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Gewerkschaften
Ein Konzert gibt’s erst, wenn alle singen

Streik der Gewerkschaft Verdi im Sommer 2021 vor der Uniklinik Köln: Immer wieder legte das Klinikpersonal in Nordrhein-Westfalen in den letzten zwei Jahren die Arbeit nieder, um für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege zu protestieren. Nach elfwöchigem Streik kam es im Sommer 2022 zu einer Einigung.
Streik der Gewerkschaft Verdi im Sommer 2021 vor der Uniklinik Köln: Immer wieder legte das Klinikpersonal in Nordrhein-Westfalen in den letzten zwei Jahren die Arbeit nieder, um für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege zu protestieren. Nach elfwöchigem Streik kam es im Sommer 2022 zu einer Einigung. | Foto (Detail): © picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt

Gewerkschaften sind alles, nur nicht in oder cool. Seit Jahren sind die Mitgliedszahlen in den meisten Industrieländern rückläufig. Hat das Modell Arbeitskampf ausgedient? Im Gegenteil: Gerade in Krisenzeiten sollten wir uns wieder auf Solidarität besinnen, meint unsere Autorin.
 

Von Maike Rademaker

Im Herbst 2022 werden sich in Deutschland eine halbe Million Menschen vermutlich freuen, wenn sie auf ihr Konto schauen. Denn am 1. Oktober steigt ihr Lohn um fast zehn Prozent. Wenige Monate später gibt es wieder gute drei Prozent mehr. Die so Bedachten sind Gebäudereiniger*innen, also die, die Fassaden putzen, Küchen, Büroräume, Krankenhäuser. Schön für sie, dürften die meisten Menschen denken. Hätte ich auch gerne, Stichwort Inflation. Aber was geht mich das an?

Alles. Denn Lohnerhöhungen fallen nicht vom Himmel. Kein Arbeitgeber verschenkt Geld – und schon gar nicht gern und freiwillig. Was in schöner Regelmäßigkeit wie ein warmer Regen quer durch die Republik auf die Konten vieler Beschäftigter niedertröpfelt, ist jedes Mal hart erstritten. Mitunter mit hartnäckigen Streiks, mit Müll, der liegen bleibt, und Autos, die später fertig werden. Und es geht nicht nur um die Löhne. Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Schichtzulagen, mehr Urlaub, kürzere Arbeitszeiten: Alles erstreikt und erkämpft – von Gewerkschaften. In Deutschland werden dieses Jahr die acht großen Gewerkschaften, zusammengeschlossen im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), für rund zehn Millionen Menschen neue Löhne und Arbeitsbedingungen verhandeln.

Trittbrettfahren reicht nicht mehr

Allein das sollte reichen, um umgehend Gewerkschaftsmitglied zu werden. Tatsächlich ist aber in Deutschland nur knapp jede*r sechste Beschäftigte in einer solchen Organisation – zuletzt waren es 5,7 Millionen bei rund 34 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, also knapp 17 Prozent. Damit liegt Deutschland etwas unter dem Durchschnitt der europäischen Länder und über den rund zehn Prozent der USA. In den EU-Mitgliedsländern schwankt der Organisationsgrad zwischen sieben und 70 Prozent; in manchen Ländern stellen Gewerkschaften gesetzliche Sozialleistungen und profitieren dadurch bei Mitgliederzahlen. Millionen Nicht-Mitglieder sind Trittbrettfahrer: Weil im Betrieb nicht zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern unterschieden wird, profitieren sie mit. Gewerkschaften sind wichtig, ist immer wieder das Stimmungsbild, aber mitmachen? Das geht dann doch zu weit. In manchen Branchen ist die Mitgliedschaft so gering, dass man von regelmäßigen Lohnerhöhungen nur träumen kann.

Bis jetzt ist das gesellschaftlich gut gegangen. Aber angesichts der Herausforderungen und Krisen, die bereits begonnen haben oder zu erwarten sind – Inflation, Klimaanpassung, digitale Transformation, alternde Gesellschaft – ist der Weg falsch. Denn für diese Krisen gibt es nur zwei Alternativen: Entweder der Staat greift tief ein, indem er hier den Mindestlohn erhöht und dort die Steuern senkt, da einen Rabatt gewährt und dort einen Zuschuss. Und dabei ungerecht ist, weil Wohlhabende wie Arme profitieren.

