Migration – Emigration – Flucht
Die Zukunft leuchtet heller

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Georg,
 
Deine Email erreichte mich kurz nach den Anschlägen in Brüssel, Irak und – mir geographisch näher – in Pakistan. Was für eine denkwürdige Zeit. 
Noch denkwürdiger, durch einen Artikel von Marina Hydes im britischen Guardian zu erfahren, dass zu den Olympischen Spielen in London so viel britisches Militär und Sicherheitskräfte mobilisiert wurden wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. 2012 waren rund um das Olympische Dorf in London mehr britische Truppen im Einsatz als in Afghanistan.
 
Nach Informationen von Hyde wird in diesem Sommer sogar die doppelte Anzahl aufmarschieren – 85.000 schwer bewaffnete Truppen mit einem enormen Arsenal von militärischem Gerät –, um eine Sportveranstaltung auszurichten, bei der der Menschheit athletische Tugenden zur Schau gestellt werden. Weitsprung, Hochsprung, Dreisprung und Stabhochsprung – alles unter den wachsamen Augen von Soldaten mit Gesichtserkennungsbrillen. Eine wirklich großartige Zeit meiner Meinung nach, um in der Politik zu sein, sofern es einem in erster Linie darum geht, Furcht zu schüren und eine Belagerungsmentalität zu propagieren.
 
Deine Analyse der jüngsten Wahlen in Deutschland habe ich mit großem Interesse gelesen. Der Rechtsruck konnte wohl kaum überraschen, oder? Ich denke, er ist Folge einer allgemeineren Entwicklung, so dass Du ganz zu Recht fragst: Wie können wir die Erfolge der Rechtsradikalen stoppen?  
Es ist eine interessante Frage. Um darauf zu antworten, erlaube ich mir eine kleine Abschweifung.
 
Gestern schaute ich mir den Film „The Factory“ von Rahul Roy an, der von einem möglicherweise zentralen Wendepunkt im Arbeitskampf in der nordindischen Industrieregion handelt (wobei es noch etwas zu früh ist, um dies mit aller Gewissheit zu sagen): 2011 begannen die Arbeiter der Suzuki-Autofabrik zu streiken, was einen Produktionsausfall von 83.000 Fahrzeugen pro Quartal zur Folge hatte. Im darauffolgenden Jahr kam es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen den Arbeitern und dem Management, bei der ein Manager ums Leben kam und in Teilen der Fabrik Feuer gelegt wurde.
 
Obwohl die Anstifter dieser Gewalttaten nicht eindeutig ermittelt werden konnten und nur fragwürdige Beweise vorlagen, wurden über hundert Arbeiter bis zu vier Jahre lang in Untersuchungshaft genommen – alle ohne Gelegenheit zur Kaution. In einem Fall begründete der Richter seine Ablehnung der Kaution mit dem Hinweis, dies würde ansonsten dem Investitionsklima in Indien schaden und ein falsches Zeichen in Richtung der multinationalen Konzerne senden, die im Land investieren wollten.  
 
Dem Film ging es darum, diesen Kampf zwischen Kapital und Arbeit festzuhalten. Der Filmemacher konzentrierte sich dabei allerdings nicht so sehr auf die Nachwirkungen des eigentlichen Konflikts, als vielmehr primär auf die juristischen Auseinandersetzungen. Dadurch wurde der Film schließlich zu einem, der den Opfergang der Arbeiterklasse dokumentiert.
 
Hätte der Filmemacher nicht vornehmlich die rechtliche Auseinandersetzung in den Mittelpunkt gestellt, sondern auch gezeigt, wie es inspiriert vom Suzuki-Streik zu weiteren Widerstandsaktionen in anderen der vielen Hundert Fabriken in der Region kam, so wäre ein ganz anderer Film dabei herausgekommen, in dem durchaus auch für Kritik an jenen Fehlurteilen Platz gewesen wäre, die die Arbeiter auf Geheiß eines multinationalen Konzerns ins Gefängnis brachten.
 
Ich erwähne dies beispielhaft, um zu zeigen, wie ein verengter Blick auf nur ein einzelnes Ereignis einen nicht sehen lässt, welche Möglichkeiten sich an dessen Rändern zeigen.
 
Überlegen wir nun, was wir in Europa derzeit sehen können: 
 
Ein einschneidendes Ereignis ist eingetreten.  
 
Viele tausend Kriegsflüchtlinge haben in Deutschland Zuflucht gefunden. Ihre Lebensumstände sind keineswegs optimal, eine Gegenbewegung hat sich gebildet, doch zur Zeit können sich diese Tausende von Männern, Frauen und Kindern in Deutschland vergleichsweise sicher fühlen. Die Ankömmlinge haben die globale Gemeinschaft – eine selbstsüchtige und böswillige Truppe – zudem auch dazu gebracht, ernsthaft über die Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien nachzudenken. Das allein ist ein unglaublicher Moment, der so schnell und unvermutet eingetreten ist, dass er sich nur schwer verstehen und analysieren lässt.
 
In gewisser Hinsicht geht die erste Runde in diesem Hin- und Her an diejenigen, die Flüchtlingen willkommen heißen, so wie die erste Runde in den Scharmützeln um Suzuki an die Arbeiter ging. 
 
Derzeit nun erleben wir, wie das Potenzial dieses Moments wieder zu neutralisieren versucht wird. Rechtsgerichtete murren, das Wahlvolk zeigt sich beunruhigt, die Regierung gerät unter Druck. Das war zu erwarten, da sich radikaler Wandel nie kampflos und unbestritten vollzieht. Im Laufe des vergangenen Jahres ist es den Regierungen in Europa gelungen, die Fluchtrouten abzuschneiden und die Grenzen zu schließen. Ganz so, wie es dem Suzuki-Management gelangt, den Arm des Gesetzes zu missbrauchen, um die Arbeiter ins Gefängnis werfen zu lassen.
 
Jeder Spieler im langen Spiel der Geschichte aber legt nur eine endliche Entfernung zurück, bis er die Würfel an den nächsten Mitspieler weitergeben muss. Ein Freund von mir in Delhi sagt immer: „Nimm in jedem Kampf sein Potenzial wahr, nicht seine mögliche Erschöpfung.“ Wenn die unverhältnismäßige Bestrafung der Arbeiter bei Suzuki den Arbeitsfrieden wieder herstellen sollte, so scheiterte dieser Versuch – denn weiterhin gibt es Fabrikbesetzungen, sie haben an einigen Stellen sogar zugenommen. Die Formen des Widerstands haben sich dabei gewandelt, sind nicht mehr so eindeutig konfrontativ, sondern wirken jetzt unterschwelliger.
 
So sollten wir den gegenwärtigen Moment meiner Meinung nach als einen Sieg des Musafirs betrachten und zusehen, wie sich die Aussichten auf einen noch umfassenderen Sieg weiter verbessern lassen – d.h. nach Wegen zu suchen, eine noch größere Bewegungsfreiheit und bessere Unterkunftsmöglichkeiten/Integration der Immigranten zu erreichen. Es gilt also, diesen Moment nicht als einen Rückschlag zu verstehen und uns damit aufzuhalten, eine vermeintliche Niederlage zu verarbeiten. 
 
Ich freue mich sehr auf meinen Besuch. Ich bin überzeugt, dass die Zukunft heller leuchtet, als es manchmal den Anschein macht. 
 
Ganz herzlich,
A.

New Delhi, den 31. März 2016