Bücherwelt
Familien in neuer Form

Formen von Familie
© Goethe-Institut

von Miriam Zeh

Der Wirklichkeitshunger ist nach wie vor groß in der deutschsprachigen Literatur. Immer noch schreiben zahlreiche Autor:innen über die eigene Familie. In autofiktionalen Romanen verorten sie sich damit auch in Geschichte und Gesellschaft. Besonders interessant sind die verschiedenen literarischen Formen, in denen Familiengeschichten im Herbst 2022 erzählt werden.

Daniela Dröscher wählt in ihrem Roman „Lügen über meine Mutter“ eine Mischform aus narrativen Szenen und Essay. Schildert die kindliche Ich-Erzählerin Ela zunächst ihr Aufwachsen in der westdeutschen Provinz Anfang der 80er Jahre, reflektiert anschließend die erwachsen Gewordene mit zugewandter Distanz und soziologischer Expertise die Machtstrukturen innerhalb der eigenen Familie. Thematisch gelangt so nicht nur das große Tabu in den Fokus: das Körpergewicht der Mutter, an dem Elas Vater immer etwas zu kritisieren hat. Der Roman, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, erzählt auch ein Stück westdeutscher Frauenemanzipationsgeschichte zwischen dem Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung und fehlender Kinderbetreuung.
 

Daniela Dröscher Lügen über meine Mutter © KiWi © Amrei-Marie - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=122476816

Zwischen Prag und Ost-Berlin, Trauer und Komik sowie einer Vielzahl skurriler bis surrealer Einfälle oszilliert Jan Faktors autofiktionaler Roman „Trottel“. Der tschechisch-deutsche Schriftsteller engagierte sich in den 80er Jahren in der Untergrund-Literaturszene im Prenzlauer Berg und weiß die unglaublichsten Anekdoten aus dem angesagten Künstler:innen-Viertel zu erzählen. Immer wieder bricht in den spontan anmutenden Rede- bzw. Schreibfluss jedoch die Trauer. Faktors manisch-depressiver Sohn nahm sich das Leben. Seine Familie und die Frage, „ob ein Trottel im Leben glücklich werden kann“, lassen den über 70-jährigen Autor in diesem Roman, der es ebenfalls bis in die Endauswahl für den Deutschen Buchpreis geschafft hat, nicht los.
 

Jan Faktor Trottel © KiWi © Von Woebau - Eigenes Werk, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=41479895

Dass Familie eine Last sein kann, weiß auch Heinz Helle. Sein Roman „Wellen“ reiht sich ein in eine junge Erzähltradition (Anke Stelling war eine ihrer Vorreiterinnen), die ihre Produktionsbedingungen offensiv zu einem Teil der Literatur macht. Helle erzählt, wie er schreibt zwischen der Betreuung zweier Kleinkinder, dem Einkaufen fürs Mittagessen und Falten der gewaschenen Unterhosen. Neben Haushalt und Kindern kommen ihm immer wieder die eigenen Vorstellungen von Männlichkeit in die Quere. Welches Bewusstsein muss er entwickeln als Teil eines Geschlechts, das maßgeblich für Kriege der Weltgeschichte und für einen erheblichen Teil der Gewalt unserer Gegenwart verantwortlich ist? Entsprechend der knapp bemessenen Zeit, die dem Familienvater zum Denken und Schreiben bleibt, besteht auch dieser fragmentarische Roman aus kurzen, dafür umso genauer – womöglich: ökonomisch gearbeiteten Abschnitten. Jeder Eintrag, ein einzelner Satz, der seine Intensität auf engstem Raum entfaltet.
 

Heinz Helle Wellen © Suhrkamp © Max Zerrahn

Eine Suche nach einer literarischen Sprache und Form für die eigene Identität beschreibt der mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnete Roman „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon. Weil sich das erzählende Ich als non-binär, also weder als Mann noch als Frau identifiziert, changiert auch das Buch in queerer Ästhetik zwischen plastischen Szenen, essayistischen und reflexiven Passagen. „Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“, fragt sich die Erzählfigur – und kommt in der Beantwortung dieser Frage immer wieder zur eigenen Familiengeschichte zurück. Besonders an der eigenen strengen Großmutter, der Großmeer im Berndeutschen, arbeitet sich die Erzählfigur ab und findet dichte Bilder für das Nebeneinander des alternden, dement werdenden und des non-binären Körpers. Aber auch die Lebensgeschichte früherer Vorfahrinnen, bis ins 14. Jahrhundert zurückreichend, rekonstruiert dieser rasant dringliche Roman und verfolgt so einen Schmerz, der von einer Generation in die nächste vererbt wurde – bis die Linie schließlich beim schreibenden Ich endet. „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon ist damit eine Dekonstruktion und Neuschaffung des gegenwärtigen in so vielen Formen zu beobachtenden Familienromans.
 

Kim de l'Horizon Blutbuch © DuMont © Von Harald Krichel - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=124455606

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Miriam Zeh ist freie Literaturkritikerin und Moderatorin, unter anderem beim Deutschlandfunk. Sie arbeitete als Literaturwissenschaftlerin in Frankfurt und Mainz, ist Mitherausgeberin der Zeitschrift POP. Kultur und Kritik und präsentiert bei Books up! Literatur für junge Leute auf Instagram.

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