Oder die Beschäftigten handeln passende Löhne und Arbeitsbedingungen kollektiv aus – mit den Gewerkschaften. Wer, wenn nicht die Beschäftigten, kennen den Betrieb, den Gewinn, den das Unternehmen einstreicht, die Investitionen, die es plant, die Veränderungen, die anstehen? Und wer, wenn nicht die Beschäftigten, müssten mitbestimmen, wie die Zukunft aussehen soll – die Löhne, die Arbeitsbedingungen, die notwendigen Einschnitte? Trittbrettfahren reicht für die weltweiten Krisen nicht mehr. Gewerkschaften funktionieren wie ein Chor: Ein Konzert gibt’s erst, wenn alle singen.

Verschwitzte Pullover

Allerdings müssen sich auch die Gewerkschaften besser aufstellen – gerade in Deutschland. Sie benötigen mehr Frauen in ihren Reihen, sie müssen deutlich jünger, moderner und digitaler werden. Auch wenn täglich hunderte Menschen eintreten, treten immer noch mehr aus oder sterben: Gewerkschaften sind in Deutschland vor allem riesige Rentner*innenorganisationen. Bei der IG Metall ist jedes dritte Mitglied im Ruhestand. Europaweit lässt sich der Trend zu sinkenden Mitgliedsraten unter jungen Arbeitnehmer*innen beobachten, das Durchschnittsalter von Gewerkschaftsmitgliedern steigt stetig – und da zählt Deutschland nicht einmal zu den Spitzenreitern.

Wer das ändern will, muss lernen, dass Mitglieder in der digitalen Welt anders lesen, anders schreiben, anders medial konsumieren und andere Forderungen haben. Lange Zeit sah es so aus, als wenn die Digitalisierung den Gewerkschaften den letzten Schubs über die Klippe geben würde. Langwierige Pamphlete in Verwaltungsdeutsch lesen? Auf keinen Fall. Und wenn der Chef geduzt werden will, alles schnell smart geregelt werden kann, die hippe Brause umsonst ist und das Gehalt stimmt: Wer braucht da schon Betriebsräte, Tarifverträge, Streiks und geregelte Arbeitszeiten? Das riecht so nach verschwitztem Pullover.

Doch mittlerweile ist der Glanz ab. Mehr und mehr stellen Beschäftigte fest, dass die digitale Glitzerwelt mitunter miserable Arbeitsbedingungen bietet, Rassismus und Sexismus Alltag sind, und moralische Ansprüche, dass man ja nur eine bessere Welt wolle, nichts als Sonntagsreden. Die Liste der Unternehmen, in deren Niederlassungen sich in den vergangenen fünf Jahren Gewerkschaften gegründet haben, liest sich wie das Who-is-Who des Silicon Valley: Apple, Google, Uber, Starbucks, Amazon. Und auch bei kleineren, weniger bekannten Anbietern machen Mitarbeiter*innen mobil: Bei der US-Spieleapp Lovestruck (es geht um Liebesromanzen) erzwangen Autor*innen zusammen mit Fans 2020 eine Lohnerhöhung von 78 Prozent und kürzere Arbeitszeiten. Weltweit organisieren sich zunehmend auch Menschen aus dem informellen Sektor: Motorbike-Taxis in Uganda. Weltweit organisieren sich zunehmend auch Menschen aus dem informellen Sektor: Motorbike-Taxis in Uganda. | Foto (Detail): © picture alliance / dpa / Dai Kurokawa

Sie ist nicht tot, die gute alte Solidarität

Allerdings geht es vielen, die sich jetzt organisieren, nicht nur um die klassischen Themen wie Lohn und Arbeitszeit. Im Zentrum stehen oft Anliegen wie Datenschutz oder Transparenz. So auch beim Projekt „Fairtube“, einer gemeinsamen Aktion der IG Metall und der Youtubers Union. Letztere vereint Videoproduzent*innen, die Content auf Youtube veröffentlichen. Gemeinsam erzwangen sie mehr Transparenz, mehr Mitbestimmung und geänderte Algorithmen – und damit mehr Einfluss auf ihr Einkommen.

Die Eroberung der meist stramm gewerkschaftsfeindlichen digitalen Bastionen steht nicht allein. Gleichzeitig organisieren sich zunehmend bedürftige Menschen, wie der informelle Sektor in vielen Ländern: Die Straßenverkäufer*innen in Indien, die Textilarbeiter*innen in Mittelamerika, die Taxi-Motorbikers in Uganda. Hip wie ein Streaming-Abo werden Gewerkschaften mit ihren komplexen Aufgaben vermutlich nie. Aber die neuen Entwicklungen und Erfolge zeigen: Sie ist nicht tot, die gute alte Solidarität. Sie ist erfolgreich, und sie ist ein Weg heraus aus der wachsenden individuellen Ohnmacht.

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