischen Ideen über Theater und Politik.
Was wollten Sie also anders machen?
Zeigen, dass Brecht eben anders und einzigartig ist. Das heißt zum einen, die Sprache ernstzunehmen. Anfangs waren die Schauspieler schockiert, sie dachten, die Übersetzung sei fehlerhaft, weil diese Poesie, diese Sätze für sie so ungewohnt sind, ganz anders als die Umgangssprache wie sie auch in modernen Produktionen üblich ist. Außerdem wollte ich weg von Äußerlichkeiten. Ich wollte mich konzentrieren auf die Gewalt, die im Text steckt, im Inneren von Fatzer. Kein Soldat in dieser Inszenierung trägt Uniform oder Waffe. Gerade hier in Israel mit der Pflicht zum Militärdienst muss sich jeder und jede ohnehin damit auseinandersetzen, was es bedeutet, Soldat zu sein. Und kennt, was auch im Stück geschieht: dieser Prozess der Re-Individualisierung nach all den Jahren, in denen man in der Armee zu einer Einheit verschmelzen und funktionieren soll, die dann aber aufbricht und zerfällt. Das ist auch bei uns – natürlich in ganz anderen Umständen – für viele ein schwieriger Einschnitt, für manche ist er sogar traumatisch. Vetraut ist uns auch die Sprachlosigkeit, das Schweigen, wenn man aus einem Krieg nach Hause kommt, selbst gegenüber dem eigenen Partner. Jemand, der die Inszenierung gesehen hat, sagte: Es dauere, bis man mit den Figuren eine Verbindung spürt, aber wenn es passiert, ist sie stark. Deshalb hoffe ich ja, dass es nicht nur bei meiner Inszenierung bleibt.
Was meinen Sie?
Ich bin einfach froh, dass es dieses Fragment von Brecht jetzt in einer hebräischen Fassung gibt. Es ist alles andere als ein einfaches Stück, deswegen wäre es faszinierend zu sehen, wie andere Regisseure mit den Fragen umgehen, die es aufwirft, und wie sie die Tiefe erforschen, die es hat. Kurz: Ich kann es kaum erwarten, noch mehr „Fatzers” zu sehen.
Die nächsten Aufführungen sind am Samstag, 5. Juni, und Sonntag, 6. Juni, um 19:30 Uhr im Tmuna-Theater in Tel Aviv.
Die Bibliothek des Goethe-Instituts in Tel Aviv und die Onleihe verfügen über Werke von Bertolt Brecht in deutscher Sprache, teils auch in hebräischer und englischer Übersetzung.